Das Gehirn will Gemeinschaft
Warum haben Menschen Mitgefühl, warum suchen sie das Miteinander und verhalten sich häufig sozial, statt für sich selbst den größeren Vorteil zu suchen? Unser Gehirn ist ein soziales Organ. Es spiegelt die Handlungen der anderen und setzt Glücksbotenstoffe frei, wenn wir kooperieren. Ist das menschliche Gehirn deswegen so groß?
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Der Mensch ist ein Gemeinschaftstier. Schon vor rund 2000 Jahren bezeichnete ihn der griechische Philosoph Aristoteles als „zoon politikon“, ein auf Gemeinschaft ausgerichtetes Lebewesen. Warum das so ist und welche Rolle das Gehirn dabei spielt – dazu kommen zunehmend Hinweise aus den Neurowissenschaften. Mithilfe bildgebender Verfahren lässt sich etwa untersuchen, welche Regionen im Gehirn bei sozialen Kompetenzen und Emotionen besonders stark durchblutet sind: wenn wir mitfühlen, empathisch sind, wenn wir Pläne und Absichten eines anderen nachvollziehen, also seine oder ihre Perspektive einnehmen, aber auch, wenn wir Scham oder Schuld empfinden. Die beteiligten Areale werden in den Neurowissenschaften als soziales Gehirn bezeichnet.
»Unser Gehirn spiegelt die Handlungen der anderen.«
Eine wichtige Rolle übernehmen dabei die Spiegelneuronen, spezielle Nervenzellen im Gehirn. Sie wurden 1991 von einer Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti, Vittorio Gallese und Leonardo Fogassi an der Universität Parma bei Experimenten mit einem Makaken entdeckt. Durch Zufall beobachteten sie, dass im Hirn des Affen bestimmte Neuronen nicht nur aktiviert wurden, wenn er selbst nach einer Nuss griff, sondern auch dann, wenn er einem der Forscher dabei zusah, wie dieser danach griff. Das Gehirn spiegelte also die Handlung eines anderen.
Vittorio Gallese erweiterte diese Erkenntnis um eine soziale Dimension und konnte zeigen, dass die Spiegelneuronen auch dann feuern, wenn jemand Emotionen beobachtet. Die Nervenzellen liefern möglicherweise eine Erklärung dafür, warum wir intuitiv erkennen, ob sich unser Gegenüber freut oder traurig ist, warum wir Mitgefühl entwickeln und auch, warum Gähnen ansteckend ist.
Für Kai Vogeley, Professor für Psychiatrie an der Uniklinik Köln, ist für unsere Empathie aber noch ein zweites, nachgelagertes System verantwortlich: das Mentalisierungssystem. Mentalisieren bezeichnet die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. „Das ermöglicht es mir, den inneren Gehalt einer Geste zu interpretieren.“
Ein Beispiel: Eine Person hat in der einen Hand einen Telefonhörer und macht mit der anderen eine Bewegung, die wir dank Spiegelneuronen als abweisend erkennen. Mithilfe unseres Mentalisierungssystems können wir diese Geste so deuten, dass unser Gegenüber nur vorübergehend nicht gestört werden will, nach dem Telefonat aber wieder ansprechbar ist. „Die Spiegelneuronen sind also verantwortlich dafür, dass wir einfache Bewegungen deuten können. Und das Mentalisierungssystem brauchen wir, um die dahinterliegenden Motive und Absichten zu erkennen“, erläutert Vogeley.
»Wenn andere den Blick in die gleiche Richtung wenden wie wir selbst, wird unser Belohnungssystem aktiviert.«
Vogeley und sein Team konnten außerdem zeigen, dass soziale Interaktionen das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren. Untersucht haben sie das am Beispiel des sozialen Blickverhaltens. Den Versuchspersonen wurden virtuelle Charaktere gezeigt, die manchmal den Blick in die gleiche Richtung wendeten wie sie selbst, und manchmal nicht. Der Unterschied war im Hirn-Scanner deutlich erkennbar: „Wenn andere meinem Blick folgen oder man gemeinsam auf ein Objekt blickt, aktiviert das unser Belohnungssystem“, sagt Vogeley.
Vogelay ist überzeugt: Menschen wollen eigentlich kooperieren. „Wir müssen an Kooperation interessiert sein, sonst hätten wir evolutionär gar nicht überlebt.“ Denn Kooperation heißt, andere vor Gefahren zu warnen, gemeinsam ein Mammut zu jagen oder auch gemeinsam wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen.
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Kooperieren lohnt sich
Auch der Neurobiologe und Arzt Joachim Bauer forscht zu menschlichen Grundmotivationen. Er ist überzeugt, dass wir vor allem sozial akzeptiert werden wollen. Die Hirnforschung scheint das zu bestätigen: Mithilfe von Magnetresonanztomografie lässt sich beobachten, wann die im Mittelhirn gelegenen Belohnungssysteme anspringen und Dopamin, Opioide und Oxytozin herstellen – Botenstoffe, die Glücksgefühle in uns auslösen. „Zur Überraschung vieler zeigte sich, dass die Möglichkeit, anderen Schaden zuzufügen, aus Sicht der Motivationssysteme kein ‚lohnendes‘ Verhalten ist“, sagte Bauer in der Zeitschrift „Forschung & Lehre“. Denn dabei wurden keine Glücksbotenstoffen freigesetzt.
