Ratgeber

No. 15 - MUT Ein junger Mann macht ein Pausenzeichen: widersprechen und einschreiten, wenn es nötig wird

Zivilcourage: Jeder kann etwas tun

Aus Angst, selbst Opfer zu werden, schrecken viele Menschen davor zurück, in Notsituationen anderen zu helfen. Insbesondere Ältere tun sich schwer damit. Doch sich für andere einzusetzen, ist keine Frage von Alter, Geschlecht oder Muskelkraft. Möglichkeiten gibt es viele und sie lassen sich üben.

Die eine informiert eine Kollegin, dass Lügen über sie erzählt werden, der andere bezieht in seiner Männerrunde klar Stellung gegen diskriminierende Kommentare. „Auch das ist Zivilcourage. Sie fängt nicht erst bei der Pöbelei in der Straßenbahn oder dem tätlichen Angriff in der Unterführung an“, sagt Silke Gorges vom Sprecherrat des Bundesnetzwerks Zivilcourage. „Sich für demokratische, humanistische Werte einzusetzen, gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen, anderen zu helfen, all das verstehen wir unter Zivilcourage.“ Dazu seien auch ältere, ängstliche oder zurückhaltende Menschen in der Lage. Klar, eine zierliche Frau hat andere Möglichkeiten als ein großer, durchtrainierter Mann. Aber eben nur andere, nicht keine.

Sich verantwortlich fühlen

Das Wichtigste sei, sich überhaupt verantwortlich zu fühlen und nicht durch Stillschweigen oder Vorbeigehen einen verbalen oder tätlichen Angriff zu akzeptieren. „Das kann man in einfachen Alltagssituationen üben, in denen gar nicht Courage gefragt ist, sondern lediglich Hinsehen: an der Treppe runter zur U-Bahn einer Mutter mit dem Kinderwagen helfen oder für den alten Nachbarn in Corona-Zeiten einkaufen gehen“, sagt Sophia Oppermann, Geschäftsführerin des Vereins Gesicht Zeigen!. Man müsse sich immer klar machen, dass man auch selbst einmal Opfer werden und Hilfe brauchen könne. Wie die Hilfe dann aussieht, kann ganz unterschiedlich sein. Aber jede und jeder sollte nach seinen oder ihren Möglichkeiten handeln.

Passanten laufen an einem Beutel am Boden vorbei. Mut beginnt mit Verantwortung.

Was tun in bedrohlichen Situationen?

Sich selbst nicht in Gefahr zu bringen, ist die oberste Grundregel, wenn man eine brenzlige Situation mitbekommt, sei es eine Pöbelei oder ein tätlicher Angriff. „Ist Gefahr in Verzug, sollte man immer als erstes die Polizei rufen, um keine Zeit zu verlieren“, sagt Gorges. In weniger dramatischen Situationen sei zu überlegen, ob man selbst intervenieren kann und will oder ob man sich lieber Hilfe dazu holt. Bystander aktivieren heißt das im Fachjargon.

„In den meisten Fällen ist man in solchen Situationen nicht alleine“, weiß Oppermann. „In der U-Bahn kann man zum Beispiel andere Fahrgäste direkt ansprechen, um Unterstützung bitten, Aufgaben delegieren.“ Zudem gebe es in allen öffentlichen Verkehrsmitteln die Möglichkeit, über Notrufsprechstellen mit dem Fahrer in Kontakt zu treten, ergänzt Ernst Nieland, Zivilcourage-Trainer der Stiftung muTiger. „Und auf Bahnsteigen stehen SOS-Säulen.“

Paradoxe Intervention

Eine andere Handlungsmöglichkeit ist die paradoxe Intervention, einfacher gesagt: ein Ablenkungsmanöver, das den Täter aus dem Konzept bringt und dem Opfer die Möglichkeit gibt, aus der Situation herauszukommen. „Genau dafür geben wir unseren Kursteilnehmer*innen am Ende immer eine Trillerpfeife mit“, sagt Nieland. „Die hört jeder und die hilft auch dann, wenn einem vor Schreck die Stimme versagt.“ Man kann auch etwas fallen lassen oder umschmeißen, irgendetwas Unerwartetes tun.

