No. 17 - RITUALE

Impulse

Das letzte Ritual

Wir versuchen, den Tod möglichst fern von uns zu halten. Doch gerade im Moment des Abschieds brauchen wir Rituale. Bei einer Beerdigung die nackte Erde zu sehen und eine Handvoll hinterher zu werfen, ist schmerzvoll. Aber es hilft, den Verlust zu begreifen. Warum es sich lohnt, alte Traditionen wiederzuentdecken und auch neue Formen zu finden.

Lesedauer ca. 5 Minuten

Blüten liegen verstreut auf einem Laken – Rituale der Trauer.

Marleen lag im Sterben. Mit 35 hatte der Krebs ihren Körper befallen und nichts hatte geholfen: weder Operationen, noch Chemotherapie, noch Bestrahlungen. Ihre letzten Tage verbrachte sie in ihrem Bett auf der Palliativ-Station. Ihre Mutter war da, der Vater, Cousinen, Cousins und Freunde. Ihr Mann hielt ihre Hand und sagte ihr, dass sie nun loslassen könne. „Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass ich sie liebe, auch als sie schon nicht mehr atmete.“ Er hatte gelesen, dass das Gehör als letzter Sinn aufhört zu arbeiten und dass das Gehirn auch nach dem letzten Herzschlag noch ein paar Minuten weiter aktiv ist. „Ich wollte, dass sie bis zum Schluss weiß, dass wir für sie da sind.“

Nachdem Marleen gestorben war, zog ihr Mann ihr den Krankenhauskittel aus, wusch sie und bekleidete sie mit ihrer Lieblingsbluse und -hose. Er kämmte ihre Haare und nahm den Lippenstift, den sie immer zu besonderen Momenten trug. Gemeinsam mit den engsten Freunden wachte er die ganze Nacht an ihrer Seite. Danach wurde Marleen in den Totenraum des Krankenhauses gebracht. Zwei Tage lang kamen weitere Freunde, Arbeitskollegen und Familienmitglieder, um Abschied von Marleen zu nehmen. Schließlich holte der Bestatter ihren Körper ab.

Vergessene Rituale: Kerzen stehen vor einem alten Wecker.

Vergessene Bräuche:
1. Uhren anhalten

Das ganze Dorf kam vorbei

Die dreitägige Totenwache war einmal fester Bestandteile der Sterberituale. Der Tote wurde zuhause aufgebahrt und das ganze Dorf kam vorbei, um Abschied zu nehmen. Im Haus wurden die Uhren angehalten, um den Zeitpunkt des Todes zu bewahren und die Welt für einen kurzen Moment zum Stillstand zu bringen. Die Fenster wurden geöffnet, um der Seele den Weg nach draußen in den Himmel zu erleichtern. Die Spiegel verhängte man mit Decken, damit sich die Seelen nicht darin verfangen. Und schließlich wurden den Verstorbenen Münzen auf die Augen gelegt, um den Fährmann über den Fluss zu bezahlen.

Auch die Tradition der „Post-Mortem-Fotografie“ stammt aus einer Zeit, in der Fotos noch eine Seltenheit waren. Das letzte Foto des Verstorbenen sollte dabei helfen, sich an den Menschen zu erinnern, aber auch die Realität des Todes begreifbarer zu machen. Eine ähnliche Funktion hatten Totenmasken, die schon in der Antike gefertigt wurden. Die Gipsabdrücke vom Gesicht des Verstorbenen dienten als Vorlagen für Büsten oder Porträts und werden auch heute noch teilweise erstellt.

Vergessene Rituale: Ein Laken ist über den Spiegel gelegt.