Die Botenstoffe wurden vor allem dann produziert, wenn Versuchspersonen Vertrauen, soziale Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft erlebten. Aggression und das von ihr verursachte „Böse“ werde bei psychisch durchschnittlich gesunden Menschen vor allem dann aktiviert, wenn ihnen das verwehrt bleibe, was die Motivationssysteme aktiviere und angenehmes Empfinden nach sich ziehe, so Bauer: Anerkennung und Wertschätzung.
»Unser soziales Gehirn bekommt in der Pandemie kein Futter und keine Belohnung.«
Einsamkeit macht krank
Wie wichtig Gemeinschaft und soziale Interaktion für uns sind, für unsere Lebensfreude und psychische Gesundheit, zeigt sich deutlich in der Corona-Pandemie. Fehlender sozialer Austausch gilt als eine der Hauptursachen für psychische Belastungen durch Corona. Durch Homeoffice, Homeschooling, reduzierte Kontakte, abgesagte Veranstaltungen und Familientreffen werden uns die Möglichkeiten der Kommunikation und des Miteinanders genommen. „Unser soziales Gehirn bekommt dann kein Futter und keine Belohnung“, sagt Kai Vogeley. „Das ist vor allem für alte, einsame und psychisch kranke Menschen ein großes Problem.“
Beispiel Small Talk: Dabei gehe es ja nicht darum, nur Informationen auszutauschen, sondern in erster Linie um Beziehungspflege. „Wenn alle nur noch zu Hause arbeiten, fehlt der Small Talk in der Teeküche oder auf dem Flur. Diese soziale Beziehungsgestaltung ist aber wichtig dafür, wie wohl man sich an seinem Arbeitsplatz fühlt – oder wie unwohl, wenn sie nicht funktioniert.“
»Je größer der Freundeskreis, desto besser lassen sich Schmerzen aushalten.«
Einsamkeit kann geradezu Schmerzen verursachen, auch das konnten die Neurowissenschaften messen. Demnach werden bei Menschen, die Einsamkeit erleben, die gleichen Hirnzentren aktiviert, die auch für das Schmerzempfinden zuständig sind. Umgekehrt gehen die experimentellen Psychologen Robin Dunbar und Katerina Johnson von der Universität Oxford davon aus, dass die Schmertoleranz eines Menschen mit der Größe seines sozialen Netzwerks zunimmt.
Je größer der Freundeskreis, desto mehr Endorphine, also körpereigene Glückshormone, werden ausgeschüttet und desto besser lassen sich dadurch Schmerzen aushalten. Untersucht haben die beiden das an mehr als 100 Studierenden, die in einer unangenehmen Körperhaltung gegen eine Wand lehnen mussten. Dabei zeigte sich: Wer früher aufgab – die körperliche Fitness herausgerechnet –, hatte weniger soziale Beziehungen als diejenigen, die die schmerzhafte Position länger aushielten.
Die Dunbar-Zahl: Unser Gehirn ist in der Lage, zu durchschnittlich 150 Menschen in Beziehung zu treten.
Je größer das Hirn, desto sozialer die Spezies
Robin Dunbar stellte bereits in den späten 1980er Jahren die sogenannte Social Brain Hypothesis auf: Je höher die Anzahl der Beziehungen einer Spezies, desto größer der präfrontale Cortex, der für kognitive Prozesse verantwortlich ist. Menschen mit ihrer vergleichsweise hohen Gehirnkapazität unterhalten laut Dunbar Beziehungen zu im Schnitt etwa 150 Personen. Menschenaffen haben Kontakt zu etwa 50 Artgenossen und immer noch einen vergleichsweise großen präfrontalen Cortex. Dagegen schneiden Kühe oder Antilopen, die schnell wechselnde Sexualpartner haben und nicht gut vernetzt sind, bei beidem eher schlecht ab. Kurz: Je größer das Frontalhirn, desto stärker ausgeprägt ist der Sinn für Gemeinschaft.
Der Psychologe Dunbar geht sogar davon aus, dass Menschen und Primaten im Laufe der Evolution gerade deswegen vergleichsweise große Gehirne entwickelt haben, weil sie in großen Sozialverbänden leben und deshalb schneller und effektiver Informationen austauschen müssen. Die Theorie ist umstritten. Dass Menschen einander vertrauen und kooperieren können und nicht nur miteinander konkurrieren, ist aber zweifellos ein evolutionärer Erfolg.
TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Jonas Bendiksen /Magnum Photos, REHvolution / Photocase, PeopleImages / istock