No. 31 – ALTER

Impulse

„In Ihrem Alter macht man das doch nicht mehr“

Was man in einem bestimmten Alter noch machen darf und kann und möchte, das sollte jeder für sich entscheiden. Doch leider haben wir zu viele negative Bilder über das Altwerden im Kopf, sagt die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello.

Lesedauer: ca. 7 Minuten

Altwerden: wissen, was einem gut tut

Pasqualina Perrig-Chiello war bis zu ihrer Emeritierung 2016 Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der psychosozialen Entwicklung im mittleren und höheren Alter, insbesondere auf den Übergängen zwischen verschiedenen Lebensphasen. Sie hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, zuletzt „Own your Age: Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte“.

Mit zunehmendem Alter müssen wir immer mehr Einschränkungen hinnehmen. Dennoch nimmt bei den meisten Menschen die Zufriedenheit zu. Wie ist das zu erklären?

Ja, das wird als paradox empfunden, denn die Lebensqualität nimmt ja nicht zu, sondern ab. Man erlebt gesundheitliche Probleme und soziale Verluste. Man verliert mit der Pensionierung die soziale Stellung und ist nicht mehr die Frau Doktor oder der Herr Abteilungsleiter. Plötzlich gehört man offiziell zu den Alten und ist mit den Altersbildern unserer Gesellschaft konfrontiert. Man kann diese neue Lage negieren und sich innerlich dagegen auflehnen. Aber die meisten Menschen sagen sich, okay, machen wir das Beste draus. Es sind Anpassungsprozesse, die den meisten älteren Menschen immer besser gelingen, weil sie die Lebenserfahrung haben und krisenerprobt sind. Die Lebenszufriedenheit erreicht statistisch mit 75, 80 den Höhepunkt. Danach sinkt sie wieder, allerdings mit einer großen Streuung.

Heißt das, dass man im Alter von den durchlebten Krisen profitieren kann?

Genau. Die meisten gehen gestärkt aus den vielen Widrigkeiten, die das Leben mit sich bringt. Wenn dann eine neue Krise kommt, hat man so etwas schon mal erlebt und kann gelassener damit umgehen. Gelassenheit und Lebenserfahrung sind die großen Errungenschaften des Alters. Auch die Corona-Umfragen haben gezeigt, dass Ältere mit den Einschränkungen besser umgehen konnten.

Viele fühlen sich also wohl mit ihrem Alter.

Es stellt sich mit dem Alter auch eine geringere Kompromissbereitschaft ein. In der ersten Lebenshälfte macht man ja viele Kompromisse, beruflich, partnerschaftlich und gesellschaftlich, weil man dazugehören will und sich verorten muss. Mit zunehmendem Alter weiß man, was einem gut tut und was nicht. Man relativiert die gesellschaftlichen Normen und entwickelt eigene Standards. Wenn ich das so sage, dann gilt das für die meisten, nicht für alle. Es gibt Menschen, denen das nicht gelingt. Deshalb gibt es bei Umfragen nach der Lebenszufriedenheit auch erhebliche Schwankungen. Aber der Mittelwert zeigt nach oben.

Passen wir unsere Ansprüche den Möglichkeiten an?

Ich gebe Ihnen ein etwas klischeehaftes Beispiel: Jemand hätte vielleicht gerne noch eine Weltreise oder eine Kreuzfahrt gemacht, kann das aber wegen seiner körperlichen Einschränkungen nicht mehr tun. Dann findet man zweckdienliche Interpretationen, etwa dass man solche Reisen wegen der damit verbundenen Umweltzerstörung ja sowieso ablehnt. Kurzum, man findet eine Entschuldigung.

»Mit zunehmendem Alter weiß man, was einem gut tut und was nicht.«
„Own your age“ heißt: Es ist dein Alter.

Ihr Buch fasst viele Erkenntnisse aus der Psychologie zusammen, die sehr tröstlich sind und Mut machen.

Die wissenschaftlichen Fakten zeigen, dass wir das meiste selbst in der Hand haben. Viele sagen ja, gutes Altern habe mit den Genen zu tun. Aber nur zu rund 30 Prozent sind die Gene für Gesundheit, Lebenserwartung oder etwa Demenzerkrankungen verantwortlich. Der Rest ist Lebensstil. Das Altern ist biografisch mitbedingt, also wie wir gelebt haben und wie wir leben.

In Ihrem Buch ermuntern Sie dazu, sich von den üblichen Altersbildern zu befreien.

„Own your age“ heißt: Es ist dein Alter. Wir sollten wissen, was diese Altersstereotypen mit uns machen. Sie werden unbewusst übernommen und können unser Verhalten und unsere kognitive Leistung, ja sogar unsere Lebenserwartung negativ beeinflussen.

