Gesine Schwan: "Älterwerden ist eine Art Ernte"
Zum Online-Interview erscheint Gesine Schwan gut gelaunt und voller Energie. Dass sie in ein paar Monaten 82 Jahre alt wird, ist ihr nicht anzumerken. Schwan bedauert zwar, dass sie nicht mehr tanzen kann. Doch mit der Berlin Governance Platform will sie noch viel bewirken.
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Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Von 2010 bis 2014 leitete sie die Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin. Daneben hat sich Schwan auch immer in der Politik engagiert. 1972 trat sie in die SPD ein und ist seit 2014 Vorsitzende der Grundwertekommission der Partei. Zweimal wurde sie für das Amt der Bundespräsidentin vorgeschlagen. Gesine Schwan ist Mitglied mehrerer Gremien und Schirmherrin unter anderem der Stiftung Bildung.
Wie haben Sie sich mit 40 oder 50 Jahren das Älterwerden vorgestellt und wie ist es dann tatsächlich geworden?
Ich fühlte mich sehr alt, als ich 30 wurde. Als ich 50 wurde, fühlte ich mich dagegen gar nicht mehr alt. Die Zeit zwischen 50 und 60 wurde eine meiner aktivsten Zeiten. Ich war neun Jahre lang Präsidentin der Viadrina und das war ein sehr erfüllter und sehr erfüllender Job. Dann wurde ich 60 und war sehr verliebt in meinen jetzigen Mann. Wenn Sie verliebt sind, fühlen Sie sich überhaupt nicht alt.
Und dann mit 70 Jahren?
Ich war eigentlich nur dankbar. Damals war ich auch noch erheblich jugendlicher als heute. Ich konnte noch tanzen, das kann ich jetzt nur noch andeuten. Auch als ich 80 wurde, habe ich Dankbarkeit empfunden. Ich fand es nie selbstverständlich, was ich habe. In den vergangenen Jahren wurde ich mehrmals operiert, das hat mich ein bisschen mitgenommen. Ich kann noch laufen, aber ich könnte nicht mehr rennen. Das ist jetzt so.
Es ist also so geworden, wie Sie es erwartet haben?
Es ist zum Teil noch viel schöner geworden. Ich war nach dem Tod meines ersten Mannes zwölf Jahre allein. Ich habe nicht mehr erwartet, dass ich jemanden finde, mit dem ich mich so gut verbinden kann. Das ist ein ganz großes Geschenk und ein großes Glück, das muss ich wirklich sagen.

Hochzeit mit 61: Gesine Schwan und ihr zweiter Ehemann Peter Eigen
Vor gut 10 Jahren haben Sie die Berlin Governance Platform mitgegründet, deren Präsidentin Sie bis heute sind. Warum setzen Sie sich nicht einfach zur Ruhe?
Ich erlebe viele Dinge in der Welt, die geändert werden müssen und mir fallen so viele mögliche Lösungen ein, dass ich damit nicht aufhören will. Solange ich noch kann, ist es das Schönste, was mir passieren kann, dass ich Dinge auf den Weg bringe. Und das zusammen mit viel jüngeren Menschen, die mich auch herausfordern, denen ich aber auch etwas beispielsweise zur Demokratietheorie bieten kann. Es ist die schönste Form, sein Leben im Alter zu gestalten. Ich reise gerne mal an Orte, wo es warm ist und wo man schwimmen kann. Aber ohne eine sinnvolle Tätigkeit, die in dieser Welt wirklich etwas verbessert, wäre ich längst nicht so glücklich.
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»Statt über die Übel dieser Welt zu weinen, habe ich immer Lösungen gesucht und auch welche gefunden.«
Was interessiert Sie an dieser Tätigkeit?
Gegenwärtig sieht es in der Politik ja eher bedrückend aus. Diese Projekte, die ich auch zusammen mit meinem Mann in den zehn Jahren entwickelt habe, sind das, was mich tröstet. Wir haben in zehn Kommunen in Ost und West sogenannte kommunale Entwicklungsbeiräte aufgebaut. Die sind noch klein an der Zahl, aber schon erfolgreich. Ich bin überzeugt, dass sie das Potential haben, die Demokratielandschaft in Deutschland zu verändern. Der große Unterschied zu anderen Partizipationsformen ist, dass die Stadtratsvertreter und die Verwaltung von Anfang an dabei sind. Mit 35 Menschen aus Politik, Wirtschaft und organisierter Zivilgesellschaft sind das anstrengende Prozesse, die von großem Dissens zu einstimmigen Empfehlungen führen. Mein Mann hat parallel im Senegal kommunale Multi-Stakeholder-Räte aufgebaut, um Elektrizität aufs Land zu bringen.
Woher nehmen Sie Ihre große Zuversicht?
Eine wichtige Rolle spielt mein Glaube, der mir sagt, dass diese Welt nicht dem Untergang geweiht ist. Diese Einstellung ist tief in mir drin und hilft mir, nicht zu resignieren. Außerdem habe ich meine Lebenserfahrung. Statt über all die Übel dieser Welt zu weinen, habe ich immer Lösungen gesucht und auch welche gefunden. Ich bin durch schwierige Zeiten gegangen. Meine Mutter war die letzten 30 Jahre ihres Lebens manisch-depressiv. Mein erster Mann ist mit 58 gestorben und hatte drei Jahre einen ziemlich fürchterlichen Krebs. Auch im Berufsleben habe ich zwar viel Erfolg gehabt, aber auch schwierige Situationen erlebt. Wenn ich jedes Mal aufgegeben hätte, dann hätte ich vieles nicht erreicht.

