Der Sinn des Gebens
Anderen zu helfen, erfüllt uns mit Zufriedenheit. Denn Wohltaten lösen ganz unmittelbar Glücksgefühle aus, langfristig geben sie uns Anerkennung und Sinn. Der Zusammenhang ist sogar messbar. Höchste Zeit also, anderen – und auch sich selbst – Gutes zu tun.
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Geben ist seliger denn Nehmen, heißt es schon im Neuen Testament. Doch es macht nicht nur seliger, sondern auch glücklicher. Wer sich anderen gegenüber großzügig verhält, gastfreundlich ist, Geld spendet oder jemandem Zeit und ein offenes Ohr schenkt, weiß um das gute Gefühl, das dabei entstehen kann – selbst wenn nicht unmittelbar ein Dankeschön oder ein Lächeln folgt. „Warm glow effect“ nannte der Wissenschaftler James Andreoni Ende der 1980er-Jahre dieses wohlige Gefühl, das Menschen nach einer guten Tat empfinden.
Der Zusammenhang zwischen Großzügigkeit und Glücksempfinden lässt sich sogar auf neuronaler Ebene nachweisen. In einer Studie der Neurowissenschaftlerin Soyoung Q. Park an der Universität Lübeck erhielten 50 Probanden einen Monat lang wöchentlich Geld. Die Hälfte von ihnen sollte dieses Geld für Freunde und Bekannte ausgeben. Und tatsächlich zeigte diese Gruppe bei der Bildgebung durch funktionelle Magnetresonanztomographie eine erhöhte Aktivität in dem Gehirnareal, das mit großzügigem, uneigennützigem Verhalten in Zusammenhang gebracht wird. Zugleich gab es bei ihnen eine stärkere Verbindung zu einem weiteren Bereich, der ihnen Glücksgefühle bescherte.
Der Sinn des Gebens
Doch es geht um mehr als ein spontanes Wohlgefühl. Die Psychologie-Professorin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck hat in einer breit angelegten Studie Menschen danach gefragt, wo sie den größten Sinn in ihrem Leben finden. Am häufigsten nannten die Teilnehmer Lebensbereiche, die die Psychologin als „horizontale Selbsttranszendenz“ zusammenfasst, also das Absehen von sich selbst und den eigenen momentanen Wünschen, wenn man etwas für andere Menschen oder die Natur tut.
Nach mir die Sintflut – das lassen die Jungen nicht mehr gelten.
Der Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson sieht im Geben sogar ein prägendes Bedürfnis einer bestimmten Lebensphase. Er entwickelte den Begriff der Generativität und bezeichnete damit die siebte Stufe der psychosozialen Ich-Entwicklung im Alter von 45 bis 65 Jahren. In dieser Lebensphase wollen wir demnach Werte für künftige Generationen schaffen und weitergeben. Dabei geht es nicht nur darum, für die eigenen Kinder zu sorgen. Generativität meint, sich den kommenden Generationen und der Menschheit im Allgemeinen verpflichtet zu fühlen und danach zu handeln.
Nichts anderes fordert schließlich auch die Fridays for Future-Bewegung, die seit mehr als drei Jahren für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit auf die Straße geht: Die Alten müssten mehr an die Jungen denken und sich stärker für die Zukunft des Planeten einsetzen, fordern sie. Auch wenn das bedeute, Klimaschutz über das eigene Wohl und die eigene Bequemlichkeit zu stellen. Nach mir die Sintflut – das lassen die Schülerinnen und Schüler nicht mehr gelten.
»Wer sich sozial engagiert, nimmt am gesellschaftlichen Leben teil.«
Tatsächlich sind immer mehr Menschen ehrenamtlich aktiv. Rund 31 Millionen engagieren sich hierzulande für das Gemeinwohl und opfern dafür großzügig ihre Freizeit. Die größte Gruppe bilden mit 21 Prozent die 50- und 59-Jährigen, gefolgt von Menschen, die 70 oder älter sind. Ältere engagieren sich ehrenamtlich in allen gesellschaftlichen Bereichen: in der Nachbarschaftshilfe, in Mentorenprojekten mit Kindern und Jugendlichen oder bei generationsübergreifenden sozialen und kulturellen Projekten, im Sport ebenso wie bei der Unterstützung von Älteren oder pflegenden Angehörigen.
