No. 21 – ENDLICHKEIT

Impulse

Mit der eigenen Endlichkeit leben

Wir können uns das eigene Lebensende nicht vorstellen. Dass wir irgendwann nicht mehr da sein werden, verdrängen wir gerne. Dabei ist es ausgerechnet der Tod, der dem Leben Sinn gibt. Gerade die Endlichkeit macht das Leben umso kostbarer.

Lesedauer ca. 4 Minuten

Eine Sanduhr: Unsere Lebenszeit ist begrenzt.

Die Angst vor dem Tod durchzieht die Geschichte der Menschheit ebenso wie der Wunsch, ihm zu trotzen. Schon das über 4000 Jahre alte Gilgamesch-Epos erzählt davon. Darin trauert der sumerische König Gilgamesch so sehr um seinen verstorbenen Freund Enkidu, dass er sich auf die Suche nach einem Mittel für Unsterblichkeit macht. Nachdem er das geheimnisvolle Kraut im Meer gefunden hat, verliert er es auch schon wieder auf dem Rückweg und muss einsehen, dass ihn nur seine Geschichte unsterblich machen kann.

„Hinter allem steckt das große Gespenst des universalen Todes, die allumfassende Schwärze“, stellte der Psychologe William James bereits 1902 in seinem Werk „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ fest. Tatsächlich findet sich in sämtlichen Religionen der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod: sei es durch Wiedergeburt oder ein Dasein im Paradies. Gläubige Christen vertrauen darauf, dass sie nicht alleine sterben, sondern von Engeln zu Jesus geleitet werden. Dieses tröstende Bild hat Johann Sebastian Bach im ergreifenden Schlusschor des Johannesevangeliums vertont: „Ach Herr, lass dein‘ lieb‘ Engelein am letzten End‘ die Seele mein, in Abrahams Schoß tragen.“

Alles vergeht, alles verändert sich.

Der Gedanke an die Vergänglichkeit kann auch etwas Tröstendes haben.

Wie sehr die Angst vor dem Tod unser Verhalten beeinflusst, hat der US-Sozialpsychologe Sheldon Solomon untersucht. In mehreren Experimenten wurden etwa die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an ihre Sterblichkeit erinnert. In der Folge reagierten konservativ eingestellte Menschen strenger auf moralische Verstöße und verhielten sich abwehrend gegenüber Fremden. Liberal orientierte Menschen wurden dagegen großzügiger gegenüber anderen. Die durch einfache Fragen hervorgerufene Todesangst verstärkte offenbar die jeweiligen Wertvorstellungen.

Der Psychologe Solomon ist überzeugt, dass die menschliche Angst vor dem Tod ein wichtiger Motor für unser Handeln und möglicherweise sogar die Grundlage unserer Kultur ist: nämlich als der Versuch, unserem endlichen Dasein einen Sinn zu geben.

Alles vergeht, alles ändert sich.

Doch der Gedanke an die Vergänglichkeit kann auch etwas Tröstendes haben. Eine alte, 30 Meter hohe Eiche kränkelt, Mehltau und Pilze lassen sie langsam sterben. Aber nicht weit entfernt wachsen aus ihren Samen zwei kleine Bäumchen heran. Und in der toten Eiche tummelt sich das Leben: Pilze, Flechten, Käfer, Mücken und Fliegen nähren sich vom Totholz. Denn die Vergänglichkeit kann immer auch etwas Neues hervorbringen. Wer Kinder hat, weiß: Ein Stück von uns wird in ihnen fortleben. Und auch durch unsere Taten und Werke können wir etwas an nachfolgende Generationen weitergeben.

»Unser Hirn verhilft uns zu der Illusion, sterben müssten nur die anderen.«

Natürlich ist es auch möglich, sich so wenig wie möglich mit dem Tod zu beschäftigen. Schließlich müssen wir unseren eigenen Tod nicht selbst erleben. Es könnte sogar sein, dass uns das Gehirn davor schützt, zu viel über das eigene Sterben nachzugrübeln. Darauf deutet eine neurowissenschaftliche Studie an der Bar Ilan Universität hin, in der den Testpersonen Fotos von ihnen selbst und von Fremden gezeigt wurden.

Im Hirnscanner zeigte sich, dass der Bereich, der im Gehirn für Vorhersagen zuständig ist, in bestimmten Situationen abgeschaltet wurde. Und zwar immer dann, wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ihr eigenes Gesicht zusammen mit einem Wort vor sich sahen, das sie an den Tod erinnerte. Wurden ihnen fremde Gesichter mit einem Todeswort gezeigt, wurde diese Schutzfunktion nicht angeschaltet. Mit anderen Worten: Unser Hirn verhilft uns zu der Illusion, sterben müssten nur die anderen.

