Tim Niedernolte: „Respekt bedeutet, den anderen ernst zu nehmen“
Was haben Übergriffe gegen Politiker, aggressive Eltern am Fußballfeld oder wildes Gehupe im Straßenverkehr gemeinsam? Es fehlt an Respekt! ZDF-Moderator Tim Niedernolte hat genauer hingeschaut.
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Tim Niedernolte arbeitet seit über 20 Jahren als TV-Moderator, seit 2020 ist er im ZDF-Magazin hallo deutschland zu sehen. Daneben engagiert sich der 46-Jährige in christlichen und sozialen Projekten und war unter anderem Jubiläumsbotschafter der Boldelschwinghschen Stiftung Bethel. Für die Langzeit-Doku Das Berlin Projekt auf RTLzwei begleitete er Obdachlose auf ihrem Weg in ein neues Leben. In seinem Buch Respekt! Die Kraft, die alles verändert – auch mich selbst beschreibt Niedernolte, was jeder Einzelne für einen respektvollen Umgang tun kann – im Großen wie im Kleinen und in sozialen Medien sowieso.
Sie haben zwei Bücher über Respekt und Wertschätzung geschrieben. Was ist der Unterschied?
Wertschätzung könnte man als die kleine Schwester des Respekts bezeichnen. Bei Wertschätzung stimmen alle zu: ja, brauchen wir. Wertschätzung zu zeigen macht glücklich. Für Respekt hingegen muss man sich stark machen, manchmal auch Mut aufbringen. Das geht noch mal eine Spur tiefer. Da geht es um mehr, etwa wenn im Wahlkampf Politiker auf der Straße angegriffen werden.
Wo erleben Sie persönlich Respekt oder Respektlosigkeit im Alltag?
Mir kam eben auf dem Gehweg jemand mit dem Fahrrad entgegen. Berg hoch, enger Bürgersteig. Ich bin einfach zur Seite gegangen, habe gewartet, weil einer von uns ja Platz machen musste. Der andere hat sich nett dafür bedankt. Denn er wusste ja, dass er hier eigentlich gar nicht fahren durfte. Es gab aber auch zwei andere Situationen auf dem Weg hierher, da haben die Leute sich angehupt und angeschrien, bloß weil der eine meinte, der andere fahre falsch. Straßenverkehr ist für mich ein Beispiel für sehr viel Respektlosigkeit. Oder wenn ich mein Patenkind zu einem Fußballspiel begleite: Wie im Jugend- und Amateurbereich von Eltern und Betreuenden reingeschrien wird, das ist oft respektlos. Kinder ahmen nach, was ihnen vorgelebt wird. Im gesamten Alltag. Unser Verhalten prägt immer auch unsere Umgebung.
Was kann jeder Einzelne für einen respektvollen Umgang tun?
Bei sich persönlich anzufangen, ist immer der beste Weg. Zu Respekt und Wertschätzung gehören nämlich auch Selbstwert und Selbstrespekt. Wie soll ich anderen gegenüber respektvoll oder wertschätzend sein, wenn ich mit mir selbst hadere? Wer für sich einen positiven Umgang mit seinem Leben findet, hat auch viel eher die Kraft, offen und wertschätzend auf andere zuzugehen, andere anzuerkennen, freundlich zu sein, anderen Mal den Vortritt zu lassen und ähnliches.
»Ich mache meinen Standpunkt klar. Wenn ich dann merke, ich finde kein Gehör, akzeptiere ich das. Ich kann und will Leute nicht erziehen.«
Reagieren die Leute zu emotional?
Das ist eine Typenfrage. Natürlich ist es besser, einmal drüber nachzudenken, bevor ich etwas heraushaue. Etwas innerer Abstand, mal drüber schlafen, emotional ein wenig runterkommen: Manchmal kann eine ruhige Reaktion viel wirksamer sein, wenn ich vermittle: „Okay, ich habe es wahrgenommen. Wir müssen nochmal drüber reden, aber ich haue nicht auf dem Tisch.“
Ruhe bewahren, reicht das aus?
