Malu Dreyer: “Am Ende kommt es nicht auf die Einschränkungen an”
Malu Dreyer war erst 34 Jahre alt war, als eine Multiple Sklerose bei ihr diagnostiziert wurde. Als beliebte Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz sorgte sie dafür, dass ihre Erkrankung immer im Hintergrund blieb. Inzwischen spricht sie offener über MS, ein anspruchsvolles Amt und unsere Wahrnehmung von Krankheit und Behinderung.
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Die Juristin Marie-Luise Dreyer arbeitete zunächst als Staatsanwältin. 1995 trat sie der SPD bei und wurde Bürgermeisterin in Bad Kreuznach. 2002 kam sie als Sozialministerin in die rheinland-pfälzische Landesregierung. Nach dem Rücktritt von Kurt Beck trat Dreyer seine Nachfolge an und war von 2013 bis 2024 Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Die 64-Jährige ist mit dem ehemaligen Trierer Oberbürgermeister Klaus Jensen verheiratet.
2012 ernannte Kurt Beck Sie zur Nachfolgerin für das Ministerpräsidentenamt. Hatten Sie damals keine Zweifel?
Ich habe tatsächlich sehr gründlich überlegt, ob ich mir das zutraue. Ich habe mich mit meinem Mann beraten, aber auch mit meinem Arzt. Kurt Beck war fest davon überzeugt, dass ich das schaffen konnte. Das braucht man natürlich auch: einen Unterstützer, der Erfahrung hat und einem etwas zutraut.
Auch bei anderen gab es keine Bedenken, ob Sie das schaffen würden?
Die gab es, aber schon vorher: als ich mich noch als Sozialministerin “geoutet” habe. Sehr viele Menschen haben mir ihr Mitgefühl gezeigt. Aber plötzlich war ich keine potenzielle Nachfolgerin für den Ministerpräsidenten mehr. Ich war aus den Medien so gut wie verschwunden. Man konnte sich offenbar nicht vorstellen, dass ich mit dieser Erkrankung auch noch Ministerpräsidentin werde. Das hat für einen Moment geschmerzt. Aber dann hat es mir eine große Freiheit gegeben. Ich konnte mich ohne Druck von außen für dieses Amt entscheiden.
Wie gelingt es, sich einzugestehen, dass man man Hilfe braucht?
Das ist sehr, sehr schwer. Als ich die Diagnose bekommen habe, war ich noch jung und habe mich gefühlt wie “Malu unkaputtbar”. Ich war ein sehr sportlicher Typ und beruflich schon recht erfolgreich. Eigentlich stand mir die Welt offen und ich habe niemals einen Gedanken daran verschwendet, dass sich daran etwas ändern könnte. Deshalb kam die Diagnose als ein großer Schock. Ich wollte nicht wahrhaben, dass manche Dinge einfach nicht mehr funktionieren. MS ist ja eine Erkrankung, bei der man nie weiß, wie sie sich entwickeln wird. Damit muss man psychisch erstmal klarkommen. Irgendwann habe ich entschieden, nicht mehr gegen die Krankheit anzukämpfen, sondern sie anzunehmen und alles dafür zu tun, mit ihr ein gutes Leben zu führen.
»Irgendwann habe ich entschieden, nicht mehr gegen die Krankheit anzukämpfen.«
Welche Einschränkungen haben Sie erlebt?
Ich bin früher gerne in den Bergen wandern gegangen. Und plötzlich wusste ich nicht mehr, ob ich von dem Berg, den ich hochlaufe, überhaupt wieder runterkomme. Es ist ein Prozess, sich das langsam einzugestehen und sich daran zu gewöhnen, nur den halben Weg zu gehen. Ich glaube, genau so fühlt es sich an, wenn man alt wird. Plötzlich kann man viele Dinge, die immer selbstverständlich waren, nicht mehr einfach so machen. Ich musste erst erleben, wo meine körperlichen Grenzen sind, um das zu akzeptieren. Über die Jahre ist mir das ganz gut gelungen. Als ich dann Ministerpräsidentin wurde, konnte ich sehr gut einschätzen, was geht und was nicht. Nur hin und wieder haben mich Freundinnen darauf hingewiesen, mal ein bisschen auf die Bremse zu treten.
Gegen Schmerz und Leid
Schmerz und Leid lindern, Natur schützen und die Welt ein Stück besser machen – das ist, was die Gründer des Magazins Prinzip Apfelbaum antreibt.
