No. 20 – MENSCHLICHKEIT

Impulse

Ethisches Handeln: Jede Tat hat eine Wirkung

Von der selbstlosen Heldentat bis zum Türaufhalten: Ethisches Handeln hat viele Facetten. Doch manchmal stehen wir vor einem moralischen Dilemma. Um im entscheidenden Moment das Richtige zu tun, hilft die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen. Und ein bisschen Übung.

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Hilfsbereit: Zwei Hände halten einen verletzten Vogel.

Ein ganz alltägliches Beispiel: An der Kasse im Supermarkt hat eine ziemlich unfreundliche Kassiererin 30 Cent zu viel herausgegeben. Was tun? Wieder zurückgehen, die Wartenden in der langen Schlange aufhalten und sich womöglich noch einen blöden Kommentar anhören, weil man die Kassiererin auf ihren Fehler aufmerksam macht? Volker Ladenthin ist überzeugt: Ja, man soll, trotz allem! Das 30-Cent-Beispiel hat der Erziehungswissenschaftler selbst erlebt und beschreibt es in seinem Buch „Mach’s gut? Mach’s besser! – Eine kleine Ethik für den Alltag“.

„Ethik braucht man nicht, wenn alle wissen, wie’s geht“, konstatiert Ladenthin, „sondern nur dann, wenn man zögert und zweifelt. Wenn es unklar ist und unübersichtlich. Wenn jeder etwas anderes sagt.“ Ethik ist gewissermaßen die Theorie der Menschlichkeit: Wie verhalte ich mich richtig? Und immer dann, wenn ein bestimmtes Verhalten nicht selbstverständlich ist und wir uns entscheiden müssen, wird es interessant. Allein, dass er im Fall der 30 Cent zögerte und das Geld nicht spontan zurückgegeben habe, zeige, dass eben nicht alle Menschen in dieser Situation gleich handeln würden.

Freundlichkeit: Blumen verschenken

Ethik der kleinen Schritte

Ethisches Handeln beginnt im Kleinen. „Sittlich relevant kann alles Handeln sein“, betont Ladenthin. Etwa, wie man auf das zu viel herausgegebene Wechselgeld reagiert. Oder ob man der kleinen Schwester Schokolade vom Weihnachtsteller stibitzt. Ethische Regeln müssen sich deswegen in jeder Situation bewähren. Dieser „Ethik der kleinen Schritte“ hat sich auch der Verein Ethica Rationalis verschrieben, der sich in Gesprächsrunden und Diskussionsveranstaltungen mit ethischen Konflikten vor allem im Berufsleben beschäftigt. „Wir sehen uns dabei nicht als Lehrer, sondern suchen selbst Anregungen und Erfahrungen, die uns helfen können, ethische Dilemmata zu bewältigen“, erläutert Vorstandsmitglied Michael Winkler.

»Die Ethik der kleinen Schritte lässt sich an jedem Tag und in jedem Augenblick praktizieren und verlangt keine übernatürliche Anstrengungen von uns. «

Denn ethisches Handeln muss nicht immer der ganz große Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und politische Unfreiheit oder der selbstlose Einsatz für andere sein, wie ihn etwa Mahatma Gandhi oder Mutter Theresa vorgelebt haben. Auch das, was andere schlicht unter Freundlichkeit, Offenheit oder Empathie fassen würden, gehört für die Mitglieder von Ethica Rationalis dazu: jemandem die Tür aufzuhalten, eine bis dahin unbekannte Kollegin freundlich zu grüßen, rücksichtsvoll oder gastfreundlich zu sein oder ein offenes Ohr für jemanden zu haben.

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Diese Ethik der kleinen Schritte lasse sich an jedem Tag und in jedem Augenblick praktizieren und verlange weder große Vorbereitung noch übernatürliche Anstrengungen oder Opfer von uns. Die Grundidee lautet ganz einfach: „Verhalte dich anderen gegenüber so, wie du von ihnen behandelt werden möchtest; und was du für dich nicht wünschen würdest, das solltest du auch anderen nicht zufügen.“

In der Ethik gehe es ums Abwägen der eigenen Rechte und Pflichten, so Winkler. „Um im Alltag ethische Entscheidungen treffen zu können, muss ich wissen, was meine Rechte sind und wie weit diese gehen, was meine Pflichten sind und wie weit diese gehen, und was die Rechte des anderen sind.“ Kenne man diese gegenseitigen Rechte und Pflichten nicht, werde man unweigerlich die Rechte anderer verletzen oder auch die eigenen nicht entsprechend verteidigen.

