No. 30 – RESPEKT

Impulse

Im Alter auf Augenhöhe

Altersdiskriminierung steckt tief in den Köpfen. Oft merken wir es nicht einmal, wenn sie uns widerfährt. Wir brauchen ein neues Bild vom Älterwerden – in der Gesellschaft und für uns selbst. Davon profitiert sogar die Gesundheit.

Lesezeit ca. 4 Minuten

Eine Generation, die immer noch jung ist

Eine ältere Frau sitzt allein im Restaurant, bestellt etwas zu essen und wartet. Weitere Gäste betreten die Gastwirtschaft. Sie alle bestellen und bekommen irgendwann ihre Speisen und Getränke. Die ältere Frau wartet hingegen immer noch alleine auf ihr Essen. Und wartet. Dann spricht sie den vorbeieilenden Kellner darauf an, dass mehrere Gäste, die nach ihr gekommen sind, längst ihre Bestellungen bekommen haben. Als er versucht, sich herauszuwinden, wird die Frau wütend.

Sabine Distler hat diese Szene tatsächlich beobachtet. Sie ist Psychogerontologin und Gründerin der Initiative Altern gestalten. Die Situation im Restaurant ist ein Paradebeispiel für das, wogegen sie sich seit Jahren leidenschaftlich engagiert: Altersdiskriminierung. Distler hat die Frau angesprochen. In dem kurzen Gespräch berichtete jene, dass ihr solche Situationen regelmäßig passieren und dass sie dabei in die Rolle der biestigen alten Frau gedrängt werde, die sie doch eigentlich gar nicht sein wolle.

Fehlendes Bewusstsein

Diskriminierung aufgrund des Alters ist allgegenwärtig, wird aber dennoch in der Öffentlichkeit nicht ausreichend wahrgenommen. Sie kann auch Kinder oder Jugendliche treffen, wenn sie beispielsweise pauschal als verantwortungslos oder leichtsinnig gebrandmarkt werden. Deutlich häufiger werden jedoch ältere Menschen diskriminiert, man spricht von Ageismus.

Spätestens ab 60 Jahren werden Menschen als alt bezeichnet. In einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2020 war etwa die Hälfte der gut 83.000 befragten Menschen aus 57 Ländern altersfeindlich eingestellt. Zudem stellt die Studie fest, dass Ageismus stark institutionalisiert und allgemein akzeptiert ist und nicht infrage gestellt wird. Altersdiskriminierende Darstellungen sind demnach in der Alltagssprache und in den Medien weit verbreitet.

Unser Bild vom Alter ist durch Defizite geprägt.

Viele Ältere empfinden sich als Last und nehmen Benachteiligungen gar nicht als solche wahr.

Studien aus Deutschland, erstellt vom Deutschen Institut für Altersvorsorge und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, zeigen, dass die Mehrzahl der über 50 Jährigen heute weniger Respekt erlebt als früher. Vor allem bei sehr alten Menschen überwiegt das Gefühl, gesellschaftlich wenig anerkannt zu sein.

Auf dem Arbeitsmarkt, bei Versicherungen und Banken

Doch wie zeigt sich Altersdiskriminierung? Zum Beispiel darin, dass Menschen schon mit Ende 50 kaum noch Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, dass Versicherungen die Beiträge für Ältere erhöhen oder ihnen bestimmte Behandlungen verweigern, Banken ihnen keine Kredite geben und dass man mit 70 nicht mehr ehrenamtlich als Schöffin oder Schöffe tätig sein darf. Und die Liste geht weiter: Viele Straßen und öffentliche Plätze, Kinos und Schwimmbäder sind nicht barrierefrei und können mit Rollator oder Rollstuhl nicht betreten werden. „Auch dass Unternehmen 60-Jährige ohne Abzüge in die vorzeitige Rente schicken und sich auf diese Weise ihrer meist besser bezahlten Mitarbeitenden entledigen, ist eine Form von Altersdiskriminierung“, sagt Distler. „In dem Alter haben die meisten doch noch Jahrzehnte vor sich.“

Respekt vor dem Leben

Wertschätzung für Menschen und für die Natur – das ist es, was die Gründer des Magazins Prinzip Apfelbaum antreibt, die Welt ein Stück besser zu machen.

Mehr Informationen zur Initiative

Tatsächlich hat sich die Lebenserwartung hierzulande in den letzten 150 Jahren verdoppelt. Heute sind mehr als 25 Millionen Menschen in Deutschland 60 Jahre und älter. Das entspricht fast 30 Prozent der Bevölkerung. 23 Prozent sind zwischen 60 und 80, 7 Prozent zwischen 80 und 100. Sogar 100+ sind keine Seltenheit mehr: Im Jahr 2021 gehörten immerhin gut 23.500 Menschen zu dieser Gruppe. Die Älteren und Alten sind also eine relevante Größe.

