Ratgeber

No. 19 – GEMEINSCHAFT Nein! Doch! Keine Gemeinschaft ohne unterschiedliche Meinungen.

Miteinander statt gegeneinander sprechen

Themen wie Fremdenfeindlichkeit, Klimawandel und Corona polarisieren. In sozialen Medien, in der Familie und unter Freunden kann ein Gespräch darüber leicht eskalieren. Wie finden wir wieder zu einem sachlichen Dialog? Fragen an die Argumentationstrainerin Andrea Barie.

Frau Barie, die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel hat im Dezember behauptet, auf den Intensivstationen lägen weit mehr Geimpfte als Ungeimpfte mit Corona. Im entfernten Familienkreis habe ich ähnliche Sätze gehört. Wie reagiere ich am besten in so einem Moment? Ich hab ja nicht immer gleich Fakten und Daten parat.
In dem Fall kann ich zum Beispiel nachfragen: „Oh, das überrascht mich jetzt. Ich meine, andere Zahlen gelesen zu haben. Woher hast du deine Zahlen? Kannst du mir die Quelle nennen?“ Oder: „Die Zahlen interessieren mich auch, lass uns mal gemeinsam recherchieren.“

Nicht mehr nur in rechtsextremen Kreisen wird ja mittlerweile häufig von System- und Lügenpresse geredet.
Wenn mir vorgeworfen wird, mich nur aus der Systempresse und damit angeblich falsch zu informieren, würde ich mein Gegenüber erst einmal fragen, was er oder sie denn überhaupt unter dem Begriff versteht. „Hast du den Eindruck, wir leben in einer Diktatur und die Presse muss dem Herrschenden nach dem Mund reden? Wieso denkst du, dass die renommierten Zeitungen lügen? Woher hast du deine Informationen? Es ist nicht immer gut, sich nur einseitig zu informieren. Deshalb lese, höre, sehe ich diese und jene Medien.“

Gegen Stammtischparolen

Argumentationstrainerin Andrea Barie

Wenn ihre Mutter und ihre Schwiegermutter gemeinsam über Fremde herzogen, fühlte sich Andrea Barie oft hilf- und sprachlos. Die Schulsekretärin nahm an einem Argumentationstraining teil, das sie stark motivierte. Seit 2010 gibt sie selbst Argumentations- und Zivilcouragetrainings.

Und wenn mein Gegenüber aggressiv wird? Wie bringe ich das Gespräch wieder auf eine sachliche Ebene?
Es ist immer schwer, gegen Emotionen von anderen zu argumentieren. Da werde ich schnell auch emotional und verteidige mich. Hinterher ärgere ich mich dann, dass ich selbst so unsachlich geworden bin. Eine Person, die emotional betroffen ist, will gar keine Argumente hören – in der Regel zumindest. Sie will ernst genommen werden in ihren Befürchtungen, Ängsten oder Gefühlen.

Für mich geht es immer auch um die Frage, in welcher Situation ich mich selbst befinde. Liegt mir etwas am Kontakt mit dem oder der anderen? Wenn ja, werde ich versuchen, das Gespräch am Laufen zu halten und nicht abzubrechen. Oder ich distanziere mich freundlich von der Anschauung des anderen, ohne dass es andere Themenbereiche in unserer Beziehung tangiert. „Ich sehe, wir haben hier eine grundverschiedene Meinung. Lass uns das Thema um unserer Freundschaft willen ausklammern.“

Zwei Männer brüllen aufeinander ein.

Sollte ich immer geduldig die Behauptungen des anderen anhören, auch wenn sie mir noch so krude vorkommen? Wann sollte man selbst in die Konfrontation gehen?
Es ist in Ordnung, deutlich zu sagen, dass man eine Situation anders beurteilt: „Ich sehe das anders, ich habe einen anderen Standpunkt.“ Wichtig ist, dem anderen wertschätzend gegenüberzutreten. Es kommt halt darauf an, was ich erreichen will. Stehen andere dabei, die sich nicht äußern? Dann sieht mein Schweigen wie Zustimmung aus. Wenn ich das nicht will, muss ich den Mund aufmachen.

Ist es sinnvoll, sein Gegenüber von der eigenen Meinung überzeugen zu wollen?
Dieses Ziel habe ich nie. Ich kann lediglich darum werben, einmal die Perspektive zu wechseln. Aber jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung. Es sei denn, die Meinung steht im Widerspruch zu unserem Grundgesetz. Sie darf also nicht diskriminierend, ausgrenzend oder beleidigend sein, anderen das Grundrecht auf Leben absprechen – siehe Flüchtlingskrise – und nicht aufhetzen.

Gibt es auch Situationen, in denen ich mich besser einfach abwende, obwohl ich anderer Meinung bin?
Es gibt sicher Situationen, wo ich mich nicht in der Lage sehe einzugreifen. Beispielsweise wenn ich mich nicht wohl fühle, unter Zeitdruck stehe oder mich überfordert fühle. Oder wenn ich in einem Abhängigkeitsverhältnis stehe, etwa wenn der Chef etwas sagt, dem ich nicht zustimmen kann. Und wie gesagt: Die anderen müssen nicht einer Meinung mit mir sein.

Wo finde ich ein Argumentationstraining in meiner Umgebung?

Worum geht es beim Argumentationstraining?
Es geht vor allem darum, diskriminierende, verletzende Äußerungen vielleicht gegen Minderheiten zu unterbinden oder geradezurücken. Ich zum Beispiel habe meiner Mutter immer sehr Kontra gegeben, wenn sie über ausländische Mitbürger geschimpft hat. Nach und nach ist das tatsächlich weniger geworden. Gleichzeitig hat sie dann betont, sie wisse ja, dass man bei mir so etwas nicht sagen dürfe. Und das ist gut: Sie kennt meine Haltung zu bestimmten Themen.

Wie läuft ein Argumentationstraining bei Ihnen ab?
Ein Argumentationstraining ist sehr interaktiv. Alle Teilnehmenden sind am Ergebnis der Gruppe beteiligt. Wir machen uns Gedanken über den Kern von Vorurteilen. In einem Rollenspiel begeben wir uns in eine typische Situation und analysieren sie anschließend. Wir erarbeiten Strategien. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass es keine Patentantworten gibt. Jede Situation ist anders. Es gibt Optionen, die liegen mir mehr, andere gar nicht. Das muss man ausprobieren. Dazu gibt es einige Übungen, bei denen wir unseren eigenen Standpunkt spontan finden und begründen sollen. Es ist eine ganz individuelle Sache, wie ich mit Vorurteilen umgehe.

Zum Weiterlesen

Klaus-Peter Hufer: Argumentationstraining gegen Stammtischparolen. Das Buch ist ein Klassiker, mit vielen Materialien und Anleitungen für die Bildungsarbeit, aber auch zum Selbstlernen. Es zeigt, was hinter verachtenden Äußerungen steckt und welche Gegenstrategien es gibt. Erschienen im Wochenschau Verlag, 1999.

GESPRÄCH: Kristina Simons
FOTOS: eliza / photocase, Andrea Barie / Privataufnahme, SIphotography /istock, Rohit Ranwa / Unsplash, Wochenschau Verlag