Editorial
Rituale? Sind sie noch zeitgemäß? Überhaupt notwendig? Ganz bestimmt! Denn was wäre ein Geburtstag ohne liebevoll ausgesuchte Glückwunschkarten oder fröhlich gestaltete Facebook-Gimmicks? Was wäre Weihnachten ohne Kerzen und Glitzergirlanden? Das Treffen zweier Staatsoberhäupter, die sich nicht die Hand geben, wäre ein Desaster. Die Umarmung zur Begrüßung, wenn wir liebe Menschen wiedersehen, ist dagegen ein Glück.
Rituale geben uns einen Rahmen. Wie Leitplanken brauchen wir die kleinen und großen Zeremonien. Weil sie immer gleich sind, wissen alle Beteiligten, was zu tun ist. Die Gesten werden von allen verstanden. Das hilft uns vor allem in schweren Situationen, etwa wenn wir einen geliebten Menschen verlieren. Darum sind Sterbe- und Trauerrituale so wichtig. Gerade in der Corona-Pandemie mussten wir oftmals erleben, dass die Rituale des Abschieds uns bitter fehlten.
Auch in einer Gesellschaft, die sich heute so individuell ausprägt, sollten wir auf Rituale nicht verzichten. Denn sie stiften Gemeinschaft – wir begehen sie zusammen, sie sind unsere gemeinsamen Gewohnheiten, die uns lieb sind und gleichzeitig Orientierung geben.
Natürlich sollten wir uns fragen, welche Rituale wir wollen. Welche Traditionen wollen wir entsorgen, welche neu entdecken oder umgestalten? Und nicht zuletzt sollten wir erwägen, auch ganz neue Rituale für unsere Zeit zu schaffen.
Susanne Anger
Sprecherin der Initiative
"Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum"
Zum Titelbild
Jahr für Jahr erinnert die japanische Stadt Hiroshima an den Abwurf der Atombombe am 6. August 1945. Zu den alljährlichen Gedenkritualen gehören auch die bunten Papierlaternen, die die Menschen auf dem Fluss Ota schwimmen lassen. Sie sollen die Seelen der Opfer trösten.
Das letzte Ritual
Wir versuchen, den Tod möglichst fern von uns zu halten. Doch gerade im Moment des Abschieds brauchen wir Rituale. Bei einer Beerdigung die nackte Erde zu sehen und eine Handvoll hinterher zu werfen, ist schmerzvoll. Aber es hilft, den Verlust zu begreifen. Warum es sich lohnt, alte Traditionen wiederzuentdecken und auch neue Formen zu finden.
Weiterlesen...Was uns zusammenhält
Ohne Mythen und Rituale wäre das Entstehen komplexer Gesellschaften nicht möglich gewesen. Auch heute machen Zeremonien und symbolische Gesten selbst abstrakte Konzepte wie Meinungsfreiheit oder Gleichheit aller Menschen sinnlich erfahrbar. Wir sollten Rituale kritisch hinterfragen. Aufgeben sollten wir sie nicht.
Weiterlesen...Unsere Lieblinge
Lesetipp
Isabel Allende sitzt schon am frühen Morgen geschminkt und in High Heels am Schreibtisch, Patti Smith schreibt lieber im Bett wie eine „Genesende“. Käthe Kollwitz verlangte von ihrer Familie absolute Ruhe, um sich konzentrieren zu können. Tamara de Lempicka vergnügte sich dagegen mit Drogen und zwanglosem Sex, bevor sie berauscht an die Arbeit ging. Der dritte Band der „Musenküsse“ widmet sich ganz den Gewohnheiten berühmter Künstlerinnen. Die 64 kurzen Berichte sind anekdotisch, oftmals amüsant, aber vor allem anregend. Denn das Buch richtet sich nicht nur an Voyeure von kreativen Prozessen. Es erinnert daran, dass wir alle unsere ganz persönlichen Rituale haben und auch brauchen.
Mason Currey: „Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstlerinnen“. Sachbuch. Kein & Aber Verlag, 2019. 288 Seiten. 16 Euro.
Das Zitat
Die Riten sind in der Zeit das, was das Heim im Raume ist. Es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, was uns verbraucht, sondern als etwas, das uns vollendet.
ANTOINE DE SAINT-EXUPÈRY
1900 - 1944, Schriftsteller
Ideen, die bleiben
Menschen für Menschen
“Wut ist das Hauptmotiv für meine Arbeit – Wut über die Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich“, sagte der Schauspieler Karlheinz Böhm einmal. 1976 war er auf einer Urlaubsreise in Kenia mit der großen Armut in Afrika konfrontiert worden. Er hatte sich von Hotelangestellten in ihr Dorf mitnehmen lassen – eine Erfahrung, die das Leben des damals 48-Jährigen verändern sollte. 1981 trat er in der ZDF-Show „Wetten, dass..?“ auf und wettete gegen die Zuschauer in Deutschland, Österreich und der Schweiz, dass nicht einmal jeder Dritte von ihnen, eine D-Mark, sieben Schilling oder einen Franken für die Menschen in der Sahelzone spenden würde. So kamen 1,2 Millionen Mark zusammen, mit denen Böhm die Stiftung Menschen für Menschen gründete, um die Lebensbedingungen der Menschen in Äthiopien zu verbessern. 40 Jahre ist das her. Die Organisation setzt weiterhin auf integrierte, nachhaltige Hilfe zur Selbstentwicklung in den Bereichen Landwirtschaft, Wasser, Bildung, Gesundheit und Einkommen. Rund 6 Millionen Menschen in Äthiopien haben bereits davon profitiert.
77,37
Die Zahl
Rituale können uns helfen, Ängste zu überwinden. Die Harvard-Psychologin Alison Wood Brooks forderte Studienteilnehmer auf, vor Publikum zu singen. Vor Aufregung ging der Puls der Probanden im Schnitt von knapp 75 Schlägen pro Minute hoch auf über 80. Dann führte die Hälfte von ihnen ein kleines Ritual durch: Sie sollten zeichnen, wie sie sich fühlen, Salz auf das Blatt streuen, bis fünf zählen und es dann wegwerfen. Mit Erfolg: Die Teilnehmer hatten weniger Angst. Ihr Puls verlangsamte sich auf 77,37 Schläge pro Minute. Und sie sangen besser!
Schon gewusst?
Schikanen im Testament
Wer ein Testament verfasst, darf Bedingungen stellen. Der Erblasser kann beispielsweise verlangen, dass der Erbe die Erbschaft erst antreten darf, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat. Auch auflösende Bedingungen, bei denen die Erbschaft nur anfallen soll, wenn der Erbe sich in einer bestimmten Art und Weise verhält, sind zulässig. Allerdings gibt es hier Grenzen. Unzulässig sind solche Bedingungen, die Druck oder Zwang auf den Erben ausüben oder gegen sittliche Normen verstoßen. In solchen Fällen können Erben das Testament anfechten. Sie können Bestimmungen, die ihnen nicht nur Handlungsmöglichkeiten vorgeben, sondern schon nötigende Wirkung auf ihre Entscheidungsfreiheit haben, als Schikane zurückweisen. So greift beispielsweise die Bedingung, der Angehörige solle das Erbe nur erhalten, wenn er sich von seinem Ehepartner scheiden lässt, in sittenwidriger Weise in seine Entscheidungsfreiheit ein und ist daher unwirksam.
Michael Beuger, Partner der Kanzlei WILDE BEUGER SOLMECKE
Das tut gut