Früher war alles besser? Von wegen!
In den 80er Jahren gab es das Waldsterben und die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Auch ein atomarer Weltkrieg schien jederzeit möglich. Trotzdem sagen viele Menschen, dass damals „alles“ besser war. Doch ist heute wirklich alles schlechter? Warum es sich lohnt, die Perspektive zu wechseln.
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Früher war mehr Lametta“, so bringt es Opa Hoppenstedt in dem Loriot-Sketch „Weihnachten bei Hoppenstedts“ auf den Punkt. Wir neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären. War es nicht so, dass Waschmaschinen früher 20 Jahre lang funktionierten? Früher haben die Menschen mehr miteinander gesprochen und alle hielten zusammen. Eine Kugel Eis kostete 30 Pfennige und die meisten Schülerinnen und Schüler beherrschten die Rechtschreibung. Das waren noch Zeiten!
Das goldene Zeitalter
Nostalgie, die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“, zieht sich durch die Geschichte. Schon in der Antike erzählten Sagen von einem vergangenen goldenen Zeitalter. Die Literatur- und Kulturepoche der Romantik idealisierte das Mittelalter als eine Zeit, die noch nicht von Gewinnorientierung und Nützlichkeitsdenken beherrscht war. Und auch der politische Populismus setzt auf die Vergangenheit: Denn früher, da konnten Arbeiter noch von ihrem Einkommen leben, das Land war respektiert und Werte wie Treue, Pflichtgefühl und Familie galten noch etwas, so die gängigen Erzählungen.
In Umfragen stimmt regelmäßig eine größere Gruppe dem Satz zu, dass es sich früher besser lebte. Immerhin 41 Prozent der Befragten sagten 2016 dem Meinungsforschungsinstitut YouGov, dass sie die achtziger Jahre bevorzugten. Dabei sehnen sich keineswegs nur ältere Menschen nach der Vergangenheit. Bei einer aktuellen, repräsentativen Online-Befragung für die Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen gaben auch 56 Prozent der Jungen zwischen 18 bis 34 Jahren an, sie würden lieber in einer früheren Zeit leben.
Eine Kugel Eis kostete 30 Pfennige und Schülerinnen und Schüler beherrschten die Rechtschreibung. Das waren noch Zeiten!
Was die Fakten sagen
Eigentlich erstaunlich, denn der Welt geht es heute objektiv besser als vor 40 Jahren. Das zeigt die Webseite gapminder.org, die von dem schwedischen Wissenschaftler Hans Rosling initiiert wurde. In einer Art Quiz kann man sein Wissen über die Welt überprüfen. Zum Beispiel die Zahl der Menschen, die jährlich bei Naturkatastrophen ums Leben kommen. Sie ist in den vergangenen 100 Jahren auf ein Zehntel gesunken: Von rund 520.000 Menschen jährlich auf rund 45.000. Gapminder trägt aber nicht nur überraschende Fakten zusammen. Die Webseite informiert zu jeder Frage auch darüber, wie oft falsche Antworten geklickt wurden, wie verbreitet also der pessimistische Blick auf die Welt ist.
Eindrückliche Vergleiche beschreibt auch der Journalist Guido Mingels in seinem Buch „Früher war alles schlechter“. So mussten Arbeiter und Arbeiterinnen in Deutschland um 1900 durchschnittlich 64 Stunden in der Woche arbeiten, im Jahre 2000 waren es 40. Oder Lesen und Schreiben: „Vier von fünf Menschen auf der Welt können heute lesen und schreiben. Die Alphabetisierungsrate beträgt im globalen Mittel 85 Prozent, 1960 lag sie noch bei 60 Prozent“.
Oder, besonders beeindruckend, die Fortschritte in der medizinischen Versorgung. Beispiel Zahnheilkunde: In der Nachkriegszeit mussten sich Patienten noch mit schlechtsitzenden und schlechtriechenden Kautschukprothesen herumplagen. Heute helfen Computer bei der Funktionsdiagnostik und die Zahnimplantate sind aus Titan oder Hochleistungskeramik.
Wir nehmen wahr, was zu unseren Überzeugungen passt.
Mit Sorgen besser umgehen
Doch warum sehnen wir uns dann nach vergangenen Zeiten? Wodurch wird eine nostalgische Einstellung ausgelöst? Ein entscheidender Faktor scheint unsere Gemütsverfassung zu sein. In einer Studie an der britischen Universität Southampton wurden die Teilnehmenden gebeten, einen Zeitungsartikel über die verheerende Tsunamikatastrophe von 2004 zu lesen, und dadurch in eine niedergeschlagene Stimmung zu versetzt. Anschließend wurden die Teilnehmenden zu zurückliegenden Lebensereignissen befragt und reagierten mit weitaus stärkeren nostalgischen Gefühlen als die Vergleichsgruppe, die einen positiven Zeitungsartikel gelesen hatte.