Vergessene Bräuche:
2. Spiegel verhängen

Gestorben wird im Krankenhaus

Leichenschmaus, Witwentracht, die schwarze Armbinde des Witwers – viele traditionelle Rituale sind in Vergessenheit geraten. Überlieferte Traditionen, die aus einem Aberglauben entstanden sind, haben ihre eigentliche Bedeutung verloren. Auch die Kirche, die seit dem Mittelalter für Trauerrituale zuständig war, spielt für viele Menschen nur noch eine untergeordnete Rolle. Und natürlich hat sich die Art verändert, wie wir mit dem Thema „Tod“ umgehen: Er ist zu etwas geworden, das wir von unserem Leben möglichst fernhalten. Oder, wie der französische Historiker Philippe Ariès in seiner „Geschichte des Todes“ schreibt: „Nur ja nicht die Existenz eines Skandals zugeben, den wir nicht haben verhindern können, lieber so tun, als gäbe es ihn gar nicht […]. So hat sich ein dumpfes Schweigen über den Tod gelegt.“

»So hat sich ein dumpfes Schweigen über den Tod gelegt«

Der Anblick eines Toten, aufgebahrt im eigenen Haus oder in der Nachbarschaft, ist uns fremd geworden. Gestorben wird nicht mehr zuhause, sondern vor allem in Krankenhäusern und im Seniorenheim. Häufig ist es der vielgefürchtete Anruf, der über den Tod der Mutter oder des Vaters informiert. Vom Krankenhaus geht es direkt zum Bestatter und von dort ins Grab. Dass man den Toten – je nach Bundesland – noch ein bis zwei Tage zuhause behalten darf, ist kaum bekannt.

Vergessene Rituale: Vor einem offenen Fenster weht ein Gardine im Wind.

Vergessene Bräuche:
3. Fenster öffnen

Neue Wege in der Bestattungskultur

Doch in den letzten Jahrzehnten sind verschiedene Gegenbewegungen entstanden. Da sind zum einen die Hospize. Hier können Angehörige die Sterbenden in den Tod begleiten. Anschließend haben sie Zeit, sich noch einmal am Bett des Toten zu versammeln. Es kann eine Musik gespielt werden, die Anwesenden sprechen über den Toten, was sie besonders an ihm mochten. Die Idee: Das Sterben soll wieder in das Leben integriert und nicht versteckt werden. Hospize sind inzwischen so nachgefragt, dass es Wartelisten gibt.

Auch von den Kirchen werden viele traditionelle Rituale gepflegt. Matthias Laminski ist Pfarrer in der katholischen St. Joseph-Kirche in Berlin. Wenn sich abzeichnet, dass jemand aus seiner Gemeinde stirbt, wird er gerufen. „Ich nehme die letzte Beichte ab oder spreche das Schuldbekenntnis und lese einen Text aus dem Evangelium vor. Schließlich lege ich meine Hände auf den Kopf und wir schweigen. Dann öle ich erst die Stirn ein, die Handflächen und spreche ein Gebet dazu.“ Der Pfarrer ist überzeugt, dass diese Sterberituale auch für die Angehörigen wichtig sind, etwa wenn sie in das ‚Vaterunser‘ miteinstimmen oder ihn bei der letzten Ölung unterstützen. „Das ist etwas, wo sie mitmachen und sich dran festhalten können“, sagt Laminski.

»Die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft betrifft das Sterben und Trauern genauso wie alle anderen Lebensbereiche.«

Außerdem gibt eine Reihe von Bestatterinnen und Bestattern, die neue Wege gehen und dabei auch alte Rituale wieder entdecken. Eine von ihnen ist Sarah Benz aus Berlin. Um richtig Abschied zu nehmen, sollte man ihrer Meinung nach den Toten noch einmal sehen zu können. Auch der Theologe und ehemalige Direktor des Kasseler „Museums für Sepulkralkultur“ berichtet in seinem Buch „Ein letzter Gruß“, dass wieder häufiger am offenen Sarg Abschied genommen wird.

Viele alternative Bestatter gehen noch weiter. Sie ermöglichen es den Hinterbliebenen sogar, selbst Hand anzulegen und an der Leichenwäsche teilzunehmen. „Es geht um das wirkliche Begreifen, dass derjenige nicht mehr lebt und nicht mehr da ist“, sagt Sarah Benz. Viel zu häufig würden die Angehörigen abgewimmelt werden, mit Behauptungen wie, dass das nicht mehr gehe oder dass man sich den Anblick ersparen solle.

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Welches Ritual passt?