Wenn jemand mich respektlos behandelt, zeige ich eine Reaktion, mache meinen Standpunkt klar. Ob ich andere überzeuge, ist aber noch eine andere Frage. Man kann nur Angebote machen – auch noch ein zweites Mal. Wenn ich dann merke, ich finde kein Gehör, akzeptiere ich das. Ich kann und will Leute nicht erziehen. Wie weit man sich in eine Auseinandersetzung begeben will, ist eine schwierige Entscheidung, die wir von Fall zu Fall treffen müssen. Bei Rechtsextremen etwa: Die einen sagen, es habe keinen Sinn, mit ihnen zu diskutieren. Andere sagen, man müsse mit ihnen reden, sonst würde sich auch nichts verändern. Ich kann nicht pauschal sagen, was richtig ist.
»Das Grundgesetz gibt die Regeln vor. Dieser Rahmen ist im Zweifelsfall wichtiger als das individuelle persönliche Anliegen.«
Was tun, wenn im Alltag Menschen eine völlig konträre Meinung vertreten?
Es ist gut, eine gewisse Offenheit mitzubringen. Ich bin beim Public Viewing eines Fußballspiels zufällig mit zwei jungen Männern ins Gespräch gekommen. Der eine meinte, das ZDF sei ihm zu einseitig. Es ginge dort „immer auf die Kleinen“. Das konnte ich nicht nachvollziehen und habe ihm erklärt, wie wir dort arbeiten: dass alles gegengecheckt wird, dass auch meine Arbeit von anderen geprüft wird und dass wir etwas ändern, wenn es nicht korrekt ist. Ich wollte ihn nicht überzeugen, seinen Vorwurf aber auch nicht einfach so stehen lassen. Es war eine Frage von Respekt, sich dieser Diskussion zu stellen und den jungen Mann ernst zu nehmen. Manchmal ist es schon die halbe Miete, wenn sich die andere Seite respektiert fühlt. Selbst wenn man die Dinge komplett anders sieht, versuche ich dem Gegenüber zu vermitteln, dass er nicht abgebügelt wird, dass ich versuche zu verstehen, warum er so denkt. Und das würde ganz vielen helfen, die sich vielleicht politisch abgehängt und nicht repräsentiert fühlen. Einfach im Dialog zu sein.
In einer vielfältigen Gesellschaft wird das Zusammenleben komplizierter. Welche Rolle spielt Respekt?
Oft sind es unterschiedliche Generationen oder Menschen verschiedener Herkunft, die sich über ihre Lebensstile nicht einig sind: Welche Kleidung ist angemessen, wie geht man miteinander um? Darüber ins Gespräch zu kommen und in Austausch zu gehen, ist eine wichtige Form von Respekt. Das ist ein Ausgangspunkt, von dem man sich zu einem Miteinander oder respektvollen Nebeneinander hinarbeiten kann. Es geht darum, einen Blick dafür zu bekommen, wie andere etwas sehen, auch wenn die Probleme dadurch nicht immer gleich gelöst werden. Orientierung gibt die Maxime: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst. Das gilt in allen Kulturen und Religionen. Im Christentum heißt es: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Im alltäglichen Umgang bedeutet das meist: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Wo sind die Grenzen des Respekts?
Andere Meinungen sollte man tolerieren, solange die Grenzen, die im Grundgesetz stehen, nicht verletzt werden. Das Grundgesetz gibt die Regeln vor. Dieser Rahmen ist im Zweifelsfall wichtiger als das individuelle persönliche Anliegen. Innerhalb dieses Rahmens muss immer wieder neu definiert werden, wie wir miteinander umgehen wollen.
»Jede Seite hat ihre Meinung, jede ist irgendwie berechtigt.«
Was tun, wenn man erlebt, dass andere herabgewürdigt werden?