Schwan 2002, damals Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)
Sie sind 2004 und 2009 als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt vorgeschlagen, aber nicht gewählt worden.
Die erste Anfrage kam völlig überraschend und war relativ aussichtslos. Als Präsidentin der Viadrina habe ich aber die Chance auch dazu genutzt, in den drei Monaten meiner Kandidatur meine Universität bekannter zu machen. Beim zweiten Mal war es viel schwerer, weil ich wirklich Lust hatte, dieses Amt zu übernehmen. Und ich hatte tatsächlich gute Chancen, aber infolgedessen gab es auch heftige Gegner. Es war klar, dass ich ein bestimmter Typ Mensch bin und unbequeme Fragen aufwerfen würde.
Es gab auch Stimmen aus der SPD gegen Sie.
Da musste ich ein wenig kauen, ich hätte es gerne gemacht. Im Nachhinein frage ich mich aber, ob viele Tätigkeiten des Bundespräsidenten mich nicht sehr verschlissen hätten. Aber es hat mich doch gereizt, auch als Frau einen Unterschied zu machen.

Bei der Bundespräsidentenwahl 2004 unterlag Schwan Horst Köhler.
Dann sind Sie 2019 mit Ralf Stegner für den SPD-Vorsitz angetreten. Ihre Chancen standen nicht gut und Sie haben es trotzdem gemacht. Das erfordert auch Mut.
Nachdem Andrea Nahles als Vorsitzende zurückgetreten war, schien es drei Wochen lang so, als würde keiner kandidieren wollen. Das fand ich so demütigend für die SPD, dass ich dann erklärt habe, dass ich mich bewerbe. Einfach auch, um eine Initialzündung zu setzen. Ich hätte die Partei gerne wieder in Schwung gebracht. Dass Ralf Stegner und ich auf dem letzten Platz standen, hat mich zunächst sehr gewurmt, weil ich fand, dass wir besser als manch anderes Paar ankamen. Aber ich habe dann verstanden, dass die Basiswahl tatsächlich eine abgekartete Sache unter Funktionären war. Ich bin lange Jahre Sozialdemokratin und habe viel in der Grundwertekommission gearbeitet, aber ich habe nie typische Funktionärsarbeit gemacht. Das fehlte mir.
Sie scheinen mit dem Älterwerden gut zurechtzukommen.
Ich bin dankbar, dass ich ein so langes, gutes und sinnvolles Leben führen konnte. Zweitens bin ich dankbar, dass ich mein Alter so ungewöhnlich schön mit meinem Mann zusammen gestalten kann. Viele in meinem Alter haben Schmerzen oder sind einsam. Ich hatte zwar auch Operationen, sogar eine kleine Krebsoperation. Das war aber nicht dramatisch. Und schließlich bin ich dankbar dafür, dass ich meine Erfahrung und meine Gedanken mit jungen Leuten teilen kann. Das ist eine Art Ernte.
»Ich bin dankbar, dass ich meine Erfahrung und meine Gedanken mit jungen Leuten teilen kann.«
Welche Nachteile hat das Älterwerden?
Alter ist nicht nur schön. Aber das hängt auch vom „Erwartungsmanagement“ ab, wie man heute sagen würde. Ich muss mich in meinen Erwartungen auf das einstellen, was im Alter möglich ist. Das erfordert Demut. Bestimmte Dinge klappen eben nicht mehr so wie früher. Die Treppe zur S-Bahn kann ich nur noch am Geländer gehen. Aber meine Perspektive ist dann, dass es auch schlimmer sein könnte: Ich kann die Treppe noch nehmen, ich bin noch nicht auf den Fahrstuhl angewiesen.

Damit sind Sie nicht allein.
Um einen herum werden die Leute gebrechlich. Man spürt ständig die Vergänglichkeit des Lebens und muss sich jeden Tag klarmachen, dass es nicht mehr unendlich so weitergeht. Vor zwei Jahren ist mein Bruder gestorben, mit dem ich sehr eng war. Das war für mich eine ganz bittere, harte Erfahrung. Seitdem fühle ich mich, als wäre ich amputiert worden. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, muss ich an meinen Bruder auf dem Totenbett denken. Ja, das geht mir noch immer sehr nah. Wenn Sie Mitte 50 sind, können Sie das alles wegschieben. Aber mein Mann ist 86, ich bin 81 – dann müssen Sie sich damit auseinandersetzen.
Wie geht man mit der eigenen Vergänglichkeit um?
Wenn ich etwas nicht schön finde, ist es immer mein Rezept gewesen, darauf zuzugehen und nicht zurückzuweichen. Das heißt, sich beispielsweise zu überlegen: Was machen wir, wenn wir krank werden, wenn wir gepflegt werden müssen? Es gibt viele Kirchenlieder, die um einen gnädigen Tod bitten. Dieser Gedanke kommt mir jetzt auch manchmal. Ich möchte noch eine Weile hier meine Arbeit machen. Aber ein gnädiger Tod wäre ein großes Geschenk. Dass es nicht zu quälend wird, das wäre schön.
»Ein gnädiger Tod wäre ein großes Geschenk.«
Zum Schluss die Frage: Was soll von Ihnen bleiben?
Ich würde mir wünschen, dass es meine Familie und meine engen Freunde ermutigt, wenn sie an mich denken. Dass ich ihnen helfen könnte, im weiteren Leben zu bestehen. Das würde mich freuen. Außerdem möchte ich noch ein bisschen länger leben, um meine kommunalen Entwicklungsbeiräte auszubauen. Wenn wir es schaffen, diese trialogischen Gesprächsforen weiter zu verbreiten, könnten sie eine Menge bewirken.
GESPRÄCH: Wibke Bergemann
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