Der Rollstuhl war eine Idee Ihres Mannes.
Ja, das war während eines Urlaubs auf Lanzarote. Im Hotel gab es einen Verleih, der hatte fast alles im Angebot: vom Tauchsieder bis zum Rollstuhl. Mein Mann sagte: “Komm, hier kennt uns keiner. Lass uns das mal ausprobieren.” Ich habe mich überwunden und wir waren schließlich auf der ganzen Insel mit diesem Rollstuhl unterwegs. Für mich war das ein neues Freiheitsgefühl. Wir konnten wieder längere Strecken zurücklegen. Dadurch habe ich gelernt, mir Hilfsmittel zu nehmen, wenn ich sie brauche. Es ist nicht leicht, die Scham abzulegen. Fast alle Betroffenen kennen diese große Angst: einmal im Rollstuhl, immer im Rollstuhl.
Es gibt kaum Fotos von Ihnen im Rollstuhl, Ihrem “Silberpfeil”. War das Absicht?
Ja, das war es. Es hätte so gar nicht meinem Arbeitsalltag entsprochen, den ich in der Regel ohne Hilfsmittel leisten konnte. Es besteht ja auch immer die Gefahr, dass man nur noch über die Erkrankung definiert wird. In meiner aktiven Zeit habe ich deswegen nur ganz ausgewählte Interviews zu dem Thema gegeben. Ich wollte nicht über die Erkrankung wahrgenommen werden, sondern über das, was ich tue. Und den Silberpfeil habe ich eigentlich nur gebraucht, wenn ich längere Strecken zu bewältigen hatte.
Malu Dreyer mit Manuela Schwesig und Hannelore Kraft (2013)
Das Arbeitspensum einer Ministerpräsidentin ist auch für Menschen ohne eine chronische Erkrankung enorm. Wie haben Sie das geschafft?
Man braucht eine gute Selbsteinschätzung, wenn man sich auf ein politisches Amt oder überhaupt auf eine Führungsposition einlässt. Wie stark ist die eigene Resilienz? Was kann ich mir zutrauen und was nicht? Ich war immer ein Mensch, der sehr viel arbeiten konnten. Ich komme auch über lange Phasen mit wenig Schlaf aus. Außerdem ist es wichtig, ein Verständnis von guter Führung und Teamarbeit zu haben, denn alleine ist diese Aufgabe nicht zu schaffen. Und man braucht eine Leidenschaft für die Sache. Neben allen skills, die man braucht, ist das für mich das Allerwichtigste. Positives für die Menschen zu bewegen ist meine Leidenschaft, die mir Energie und Ausdauer gibt.
»Man braucht eine gute Selbsteinschätzung, wenn man sich auf ein politisches Amt einlässt.«
Inwieweit mussten Sie dabei auf Ihren Körper achten?
Man kommt in dem Beruf ganz oft erst in den Morgenstunden ins Bett. Trotzdem bin ich zweimal die Woche um 6:30 Uhr zur Physiotherapie gegangen. Ohne die hätte ich das nicht bewältigen können. Es gehört einige Disziplin dazu, auch in der Hektik aufs Essen zu achten, dass man sich gesund ernährt und zwischendurch kleine Auszeiten einbaut. Im Zweifel hat man auch noch nette Menschen um sich herum, die einen daran erinnern.
Was würden Sie jemandem sagen, der sich wegen einer Einschränkung nicht so viel zutraut?
Ich glaube, dass es am Ende nicht auf die Einschränkungen ankommt. Barrieren lassen sich aus dem Weg räumen. Wenn ich weiß, wo ich stehe, meine Stärken und Schwächen, meine Leidenschaften kenne und mich in einer bestimmten Aufgabe sehe, dann sollte ich sie anstreben. Unterstützung können Freunde oder Förderer und professionelle Coaches geben. Denn natürlich braucht man Kraft. Unsere Gesellschaft geht bis heute nicht immer selbstverständlich mit Behinderung oder chronischer Erkrankung um. Und doch ist sie viel offener geworden. Und manches muss man für sich einfach ausprobieren – das gilt für Menschen mit und ohne Einschränkung.
Malu Dreyer nach der Flutkatastrophe im Ahrtal (2022)
Wie reagieren Menschen darauf, wenn man als Politikerin Schwäche zeigt?