»Ältere Menschen haben weniger Gespür dafür, wo Diskriminierung anfängt.«

Dennoch denken bei dem Begriff Diskriminierung viele eher an Kategorien wie Geschlecht, Herkunft oder Behinderung. „Aufmerksamkeit dafür, wo Diskriminierung anfängt, schafft meist die betroffene Gruppe selbst“, sagt Distler. „Ältere Menschen tun das in der Regel nicht. Sie wissen, dass sie sich aus der Gesellschaft herausbewegen, und haben weniger Gespür dafür, wo Diskriminierung anfängt.“

Unser Bild vom Älterwerden ist vor allem durch Defizite bestimmt: dass alte Menschen hilflos sind, unselbständig, unproduktiv, gebrechlich und starrköpfig. Das prägt auch das Selbstbild, das ältere Menschen von sich haben. „In der Folge werden viele tatsächlich unsicherer, reduzieren sich selbst auf die Rolle der Bedürftigen und empfinden sich als Last. Benachteiligungen oder Diffamierungen nehmen sie dann gar nicht als solche wahr oder empfinden sie als normal“, gibt Distler zu bedenken.

Altersdiskriminierung geschieht bei der Arbeit, in Vereinen, im öffentlichen Leben.

Auswirkungen auf Lebensqualität und Gesundheit

Zugleich hemmen diese Stereotype viele in der älteren Generation daran, neue Fähigkeiten zu lernen, sich in der Gesellschaft zu engagieren oder ein Hobby aufzunehmen. Sie trauen sich nichts mehr zu. Und nicht nur das: Negative Altersstereotype zu verinnerlichen hat auch Folgen für die körperliche und geistige Gesundheit, wie die bereits erwähnte WHO-Studie darlegt. Menschen, die ablehnend auf das Altern blicken, zeigen häufiger kardiovaskuläre Stressreaktionen, eine höhere Ansammlung von Alzheimer-Markern und weniger gesundheitsbewusstes Verhalten. Das Autorenteam verweist unter anderem auf eine Langzeitstudie aus den USA, wonach ältere Menschen, die eine negative Einstellung zum Altern haben, durchschnittlich 7,5 Jahre kürzer leben als Menschen mit einer positiven Einstellung zum Altern.

»Wo es viele gesunde Alte gibt, scheint sich auch die Einstellung ihnen gegenüber zu ändern.«

Auffallend ist im internationalen Vergleich, dass laut der WHO-Studie eine ablehnende Haltung gegenüber dem Alter stärker in Ländern verbreitet ist, die ärmer sind, in denen weniger Menschen über 60 Jahre alt sind und in denen die Wahrscheinlichkeit geringer ist, lange gesund zu leben. Anders gesagt, wo es viele gesunde Alte gibt, könnte sich auch die Einstellung ihnen gegenüber ändern. Die Autorinnen und Autoren gehen jedoch davon aus, dass diese Wirkung auch umgekehrt gilt: dass dort, wo Altersdiskriminierung verbreitet ist, ältere Menschen nicht so lange gesund bleiben.

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Wir brauchen die Alten

„Wir brauchen die Alten, ihr Können und ihre Erfahrungen, nicht nur angesichts des Fachkräftemangels. Und sie möchten ja auch etwas tun!“ betont Distler. Regelmäßig bieten sie und ihr Team von Altern gestalten Kurse und Fortbildungen an, um für das Thema Altersdiskriminierung zu sensibilisieren. Dabei erlebt die Gerontologin, wie viel 80-Jährige noch auf die Beine stellen können. Sie werden von der Initiative zum Beispiel zu Kulturpaten ausgebildet. „Da begleitet dann eine 80-Jährige eine 90-Jährige zu verschiedenen Veranstaltungen.“ Auch als Flüchtlingsmentor könne man sich im Alter betätigen. „Wir kennen einen 85-jährigen Ingenieur, der im Rollstuhl sitzt, aber sehr digitalaffin ist und Geflüchtete mit seinem Wissen unterstützt.“

Distler plädiert dafür, auch auf politischer Ebene stärker gegen Altersdiskriminierung vorzugehen. Erste Schritte in die richtige Richtung seien schon erkennbar. So hat etwa die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, die Studie „Ageismus – Altersbilder und Altersdiskriminierung in Deutschland“ herausgegeben, die das Thema grundlegend analysiert und beschreibt. Anlässlich der Veröffentlichung sagte Ataman: „Um ein politisches Zeichen gegen Altersdiskriminierung zu setzen, sollte der Begriff ‚Lebensalter‘ endlich in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen werden: Ungleichbehandlung aufgrund des Alters ist inakzeptabel.“ Eine Idee, die Distler voll und ganz unterstützt.

TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Bonninstudio / Stocksy, Oneinchpunch / Shutterstock, Robert Kneschke /Shutterstock