Altersforschung: Unser Gehirn will mehr lernen
Etwas Neues lernen – das geht im Alter fast genauso gut wie in jungen Jahren. Neuere Forschung zeigt, dass Erfahrung und Wissen das verminderte Kurzzeitgedächtnis ausgleichen können. Auch im Ruhestand können wir mit Erfolg eine Sprache lernen, einen Tanzkurs oder ein Studium absolvieren. So bleibt das Gehirn fit.
„Die Kapazität unseres Gehirns wird massiv unterschätzt“, sagt Christian Stamov Roßnagel. Der Professor für Organisationspsychologie an der Jacobs University Bremen räumt mit der weit verbreiteten Vorstellung auf, ältere Menschen seien nur noch eingeschränkt in der Lage, etwas Neues zu lernen. „Bis 70 müssen wir uns keine Sorgen machen. Laut aktuellem Stand der Forschung lernen ältere Menschen fast genauso gut wie jüngere“, so der Psychologe.
Erfahrung hilft, Zusammenhänge zu erkennen
Unsere verzerrte Wahrnehmung entsteht beispielsweise, weil in wissenschaftlichen Untersuchungen oft die Teilnehmer aufgefordert werden, Rechenaufgaben in möglichst kurzer Zeit zu lösen. Dabei sind Jüngere den Älteren im Schnitt überlegen. Das Kurzzeitgedächtnis lässt im Laufe der Jahre nach, was uns ein wenig langsamer macht. Doch Senioren können dafür bei anderen Aufgaben punkten. „Je breiter, umfassender und komplizierter die Herausforderungen sind, desto kleiner sind die Unterschiede zwischen Älteren und Jüngeren“, erklärt Stamov Roßnagel.
„Sobald Vorwissen und Strategie wichtig werden, Zusammenhänge erkannt werden müssen, die nicht auf der Hand liegen, kommt Senioren ihre Erfahrung zugute.“ Beim Erlernen einer neuen Sprache beispielsweise dürften Jüngere zwar schneller sein als Ältere, aber nicht besser. Beide können am Ende das gleiche Ergebnis erreichen. „Übrigens sind Ältere oft gewissenhafter als Jüngere“, bemerkt der Lernforscher. „Das erklärt zum Teil den Unterschied in der Geschwindigkeit.“
Wichtig beim Lernen: Motivation
Das Hauptproblem sei nicht das Gehirn, sondern die Motivation: „Mit zunehmendem Alter fordern wir unser Gehirn immer weniger, bei Vielen sinkt die Lernbereitschaft.“ Wichtige Anreize wie ein höheres Einkommen oder die berufliche Karriere entfallen meist mit der Rente. Mit zunehmendem Alter fragen sich viele: Was bringt es mir? Lohnen sich die Anstrengung und der Zeitaufwand? Hinzu kommt, dass es Senioren nicht immer leicht gemacht wird, Neues zu erkunden. „Der verbreitete Irrtum, dass Ältere nicht mehr gut lernen könnten, wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung“, so Stamov Roßnagel. „Kann ein 60-Jähriger eine Handy-App nicht benutzen, wird an seinen kognitiven Fähigkeiten gezweifelt. Hat ein 25-Jähriger Probleme damit, denken die meisten, dass die App nicht benutzerfreundlich sei.“
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Mehr Routine mit digitalen Medien
Gerade bei den digitalen Kompetenzen scheinen die größten Unterschiede zwischen Jung und Alt zu bestehen. Die Ethnologin Pearl-Sue Carper von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat in einem Internet-Café für Seniorinnen und Senioren untersucht, wie der Umgang mit neuen Medien auch älteren Menschen gelingt. „Tatsächliche Kompetenz entwickelt man nur, indem man es selbst tut.“, sagt Carper.
Der Unterschied zwischen Alt und Jung bestehe nicht zwangsläufig im Wissen, wie etwas funktioniert, sondern vielmehr in der Gewohnheit. Denn auch Jüngere würden die Prozesse meist nicht hinterfragen und verstünden auch nicht immer, wie Geräte und Anwendungen genau funktionieren. „Der Unterschied liegt in der Routine, im sogenannten Körperwissen. Inkorporierte Bewegungen, die stark unterbewusst ablaufen und nur durch regelmäßiges ‚Selbst-Tun‘ trainiert werden können.“ Carpers Beobachtungen machen Mut: Die Senioren im Internetcafé lernten extrem schnell, wenn ihnen das Wissen auf die richtige Weise vermittelt wurde.
Was ist mein Ziel?
Für jedes Alter gilt, dass es zum Lernen vor allem Spaß und Durchhaltevermögen braucht. „Zunächst sollte ich mir klar darüber sein, wofür ich etwas lernen möchte, was mein Ziel ist“, rät Stamov Roßnagel. Besuche ich zum Beispiel einen Sprachkurs, um mich im nächsten Urlaub besser verständigen oder um bestimmte Literatur im Original lesen zu können? Um langfristig motiviert zu bleiben, sollte man sich in Zwischenetappen die erreichten Erfolge vergegenwärtigen: Was habe ich bereits verstanden? Was kann ich schon?
Welche Studienangebote gibt es?
Volkshochschulen, Universitäten und freie Trägern bieten spezielle Bildungsangebote für Senioren an. Einen Überblick gibt der regelmäßig erscheinende Studienführer des Akademischen Vereins der Senioren in Deutschland.
Das Gehirn trainieren
Es lohnt sich in jedem Fall, niemals damit aufzuhören, neue Dinge zu lernen. Das zeigen zahlreiche neurowissenschaftliche Untersuchungen. Denn man kann sein Gehirn wie einen Muskel trainieren und dadurch kognitiv lange fit bleiben. Wichtig ist die Neugier, sich noch einmal auf etwas Neues einzulassen: beispielsweise eine Fremdsprache zu lernen, einen Tanzkurs zu machen oder in einem Ehrenamt aktiv zu werden. Immer mehr Menschen nehmen ein Seniorenstudium auf, rund 50 deutsche Hochschulen bieten inzwischen spezielle Studiengänge für Ältere an.
Auch ein längerer Auslandsaufenthalt etwa als Au-pair-Oma fordert uns heraus, vertraute Pfade zu verlassen und uns mit unbekannten Orten, fremden Menschen und ungewohnten Denkweisen auseinanderzusetzen. Doch vor allem Musizieren scheint unserem Gehirn besonders gut zu tun. Schweizer Forscher haben gerade mit einer Studie bestätigt, dass Musiker besser vernetzte Gehirne haben. Und um ein Musikinstrument zu erlernen, ist es nie zu spät.
TEXT: Lars Klaaßen
FOTOS: Jacob Lund/istock, Addictive Stock/Photocase, greenleaf123/istock