Nicht wegzuschauen, ist wichtig. Es gibt Situationen, in denen es gefährlich sein kann einzuschreiten. Bei Gewaltdelikten zum Beispiel. Da muss man doppelt abwägen und auch an den Selbstschutz denken. Doch auch jenseits dieser Extreme gibt es sehr viele Momente, in denen man Zivilcourage zeigen kann. Ich war letztens Moderator bei einem Vortrag zum Thema Demokratie von Professor Lammert, dem ehemaligen Bundestagspräsidenten. In der anschließenden Fragerunde kam aus dem Publikum eine sehr tendenziöse Wortmeldung – also sehr, sehr auf der rechten Seite. Dann ging ein Raunen durch Publikum, und einige Leute haben auch gepfiffen. Dass Leute hörbar eine Gegenposition bezogen, fand ich gut.
Sie beschreiben in Ihrem Buch das Hans-Insel-Prinzip: wie man mit Konflikten umgehen kann, die sich so schnell nicht lösen lassen.
Die Hans Insel ist unbewohnt, ein gerade mal 1,25 Quadratkilometer großer Felsen im Nordatlantik. Als man in den Siebzigerjahren die Grenze zwischen Kanada und Grönland zog, wurde sie keinem der beiden Länder zugeteilt. Da Grönland zu Dänemark gehört, haben Kanada und Dänemark jahrzehntelang um die Hoheit über die Hans Insel gestritten. Immer wenn ein dänisches oder kanadisches Schiff auf der Insel vor Anker ging, wurde die Fahne des eigenen Staates gehisst und die des anderen einkassiert. So viel Patriotismus muss schließlich sein! Und dann haben sowohl Dänen als auch Kanadier leckere Spirituosen für den Gegner dagelassen. Hier wurde die Auseinandersetzung wertschätzend, ja sogar mit einer Prise Humor ausgetragen – und auch ausgehalten. Und daraus kann man durchaus etwas für die eigenen Konflikte lernen. Wohl wissend, dass das Hans-Insel-Prinzip kein Allheilmittel ist und bei weitgehenderen Auseinandersetzungen an Grenzen stößt.
Respekt vor dem Leben
Wertschätzung für Menschen und für die Natur – das ist es, was die Gründer des Magazins Prinzip Apfelbaum antreibt, die Welt ein Stück besser zu machen.
Was lernen wir daraus?
Jede Seite hat ihre Meinung, jede ist irgendwie berechtigt. Es ist gut, darüber zu reden, ohne sich anzuschreien, andere Meinungen oder Standpunkte stehen zu lassen – solange damit keine Werte verletzt oder Gesetze gebrochen werden. Es ist eine Kunst, sich in andere hineinzuversetzen und verschiedene Meinungen auszuhalten, in einem konstruktiven, respektvollen Dialog zu bleiben. Es gibt nicht immer die eine richtige Meinung, nicht nur schwarz oder weiß – sondern auch viel dazwischen. Wenn wir uns dessen bewusstwerden, wird auch der Umgang miteinander respektvoller. Manchmal braucht man Geduld, bis man gemeinsam eine Lösung findet. Der Konflikt über die Hans Insel ist inzwischen übrigens gelöst. Die Grenze zwischen Dänemark und Kanada verläuft seit 2022 quer über die Insel.
»Wir haben einen romantischen Blick in die Vergangenheit. Doch viele Dinge, die früher geäußert wurden, könnte man heute gar nicht mehr so sagen.«
Wurde früher mehr Respekt gezeigt?
Bei Lesungen kommen Ältere auf mich zu und sagen: „Früher war das anders. Wir haben immer darauf geachtet, Respekt zu zeigen, und die Jugend war höflicher.“ Oder: „Meine Kinder hätten sich das nicht erlaubt im Restaurant.“ Das mag durchaus so sein, aber man müsste natürlich auch darüber diskutieren, dass die Erziehung früher viel strenger war und gewisse Dinge einfach erzwungen wurden. Vielleicht gibt heute eine größere Offenheit dafür, die eigenen Bedürfnisse zu äußern. Und, ebenfalls ein wichtiger Aspekt, wir bekommen heute durch die Medien einfach auch viel mehr mit, was früher gar nicht publik wurde. So kann das subjektive Gefühl entstehen, die Welt wäre schlechter geworden.