Haben Sie ein Beispiel?

„In Ihrem Alter macht man doch das nicht mehr.“ Das wird verinnerlicht. Wenn ich mit älteren Menschen spreche, höre ich dann: „In meinem Alter hat das doch gar keinen Sinn mehr, sich an der Uni einzuschreiben. In meinem Alter macht man kein neues Geschäft auf oder sucht sich eine Stelle.“ Aber warum nicht? Wir haben eine längere Lebenserwartung und das in guter Gesundheit. Man kann sich mit 60 oder 70 noch neu erfinden. Alt ist nicht gleich alt.

»Das ist auch so ein Stereotyp: Sex und Attraktivität sind den Jüngeren vorbehalten.«

Menschen altern unterschiedlich schnell.

Das kalendarische Alter, so wie es im Pass steht, ist etwas sehr Relatives. Je älter wir werden, umso größer sind die individuellen Unterschiede. Bei Kindern und jungen Menschen können wir die Entwicklung gut über das Alter verorten. Bei 50-Jährigen ist das schon viel schwieriger und bei 60-, 70- und 80-Jährigen kaum noch möglich, weil die Streuung immens ist. Da spiegeln sich die unterschiedlichen Lebensumstände, der Lebensstil und die Einstellungen.

Das Exmodel Paulina Boriskova hat mal gesagt: „Eine Frau ab 50 darf alles, nur nicht sexy sein.“

Heute würde man sagen, eine Frau ab 60 darf alles, nur nicht sexy sein. Das ist auch so ein Stereotyp: Sex und Attraktivität sind den Jüngeren vorbehalten. Warum eigentlich? Es geht nicht darum, wie die Sängerin Madonna alles dafür zu tun, um dem Bild der jungen, sexy Dame zu entsprechen. Own your age heißt, wenn du sexy sein willst, dann mach das. Es ist dein Recht.

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Egal, wen man fragt, die meisten Menschen über 50 fühlen sich 10 oder 20 Jahre jünger als sie tatsächlich sind. Woran liegt das?

Psychologisch lässt sich das gut erklären. Unsere Selbstwahrnehmung verläuft nicht synchron mit der körperlichen Entwicklung. Aber selbst wenn wir uns an die Veränderungen anpassen, im Kern bleiben wir die gleichen. Die Persönlichkeitsstruktur ist eine recht stabile Konstante über die Jahre. Ob wir extrovertiert, offen für Neues oder gewissenhaft sind, ist ab dem Alter von rund 30 Jahren ziemlich etabliert. Die Jahre vergehen, der Körper verändert sich und die Umgebung nimmt uns anders wahr, wir aber haben zumeist noch das alte Bild von uns.

Wir leben länger und wir leben länger gesund.

Unser Gefühl hinkt dieser Entwicklung gewissermaßen immer hinterher.

Genau. Aber es gibt auch einen ganz objektiven Grund für die verschobene Wahrnehmung. Wir erleben eine Verjüngung des Alters. Wir leben länger, wir leben länger gesund und wir haben andere Bedingungen des Alterns. Wenn Sie Fotos von 60-jährigen Frauen vor 50 Jahren oder 100 Jahren anschauen, dann sind das nun wirklich alte Frauen. Heute dagegen stehen 60-Jährige voll im Leben. Das ist nicht nur ein körperlicher Unterschied.  Eine Frau hat heute aufgrund ihrer Bildung, ihrer Berufsorientierung und der zunehmenden Gleichstellung viel mehr Möglichkeiten. Aber in unseren Köpfen sind noch die alten Bilder. Ach ja, mit 60 Jahren ist der Zug abgefahren. Nein, individuell erleben wir es ganz anders.

Trotzdem frage ich mich, ob es heute schwieriger ist, alt zu werden, als noch vor 50 oder vor 100 Jahren, weil die Rollenbilder damals klarer waren.

Der Wunsch nach ewiger Jugend war schon immer da. Aber das Alter ist zu einer langen Phase geworden. Früher genügte die Unterscheidung jung und alt, die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei Mitte 50. Heute gelten wir über eine lange Lebensphase als „alt“ und das wird zum Problem.

»Es ist eine neue Generation, die ins Alter kommt, und zwar in großen Mengen. «

Ist Altersdiskriminierung überhaupt erst ein Thema geworden, weil der Anteil der älteren Menschen in unserer Gesellschaft so enorm zugenommen hat?