Viele Menschen mit einer chronischen Erkrankung haben mir gesagt, dass ich ein Vorbild für sie bin. Das hat mich sehr gefreut und auch getröstet. Als ich vor 30 Jahren die Diagnose erhalten habe, gab es noch keine öffentlichen Vorbilder, die mir hätten zeigen können, dass man sein Leben mit MS positiv gestalten kann. Aber eine Behinderung bleibt für die Betroffenen eine Herausforderung. Es ist nach wie vor keine Selbstverständlichkeit, damit in der Öffentlichkeit zu stehen. Mein Arzt hat mir zu Beginn den sehr guten Rat gegeben, die Diagnose nicht öffentlich zu machen, sondern zunächst nur meiner Familie und engen Vertrauten davon zu erzählen. Es ist ja auch für die Menschen, die einen mögen, alles andere als einfach, mit dieser Diagnose konfrontiert zu werden. Aber so lernt man, mit anderen darüber zu sprechen, mit den Ängsten und der Hilflosigkeit auch der anderen umzugehen. Ich habe die MS erst Jahre später öffentlich gemacht, als ich die innere Stärke dazu hatte und wusste, dass ich mich nicht im Strudel der öffentlichen Reaktionen verliere.
»Man lernt, mit den Ängsten und der Hilflosigkeit der anderen umzugehen. «
Das heißt, man übt erstmal im kleinen Kreis, um eine Haltung zu der Krankheit zu gewinnen, bevor man sich einer größeren Öffentlichkeit stellt?
Für mich persönlich war das sehr, sehr wichtig. Klar, ich war eine öffentliche Person, aber ich glaube, das kann auch für andere Menschen beispielsweise im Arbeitsumfeld gelten. Man braucht eine innere Sicherheit und man will vor allem nicht nur über die Erkrankung definiert werden.
Wie waren die Reaktionen damals?
Die Menschen in Rheinland-Pfalz haben sehr positiv darauf reagiert. Sie hatten bereits die Erfahrung, dass sie mir viel zutrauen können. Daran hat sich für sie durch die Veröffentlichung nichts geändert. Dafür war ich sehr dankbar. Lediglich von Rechtsaußen kamen des öfteren abscheuliche Kommentare. Es gibt leider Gruppierungen, die Menschen mit Behinderung diskriminierend und ausgrenzend bewerten. Dazu gehört auch die AfD als Partei. Menschen, die die AfD wählen, sollten sich bewusst machen, dass dieses Menschenbild nichts mit unserer liberalen Demokratie zu tun hat, in der alle Menschen die gleiche Würde haben und das gleiche Recht auf Teilhabe. Menschen, die eine Behinderung haben, gehören mitten in unsere Gesellschaft. Es wäre sehr, sehr schlimm, wenn die errungene Normalität im Zusammenleben zerstört würde.
Malu Dreyer mit ihrem Ehemann Klaus Jensen nach der Bekanntgabe ihres Rücktritts (2024)
Haben Sie mit regelmäßigen Schmerzen zu tun?
Das eine ist der Schmerz im Herzen, wenn man eine solche Diagnose hat. Es tut weh, wenn man nicht mehr wie jeder andere zum Bus rennen kann oder so etwas. Dieser Schmerz kommt immer noch ab und zu hoch, damit muss ich klarkommen. Die körperlichen Schmerzen halten sich bei mir in Grenzen. Es ist nicht schön, wenn sie auftreten, aber ich kann etwas dagegen tun. Jetzt im Ruhestand mache ich deshalb auch viel mehr Sport und widme mehr Zeit meiner Gesundheit.
Wie genießen Sie jetzt die Zeit ohne Regierungsverantwortung?
Ich genieße es sehr. Heute ist es eine große Erleichterung, keine Verantwortung mehr tragen zu müssen. Ich schaue mit großer Dankbarkeit auf mein berufliches Leben zurück und bin froh, dass der Generationenwechsel in meiner Nachfolge so gut gelungen ist. Jetzt darf ich mich einfach zurückziehen und völlig frei die Dinge tun, wie ich möchte. Mein Mann und ich haben eine Stiftung, mit der wir Versöhnungs- und Demokratieprojekte fördern. Wie stark ich mich engagiere, kann ich selbst bestimmen. Das Wichtigste ist der Freiraum für die Menschen, die ich liebe und für die ich oft wenig Zeit hatte.
GESPRÄCH: Wibke Bergemann
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