Aber manches wird auch besser …
Ein positives Signal ist etwa die Debatte über das Gendern, bei der es um Wertschätzung in der Sprache geht. Wie auch immer man dazu stehen mag – jeder Mensch kann darüber nachdenken und sich daran beteiligen. Das sollte natürlich respektvoll verhandelt werden.
Die Umgangsformen waren früher nicht unbedingt besser als heute?
Wir haben einen romantischen Blick in die Vergangenheit. Doch viele Dinge, die früher geäußert wurden, könnte man heute gar nicht mehr so sagen – ob in der Politik oder im Fußballbereich. Oder etwa die ehemalige Verkehrssendung „Der 7. Sinn“ – wie Frauen da diffamiert wurden! Man kann nicht pauschal sagen, dass es früher besser war. Gewalt, verbal und physisch gab es schon immer. Ich habe andererseits mal von jemandem gehört: „Natürlich haben wir uns auch früher geprügelt, aber wenn jemand auf dem Boden lag, wurde nicht mehr zugetreten.“ Diese Hemmschwelle scheint mir gesunken zu sein.
»Soziale Medien belohnen das Reißerische. Man sollte dennoch nicht resignieren und den Falschen das Feld überlassen.«
In den Sozialen Medien radikalisieren sich immer mehr Menschen. Woran liegt das?
Ein Problem ist die Anonymität im Netz. Man kann aus der Deckung sehr rüpeln, ohne dass es auf einen zurückfällt. Die ursprüngliche Idee vom Internet als Marktplatz, wo wir Dialoge führen, leidet darunter, dass die wenigen Lauten und Respektlosen den Ton dominieren. Während die Vernünftigen oft zweifeln, zögern und mal still bleiben, hauen die Rücksichtslosen schon längst wieder was raus. Und der Algorithmus belohnt leider genau das. Das Reißerische bekommt mehr Aufmerksamkeit, wird mehr geteilt. Man sollte demgegenüber aber nicht resignieren und den Falschen das Feld überlassen. Obwohl es manchmal schwerfällt, möchte ich mich mit einer besonnenen Stimme äußern – auch um einen besseren Umgangston zu etablieren.
Was können die etablierten Medien anders machen?
Viele Leute haben keinen Zugang mehr zu den Angeboten. Wir sollten anders kommunizieren und niedrigschwelliger werden. Wir brauchen neue Formen der Vermittlung, die Medien sind da in der Bringschuld. Andererseits sind Menschen als Mediennutzer gefragt, nicht bloß reißerische News zu konsumieren, sondern tieferes Interesse an der Welt zu zeigen. Wie ein spannendes Angebot aussehen kann, zeigt zum Beispiel die App Buzzard: Sie vergleicht jeden Tag 2.000 Nachrichtenartikel über die aktuellen Topthemen und stellt dann pro Thema vier, fünf Artikel aus Medien mit verschiedenen Ausrichtungen nebeneinander – von politisch links bis konservativ, ohne rechtsradikale oder extremistische Publikationen. So lernt man verschiedenen Meinungen kennen, ohne dass man sie teilen müsste.
GESPRÄCH: Lars Klaaßen und Wibke Bergemann
FOTOS: Julia Baumgart Photography, Pam & Richard Winegar, picture alliance / blickwinkel/A. Maywald | A. Maywald, Julia Volk / Stocksy, Mudassir Ali / Unsplash, Droemer Knaur
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Tim Niedernolte: Respekt! Die Kraft, die alles verändert – auch mich selbst. Niedernolte zeigt auf, wo es an Respekt mangelt, in der Sprache, in der Wirtschaft, in der Berufswelt oder im alltäglichen Miteinander. Der Moderator ist überzeugt, dass sich jeder Einzelne um mehr Respekt bemühen kann. Erschienen bei Droemer Knaur.