Opferklau-Trick

Der sogenannte Opferklau – also das Opfer aus einer Situation herausholen – sei immer dann sinnvoll, solange keine Gewalt im Spiel sei, so Gorges. „Ich kann zum Beispiel die Frau, die im Bus angepöbelt wird, ansprechen und so tun, als würde ich sie kennen und was mit ihr besprechen wollen.“ Generell ist es wichtig, sich immer an das Opfer und nicht an den Täter zu wenden. „Wer sich mit dem Opfer solidarisiert, signalisiert dem Täter sofort, dass die oder der Angegriffene nicht allein ist“, sagt Oppermann.

Zudem würden Täter oft noch aggressiver, wenn man sie anspreche oder womöglich sogar anfasse. „Und doch ist das in unseren Kursen häufig die erste Reaktion“, sagt Trainer Nieland. „Aber wir wollen ja nicht kämpfen, sondern das Opfer aus einer misslichen Lage holen.“ Komme es doch zum verbalen Kontakt mit dem Täter, sei es wichtig, ihn immer zu siezen, rät Gorges. Das wirke deeskalierend. „Und im Nachhinein sollte man sich unbedingt der Polizei als Zeugin oder Zeuge zur Verfügung stellen“, betont Oppermann. „Für die Opfer ist es wichtig, dass die Sache nicht im Sande verläuft.“

Nichts verpassen!

Der 74-jährge Skispringer Jan Willy Oskal tritt 2019 bei der Weltmeisterschaft der Skisprung-Veteranen Vikersund, Norwegen an. Wir brauchen Mut, um nach eigenen Vorstellungen zu leben, um aufzustehen und einzuschreiten.

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Zusammen ist man weniger allein?

Sich an einem belebten Ort zu befinden, schützt nicht davor, Opfer eines verbalen oder tätlichen Angriffs zu werden. „Leider sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift, mit zunehmender Zahl an Augenzeugen“, weiß Gorges. „Entweder wird eine Situation nicht als Gefahr erkannt, weil ja auch die anderen nicht eingreifen – in der Fachsprache nennt sich das pluralistische Ignoranz. Oder wir haben es mit der sogenannten Verantwortungsdiffusion zu tun: ‚Soll doch jemand anderes eingreifen, bei mir passt es grad nicht, ich muss dringend zu einem Termin, habe mein Kind dabei‘.“ Aber: Es reicht, wenn nur eine oder einer der Anwesenden diese Lethargie durchbricht.

Ein Mann bläst in eine Trillerpfeife. Auch mit einer Trillerpfeife kann man in einer Notsituation eingreifen.

Informieren und üben

„Zivilcourage beginnt immer im Kopf!“, sagt Silke Gorges. Genau deshalb sei es wichtig, sich immer wieder mit dem Thema zu beschäftigen, entsprechende Kurse zu besuchen, im Freundeskreis bedrohliche Situationen durchzuspielen, mit seinen Kindern über entsprechende Filmszenen zu sprechen und gemeinsam zu überlegen, wie man selbst gehandelt hätte. Das kann helfen, in einer brenzligen Situation nicht in eine Schockstarre zu verfallen, sondern tatsächlich zu handeln.

Denn für die Opfer ist es doppelt schlimm, wenn sie bedroht werden und die Umstehenden nicht eingreifen. „Eine solche Schutzlosigkeit in der Öffentlichkeit zu erfahren, kann dazu führen, dass man künftig das Gefühl hat, nirgendwo mehr sicher zu sein“, sagt Oppermann. Und nicht zuletzt tut es einem auch selbst gut, anderen zu helfen. „Man bekommt positives Feedback und ist stolz auf sich“, betont Sophia Oppermann. „Als Teil einer Gesellschaft, die freundlich und solidarisch mit anderen umgehen will, müssen wir lernen, über den eigenen Horizont zu gucken und Verantwortung als etwas Positives wahrnehmen.“

Tipps von der Polizei

Es gibt zahlreiche Internetseiten zu dem Thema, beispielsweise von der Polizei. Unter www.aktion-tu-was.de informiert sie ausführlich über das Thema, gibt Tipps und nennt Beratungsstellen.

TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Roquillo/Shutterstock, testfight/Photocase, David W./Photocase