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Überall bieten sich Gelegenheiten, sich höflich, ehrlich, tolerant und rücksichtsvoll zu verhalten.

In allen Bereichen des täglichen Lebens lässt sich ethisches Verhalten praktizieren: am Arbeitsplatz, in der Familie, bei Freunden, im Straßenverkehr. Überall bieten sich Gelegenheiten, sich höflich, ehrlich, tolerant und rücksichtsvoll zu verhalten. Auch die alltäglichste unserer Handlungen hat eine Wirkung auf uns selbst und auf andere. „Wenn wir jemandem geholfen haben, der in Schwierigkeiten steckte, oder jemanden verteidigt haben, der zu Unrecht angegriffen wurde, dann haben wir der oder dem Betreffenden einen Dienst geleistet – und die Welt ein klein wenig besser gemacht“, sagt Michael Winkler.

Es ist manchmal nur eine Geste, doch in der Summe haben diese kleinen Taten eine große Wirkung auf unser Zusammenleben. Und das wirke sich auch auf einen selbst aus. Wer ethisch handelt, werde zufriedener, so Winkler. „Man fühlt sich innerlich bestätigt, dass man richtig gehandelt hat.“

Allerdings dürfe man nicht erwarten, immer mit Dankbarkeit und Anerkennung belohnt zu werden. „Die hohe Kunst liegt darin, dass wir uns auch dann – oder gerade dann – ethisch verhalten, wenn der andere mit Gleichgültigkeit oder Undankbarkeit reagiert“, so Winkler. Es gelte der Grundsatz, dass alle Menschen gleich sind und in gleichem Maß Mitgefühl und Zuwendung verdient haben.

Immer wieder stehen wir dabei vor ethischen Dilemmata und tun uns schwer zu entscheiden, was richtig und was falsch ist. Das zeigen beispielsweise die gesellschaftlichen Debatten um die aktive Sterbehilfe, das Thema Abtreibung oder die Legalisierung bestimmter Drogen. Im Alltag geht es vielleicht eher darum, ob ich ein Portemonnaie, das ich auf der Straße gefunden habe, zum Fundbüro bringe oder behalte. Oder ob eine Notlüge vielleicht gerade höflicher ist als die Wahrheit.

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Ethisches Handeln lässt sich trainieren wie eine Sportart.

 Ringen mit dem eigenen Ego

„Wir alle sind täglich mit kniffligen ethischen Fragestellungen konfrontiert“, sagt Michael Winkler. Angewandte Ethik helfe uns, uns selbst besser kennenzulernen. „Indem ich versuche, mein Denken und mein Verhalten bewusst einer ethischen Kontrolle zu unterziehen, komme ich automatisch mit mir selbst in Berührung, das heißt mit meinen Intentionen, Emotionen und Antrieben.“ Denn die wenigsten von uns würden aus reiner Nächstenliebe handeln.

Positive Taten umzusetzen, erfordere immer auch ein Ringen mit dem eigenen Ego. Zum Beispiel, weil wir dadurch auf etwas verzichten müssen oder weil wir nicht jedem Menschen die gleiche Sympathie entgegenbringen. „Alle Menschen bedingungslos und vorurteilslos zu lieben, setzt ein überaus hohes Niveau an persönlicher Reife und Entwicklung voraus. Am Anfang stehen daher kleine Gesten, mit denen wir Wertschätzung für unsere Mitmenschen ausdrücken.“

Ethisches Handeln lasse sich genauso trainieren wie eine Sportart. Auch beim ‚Ethik-Training‘ brauchen wir ein wenig Willenskraft und Disziplin, um innere Widerstände zu überwinden. „In dem Maße, in dem wir uns selbst besser kennenlernen und unethische Antriebe kontrollieren können, verändert sich auch unsere Wahrnehmung von uns selbst“, so Winkler. Das Ziel: sich anhand ethischer Denk- und Verhaltensweisen weiterzuentwickeln und dabei menschlicher und empathischer zu werden. In kleinen Schritten.

TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Loreke76 / Twenty20, Dana Mihaela / Twenty20, itskars / Twenty20, kboz / Twenty20