Ruhestand: Ein neues Leben finden
Spätestens wenn sie sich auf den Ruhestand vorbereiten, wird den meisten Menschen bewusst, dass das Leben endlich ist. Ein guter Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen, die eigene Rolle zu hinterfragen und die nächsten Jahre vorzubereiten. Denn diese Lebensphase hat ihren eigenen, neuen Sinn und bietet viele Chancen.
Der letzte Arbeitstag ist für die meisten Menschen mit gemischten Gefühlen verbunden. Plötzlich ist alles vorbei, was Jahrzehnte lang einen großen Teil ihres Lebens ausgemacht hat. Für viele ist der Beruf ihr Lebensinhalt schlechthin. Arbeit strukturiert den Tag, wir fühlen uns wertvoll, sind mit anderen Menschen zusammen und bleiben geistig flexibel. Das Ende des Berufslebens gilt daher unter Psychologen schon lange als ein kritisches Lebensereignis. Nicht wenige fallen erst einmal in ein tiefes Loch.
Vom Beruf Abschied nehmen
„Wer sich auf diese Phase vorbereitet, kommt in der Regel mit dem Übergang besser zurecht. Nach meiner Erfahrung tun das aber die wenigsten“, erklärt der Marburger Psychoanalytiker Meinolf Peters, der sich in seiner Praxis auf Alterspsychotherapie spezialisiert hat. Männern falle es schwerer als Frauen, den Job loszulassen. Und besonders schwierig wird der Übergang für alle, die unfreiwillig ausscheiden oder sich stark mit ihrem Beruf identifizieren.
Um einen guten Abschied zu finden, könnten Rituale hier helfen. „Übergänge wie Schulbeginn, Kommunion und Konfirmation oder Hochzeit werden von Ritualen begleitet. Für den Ruhestand haben sie sich noch nicht etabliert, dabei könnten sie sehr zur Versöhnung beitragen“, sagt der Psychotherapeut.
Es geht nicht nur um Hobbys
Mit dem Leben „danach“ sollte man sich rechtzeitig beschäftigen, am besten schon einige Jahre vor dem Rentenbeginn. „Es reicht aber nicht aus, Listen zu erstellen, was man dann alles erledigen will“, warnt Peters. Denn irgendwann sind alle Fotos sortiert und das Haus oder die Wohnung vollständig renoviert. Auch im Garten ist im Winter wenig zu tun. Hobbys sind natürlich wichtig, aber letztlich nicht entscheidend für die neue Lebensphase.
Innehalten und Bilanz ziehen
Meinolf Peters plädiert stattdessen fürs Innehalten. Es geht darum, loszulassen und einen langsameren Lebensrhythmus zu finden. Auch die Rückschau auf das eigene Leben gehört dazu. Was war mir wichtig, was habe ich erreicht, welche Dinge bedauere ich? „Diese Überlegungen sind Teil eines Abschiedsprozesses. Nur wenn ich Abschied nehmen kann, mache ich mich frei für etwas Neues“. Um den eigenen Wünschen und Interessen nachzuspüren, müssen wir aber etwas tiefer in uns hineinhorchen. Das braucht Zeit. „Man kann sich zum Beispiel fragen, welche Möglichkeiten habe ich bisher nicht genutzt? Was habe ich früher gerne gemacht und irgendwann aufgegeben? Was möchte ich vielleicht noch nachholen?“
Dabei kann es helfen, seine Überlegungen schriftlich zu notieren und möglichst konkret zu werden: Was kann ich heute schon tun, um meinen Wunsch, Akkordeon spielen zu lernen, auch umzusetzen? Auch Gespräche mit der Partnerin, dem Partner oder guten Freunden können Ideen für andere Lebenswege bringen. Anregungen liefern vielleicht auch Seminare zur Vorbereitung auf den Ruhestand. Sie werden unter anderen von Gewerkschaften, evangelischen Akademien und von Arbeitgebern angeboten. Beziehungen gehören, gerade auch für Singles, ebenfalls auf den Prüfstand. Habe ich gute Freunde oder pflege ich soziale Kontakte nur mit Arbeitskolleginnen und -kollegen?
Einen neuen Lebenssinn finden
„Wir brauchen auch im Alter einen Lebenssinn“, sagt Meinolf Peters. Studien zeigen, dass Menschen, die einen Sinn im Leben sehen, gesünder und seelisch ausgeglichener sind. Wir finden Sinn zum Beispiel durch Geben und durch Generativität, also das Wissen um die Verantwortung der Generationen untereinander.
Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der diesen Begriff prägte, bezog Generativität zunächst vor allem auf Menschen im späteren Erwachsenenalter. Inzwischen geht man davon aus, dass die Fürsorge für nachfolgende Generationen auch für Menschen im hohen Alter noch wichtig ist. Das kann die Sorge um die Enkel sein, ein Ehrenamt, bei dem ich Kindern Nachhilfe gebe, oder etwa die Gründung einer Stiftung für den Umweltschutz.
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Letzte Fragen klären
Wer sich mit der dritten Lebensphase befasst, sollte aber auch andere Bereiche nicht vernachlässigen und beispielsweise eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht verfassen. In letzterer kann man für den Fall der eigenen Handlungsunfähigkeit festlegen, wer die Betreuung übernehmen soll. Fehlt eine solche Vollmacht, bestimmt ein Betreuungsgericht die Betreuerin oder den Betreuer. Spätestens im Ruhestand sollte man auch sein Testament schreiben und sich fragen: Wen will ich als Erben einsetzen? Was möchte ich hinterlassen, was soll einmal von mir bleiben?
Trotz aller anfänglichen Sorgen: Im Großen und Ganzen erleben die meisten Menschen den Ruhestand als positiv, meint Meinolf Peters. „In den ersten Monaten erlebt man eine Art Honeymoon. Dann fällt die Stimmung für einige Zeit in den Keller, bis sich wieder ein neues Gleichgewicht eingestellt hat.“
Zum Weiterlesen
Meinolf Peters: Die gewonnenen Jahre: Von der Aneignung des Alters. Statt die einschränkenden Veränderungen im Alter zu leugnen, lädt der Psychotherapeut dazu ein, diese zu nutzen, um eine neue Lebensqualität zu finden. Erschienen im Psychosozial-Verlag, 2017.
TEXT: Angelika Friedl
FOTOS: Ryan Liberto/Twenty20, buzzybee909/Twenty20, Heather Shevlin/Unsplash