Absolut. Es ist eine neue Generation, die ins Alter kommt, und zwar in großen Mengen. Die Mehrheit ist besser gebildet. Was früher unhinterfragt blieb, wird jetzt immer mehr ins öffentliche Bewusstsein hineingebracht. Simone de Beauvoir hat in ihrem Standardwerk „Das Alter“ das Älterwerden noch als etwas ganz Schreckliches beschrieben. Heute werden alte Menschen nicht schlechter behandelt als damals, aber man ist nicht so mehr so schicksalsergeben wie in den 60er Jahren.

In ihrem Buch habe ich auch gelesen, dass eine jugendliche Erscheinung weniger von der Zahl der Falten abhängt, sondern mehr von Dingen wie Präsenz, Reaktionsfähigkeit und körperlicher Haltung. Können Sie das erklären?

Menschen, die schnell reagieren, die einen wachen Blick haben, die sich harmonisch und kräftig bewegen, werden generell als jugendlicher wahrgenommen. Es gibt Leute, deren Gesichter voller Falten sind, die aber sehr jung wirken. Es sind nicht die Falten, die uns alt machen, sondern unser Verhalten und unser Habitus, wie wir im Leben stehen.

Generativität: das Weitergeben an nachfolgende Generationen

Enkelkinder sind ein Höhepunkt im Leben

Welche Rolle spielen Enkelkinder bei der Zufriedenheit von älteren Menschen?

Senioren und Seniorinnen mit Enkelkindern haben im Schnitt eine größere Lebenszufriedenheit. Es gibt natürlich auch viele Kinderlose und Enkellose, die glücklich sind. Aber Enkelkinder sind so etwas wie ein Höhepunkt im Leben vieler Menschen. Man wird mit neuen Werten und einer ganz neuen Welt konfrontiert, das verjüngt. Zudem ist das Weitergeben auf der familialen Lebensachse spannend und sinnstiftend.

Sie sprechen von Generativität, dem Weitergeben an nachfolgende Generationen.

Ursprünglich bezeichnete Generativität das Sorgen für die eigenen Kinder und Enkelkinder. Inzwischen hat man den Begriff auf eine soziale Generativität ausgeweitet, also eine Fürsorge für nachfolgende Generationen und eine lebenswerte Zukunft. Dahinter steht aber nicht nur Altruismus, sondern auch Selbstzweck. Wir wissen aus vielen Forschungsarbeiten, dass Generativität glücklich macht, weil sie uns das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. Und das ist im Alter ganz wichtig. Viele Menschen, vor allem im hohen Alter, haben das Gefühl, dass sie eine Belastung darstellen. Wenn man sich aber etwas für andere tun kann, dann hat man eine Aufgabe, fühlt sich nützlich. Das ist sehr beglückend. Wegfokussieren vom eigenen Leiden und für andere etwas tun können, hilft übrigens auch vielen Menschen nach kritischen Lebensereignissen.

»Diejenigen, die sich nicht nur für sich selbst interessieren, sondern sich auch für andere einbringen, sind viel weniger von Einsamkeit betroffen.«

Haben ältere Menschen denn immer das Bedürfnis, sich einzubringen?

Viele, die ins Rentenalter kommen, lehnen ein Ehrenamt zunächst ab und sagen: „Ich habe schon genug geleistet.“ Mit der Zeit ändert sich dann ihre Einstellung. Man kann natürlich Reisen machen und sich verwöhnen. Aber wenn man sich nur mit den eigenen Bedürfnissen beschäftigt, fangen die anderen an, einen zu meiden. Man driftet immer mehr in diese egozentrische Spirale ab, die zunehmend in die Einsamkeit führt. Wir wissen, dass diejenigen, die sich nicht nur für sich selbst interessieren, sondern sich auch für andere einbringen, viel weniger von Einsamkeit betroffen sind.

Sie haben viele Gespräche mit hochbetagten Menschen geführt. Was beschäftigt die Menschen in den letzten Lebensjahren?

Im hohen Alter spielt die Spiritualität eine zunehmend wichtige Rolle. Man beschäftigt sich mit diesen großen Fragen: Wohin geht die Reise? Was bleibt dann? Bei den Interviews mit Hochbetagten hat mich sehr beeindruckt, dass die meisten ein schönes, ausgewogenes Verhältnis zum Schicksal hatten. Krankheiten und Widerwärtigkeiten können jeden treffen. Aber der Umgang damit ist von uns abhängig. Ein 90-Jähriger, der noch sehr aktiv war, sagte zu mir: „Der da oben schickt Wind und Wetter. Steuern muss ich mein Boot aber selbst.“ Das bringt es wirklich auf den Punkt: Ich will mein Boot steuern, ich will meinen Weg finden.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
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