Für Sarah Benz besteht kein Zweifel, dass wir Rituale für den Abschied brauchen. Die Frage ist nur, welche. „Die alten Rituale bedeuten den Menschen teilweise nichts mehr. Deswegen muss man klären, was ein Ritual erreichen soll und welches Ritual zu der Situation und der Familie passt.“ Benz berichtet von einer verstorbenen Frau, die Äpfel liebte. Bei der Beerdigung gab es für jeden eine Tüte mit Apfelsamen, um einen eigenen Apfelbaum zu pflanzen. Sie erinnert sich auch an einen großen Blumenfreund, der vor seinem Tod noch viele Blumenzwiebeln kaufte. Auf seiner Beerdigung wurden die Zwiebeln an die Trauernden verteilt. In Gedenken an ihn pflanzten sie die Blumen und schickten später Fotos, als diese aufblühten.

Neue Trauerrituale: Bunte Bänder, die durchgeschnitten werden, um Abschied zu nehmen.

Manchmal möchten die Trauernden den Verstorbenen etwas mitgeben: Dann kann man gemeinsam den Sarg bemalen, mit Botschaften versehen oder auch Handabdrücke hinterlassen. Anderen ist es wichtig, dass sie etwas behalten und mit nach Hause nehmen. Bei einem Verstorbenen kam die Bestatterin auf die Idee, dass sich jeder ein Band in seiner Lieblingsfarbe aussuchen konnte. Diese Bänder bekam der Verstorbene in die Hand, die anderen Enden jeweils einem der Angehörigen. „Ich habe die Bänder dann durchgeschnitten. Das war emotionalste Moment, alle haben geweint, der Abschied war da.“ Der Verstorbene behielt die Bänder in der Hand, die Angehörigen nahmen ihren Teil mit.

Wenn kleine Kinder oder Babys sterben, schlägt sie einen Gipsabdruck des Fußes oder der Hand vor. „Eine Mutter berichtete mir im nachhinein, dass es ihr gut tut, dass sie noch etwas hat, das sie anfassen kann. So wüsste sie immer, dass ihr Baby auch wirklich gelebt hat, dass das alles kein Traum war.“

Sarggeschichten

Auf ihrem Youtube-Kanal Sarggeschichten veröffentlichen Sarah Benz und ihr Kollege Jan Möllers kurze Filme zum Thema Sterben, Tod und Trauer, die informieren und zum Nachdenken anregen.

Die eigene Sterbegeschichte schreiben

Die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft betrifft das Sterben und Trauern genauso wie alle anderen Lebensbereiche. „Das Wie des Lebens und des Sterbens wird nicht mehr vorgeschrieben. Man muss seine Lebens- und Sterbegeschichte selbst schreiben“, meint etwa der Sozialwissenschaftler Klaus Wegleitner. Das kann eine Last sein, aber auch eine Chance.

Als Marleen beerdigt wurde, sprachen sowohl der Ehemann als auch die Mutter, der Vater trug ein Gedicht vor. Gemeinsam trugen sie die Urne zum Grab und ließen sie in die Erde. Zum Abschied hörten sie eine Tonaufnahme von Marleen, wie sie ihr Lieblingslied sang und dazu Gitarre spielte. Egal, ob wir auf traditionelle Rituale zurückgreifen oder neue finden. Letztendlich geht es darum, ein letztes Mal verbunden zu sein und dann loslassen zu können.

Zum Weiterlesen

Phillippe Ariès: Geschichte des Todes. Der französische Mediävist geht der Geschichte der Sterberiten und Bestattungsbräuche vom frühen Mittelalter bis heute nach und beschreibt die Wandlung des Todes vom vertrauten Begleiter zum Schrecken, der aus der Gesellschaft verbannt wurde. Erschienen im Deutschen Taschenbuch Verlag, 2002 (Erstausgabe 1978)

Reiner Sörries: Herzliches Beileid: Eine Kulturgeschichte der Trauer. Der ehemalige Direktor des Kasseler „Museums für Sepulkralkultur“ beschreibt Trauer als einen kulturellen Prozess: Lange Zeit tabuisiert fangen wir nun wieder an, uns vermehrt mit ihr zu beschäftigen. Erschienen im Primus Verlag, 2012

TEXT: Karl Grünberg
FOTOS: Edward Howell / Unsplash, Lina_tol / Twenty20, Pedro da Silva / Unsplash, rishi / Unsplash, Prado / Unsplash