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Die Philosophin Ina Schmidt hat Zweifel am Nutzen dieser Strategie. „Das Ausklammern der eigenen Endlichkeit, das Verdrängen des Todes aus dem Bewusstsein führt nicht zu einem seligen Zustand voller gegenwärtiger Harmonie, sondern oftmals nur dazu, dass nagender Zweifel bleibt und Fragen nicht mehr gestellt werden“, schreibt sie in ihrem Buch „Über die Vergänglichkeit, Eine Philosophie des Abschieds“.

Mann auf einem Bootssteg: die eigene Endlichkeit akzeptieren

Es ist die Vergänglichkeit, die das Leben kostbar macht.

Im 16. Jahrhundert plädierte der französische Philosoph Michel de Montaigne in seinem Essay „Philosophieren heißt sterben lernen“ sogar dafür, täglich Umgang mit dem Tod zu pflegen, um sich an ihn zu gewöhnen. Seine Hoffnung: auf diese Weise den Schrecken etwas abzumildern. „Montaigne glaubte, dass uns diese Übung hilft, an das zu denken, was wirklich wichtig ist und was unserem Leben Sinn gibt“, betont Schmidt.

„Carpe diem“ – „Nutze den Tag!“ und „Memento Mori“ – „Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst!“ wussten auch die Menschen im antiken Rom. „Wir gewinnen Lebenskraft, wenn wir uns mit der Vergänglichkeit auseinandersetzen“, erklärt Ina Schmidt. „Gerade weil ich Tod und Vergänglichkeit anerkenne, kann ich bewusster im Hier und Jetzt leben.“ Es ist die Endlichkeit, die das Leben umso kostbarer macht.

»Sterben heißt, in der größten existierenden menschlichen Tradition aufzugehen«

Dazu gehört, die eigene Verletzlichkeit zu akzeptieren. Und je klarer wir die eigene Verwundbarkeit sehen, desto mehr empfinden wir auch das Leid anderer Wesen, meint Schmidt. Eine Haltung, die uns befähigt, zu lieben und geliebt zu werden und zudem Sinn zu erfahren. In den letzten Jahrhunderten hat sich die westliche Gesellschaft jedoch vornehmlich in eine andere Richtung entwickelt. Wir wollen in erster Linie etwas erreichen, immer besser werden und immer weiter wachsen.

Der Fortschrittsglaube geht soweit, dass die Forschung auch Krankheit und Tod zu überwinden hofft. Aber: „Wir können Krankheit und Vergänglichkeit anerkennen, ohne auf die schönen Dinge des Lebens verzichten zu müssen. Es sollte beides Platz haben“, meint Ina Schmidt. „Es geht nicht darum, dem Tod mit einem Lächeln entgegen zu treten. Natürlich macht der Tod Angst. Aber wir können damit leben.“

Der Kreislauf des Lebens

Krankheit und Vergänglichkeit gehören ebenso zum Leben dazu wie die schönen Dinge.

Als der schwedische Krimiautor Henning Mankell an Krebs erkrankte, stellte er sich seiner Angst vor dem Verfall. In seinem Buch „Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein“ schildert er seine Gedanken darüber, was er der Nachwelt hinterlassen wird und wie sich sein Körper auflösen wird. Seltsamerweise beruhigt ihn dieses Wissen, wie er schreibt: „Sterben heißt, in der größten existierenden menschlichen Tradition aufzugehen“.

Letzten Endes geht es uns wie der Eiche und wie allen Pflanzen und Tieren. Wir kehren zur Erde zurück, tauchen wieder ein in den Kreislauf des Lebens. Auch in diesem Gedanken können wir Trost finden.

Zum Weiterlesen

Henning Mankell: Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Eine unheilbare Krebserkrankung lässt den schwedischen Autor auf sein Leben zurückblicken und über die menschliche Existenz nachdenken. Erschienen bei dtv, 2015.

Ina Schmidt: Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds. Warum Vergänglichkeit, Verletzlichkeit und Alter ebenso zum Leben dazugehören wie Gesundheit und Unversehrtheit. Erschienen bei Edition Körber, 2019.

Sheldon Solomon, Jeff Greenberg und Tom Pyszczynski: Der Wurm in unserem Herzen: Wie das Wissen um die Sterblichkeit unser Leben beeinflusst. Die drei US-Psychologen berichten von ihrer Forschung zur Todesangst als einer treibenden Kraft in unserem Leben. Erschienen bei DVA, 2016.

TEXT: Angelika Friedl
FOTOS: Vera Lair / Stocksy, Marcel / Stocksy, Alessio Lin / Unsplash, dioxin / Photocase