Ein ähnliches Ergebnis zeigte sich, als man den Teilnehmenden ein Gefühl der Einsamkeit suggerierte – sie wurden nostalgisch. Vermutlich, so erklären die Wissenschaftler, hilft uns die Erinnerung an gute Zeiten, mit negativen Gefühlen besser umzugehen.
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Schön war’s früher, jetzt ist es schlecht
Wie Erinnerungen mit der Zeit schöner werden, kennt man aus eigener Erfahrung. Bei der Fahrradtour in den Ferien herrschte Sauwetter und außerdem strampelten wir gegen den Wind. Zurück zu Hause denken wir in den ersten Wochen mit Grausen an die qualvolle Tour. Aber mit der Zeit verblassen die Erinnerungen und zurück bleibt der Stolz, die anstrengende Strecke geschafft zu haben. Und wie herrlich waren die heiße Dusche am Abend und das Gefühl der wohligen Erschöpfung!
»In niedergeschlagener Stimmung reagierten Studienteilnehmende mit weitaus stärkeren nostalgischen Gefühlen.«
In der Gegenwart reagieren wir dagegen stärker auf negative als auf positive Informationen. Dieses schon länger bekannte Phänomen untersuchte ein Kommunikationswissenschaftlerteam an der amerikanischen Universität Michigan in einer Studie mit mehr als tausend Menschen aus 17 Ländern. Es zeigte sich, dass die Mehrheit der Untersuchten bei schlechten Nachrichtenmeldungen aufmerksamer und psychisch erregter war als bei positiven Meldungen.
Die Herzfrequenz variierte stärker, auch die Leitfähigkeit der Haut war erhöht. Warum wir negativen Nachrichten größeres Gewicht beimessen als positiven, ist noch nicht ganz geklärt. Die Ursache könnte in der Evolutionsgeschichte liegen. Denn wer Warnsignale in seiner Umgebung beachtete, hatte höhere Chancen zu überleben.
Wenn Menschen sich erinnern, unterlaufen ihnen Fehler.
Kognitive Verzerrungen
Auch der Harvard-Psychologe Steven Pinker hat sich mit dem verbreiteten Pessimismus beschäftigt. In seinem Buch „Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“ beschreibt Pinker die Fortschritte, die uns die Epoche der Aufklärung gebracht hat, und geht der Frage nach, warum wir diese so wenig zu würdigen wissen. Ein Problem: Wenn Menschen denken, sich erinnern und Dinge wahrnehmen, unterlaufen ihnen Fehler. Kognitive Verzerrungen nennt die Psychologie diese Effekte.
»Warum wissen wir die Fortschritte der Aufklärung so wenig zu würdigen?«
Ein bekanntes Beispiel ist der sogenannte Bestätigungsfehler. Wir nehmen Informationen wahr und interpretieren sie, wie sie zu unseren Überzeugungen passen. Wer glaubt, dass Gewaltdelikte von Jugendlichen zunehmen, wird nach Meldungen suchen, die seine Meinung unterstützen. Dabei handelt es sich gerade bei dieser Meinung um „faktenfreie Nostalgie“, wie Mingels in seinem Buch schreibt.
Ein anderer häufiger Denkfehler ist die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik. Wenn wir zum Beispiel öfters Berichte über Flugzeugabstürze sehen, schätzen wir die Wahrscheinlichkeit solcher Unfälle höher ein als sie tatsächlich ist. Statistisch gesehen sterben zwar viel mehr Menschen bei Autofahrten. Trotzdem haben die meisten mehr Angst vorm Fliegen als vor der Fahrt mit einem Auto.
Andere Perspektiven wählen
Sicherlich sind einige gesellschaftlichen Veränderungen problematisch. Doch ob man eine Entwicklung positiv oder negativ bewertet, ist auch eine Frage der Perspektive. 40 Prozent aller Ehen werden heutzutage geschieden. Das scheint erst einmal keine gute Nachricht zu sein. Aber diese Zahl steht auch für zunehmende Selbstbestimmung. Das gilt besonders für Frauen, die in Deutschland noch zu Beginn der 70er-Jahre ihren Ehemann um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie wieder arbeiten wollten. Und wer möchte dahin schon zurückkehren?
Zum Weiterlesen
Guido Mingels: Früher war alles schlechter – 2. Warum es uns trotz Kriegen und Krisen besser geht als früher. Die Fakten füllen bereits zwei Bände. Erschienen bei DVA, 2018.
TEXT: Angelika Friedl
FOTOS: Pawel Kadysz / Unsplash, Tobias Tullius / Unsplash, Wittayayut / iStock, läns / Photocase, DVA, Bekky Bekks / Unsplash