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Denn sich sozial zu engagieren, ist auch eine Möglichkeit, nach dem Ausscheiden aus dem beruflichen Alltag weiter am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Gerade für die 65- bis 85-Jährigen ist das von zentraler Bedeutung, wie die Generali-Altersstudie von 2017 zeigt. In keiner anderen Gruppe ist die Bereitschaft demnach so ausgeprägt, Verantwortung für das eigene und das Leben von Mitmenschen zu übernehmen, egal ob innerhalb und außerhalb der Familie. Selbst bei angeschlagener Gesundheit sind Ältere, die sich sozial engagieren und aktiv sind, zufriedener. Das kann sich gerade in der letzten Lebensphase positiv auswirken, wie unter anderem eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bestätigt.
Helfen durch Spenden
Wer keine Zeit findet, um sich sozial zu engagieren, kann anderen natürlich auch finanziell helfen. Und das tun viele, wie die Zahlen aus der Studie „Bilanz des Helfens“ zeigen, die die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) jährlich im Auftrag des Deutschen Spendenrats erstellt: Rund 19 Millionen Menschen in Deutschland haben im Jahr 2020 Geld an gemeinnützige Organisationen oder Kirchen gespendet. Das entspricht 28,5 Prozent der Bevölkerung. Eine weitere Möglichkeit ist gemeinnütziges Vererben. Fast jeder und jede dritte Deutsche ab 50 Jahren kann sich laut einer Umfrage der GfK von 2019 vorstellen, eine gemeinnützige Organisation im Testament zu bedenken – bei den Kinderlosen ist es sogar mehr als die Hälfte.
»Ausgerechnet im armen Berlin-Neukölln erfuhren die beiden auf obdachlos getrimmten Reporter viel Hilfe.«
Doch wer helfen will, muss nicht reich sein. Eindrücklich belegen das zwei Geschichten, die 2011 und 2012 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschienen sind: Maria und Josef im Ghetto des Geldes sowie Maria und Josef in Neukölln. Als obdachloses Paar verkleidet, zogen der „Zeit“-Redakteur Henning Sußebach und die Schauspielerin Viola Heeß kurz vor Weihnachten durch mehrere Städte im Taunus. Laut Gesellschaft für Konsumforschung leben hier die wohlhabendsten Menschen Deutschlands. Doch die erhoffte Hilfe blieb aus. Kaum jemand war auch nur ansatzweise bereit, mit den beiden zu sprechen, geschweige denn, ihnen Geld oder Obdach zu geben. Selbst der Pfarrer ließ sie nicht mit ihren Schlafsäcken im Pfarramt übernachten. Die Menschen lebten hier nach der Logik: Wieso versprechen sich Arme ausgerechnet von Reichen Hilfe?, resümiert Sußebach.
Nach Veröffentlichung der Geschichte bekam die Redaktion viele Briefe mit dem Tenor: Arme Menschen wären auch nicht mitfühlender gewesen. Um das zu überprüfen, zog Henning Sußebach ein Jahr später mit der Journalistin Nadine Ahr durch das für eine hohe Hartz-IV-Quote bekannte Berlin-Neukölln. Etwa die Hälfte aller Kinder lebt hier von staatlichen Transferleistungen. Doch ausgerechnet im armen Neukölln erfuhren die beiden auf obdachlos getrimmten Reporter viel Hilfe: von Essen und Trinken über warme Socken bis hin zu Schlafplätzen. Menschen hörten ihnen zu und boten ihnen ohne zu zögern Unterstützung an: etwa beim Gang zum Amt, bei der Job- und Wohnungssuche.
Glücksgefühle
Hier in Neukölln bestätigten sich wissenschaftliche Erkenntnisse, die amerikanische Psychologinnen und Psychologen der University of California gewonnen haben: Demnach sind Personen aus unteren sozialen Schichten im Alltag stärker auf Kooperation angewiesen als Menschen aus reicheren Haushalten. Da sie selbst die Sorgen kennen würden, entwickelten sie ein besseres Gespür für die Emotionen ihrer Mitmenschen und seien mitfühlender. Ob ihre Unterstützung bei den Helferinnen und Helfern in Neukölln Glücksgefühle ausgelöst hat, wurde nicht gemessen. Bei den beiden „Hilfsbedürftigen“ tat sie das auf jeden Fall.
TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Karin K. / Photocase, Markus Spiske / Unsplash, Thirdman / Pexels, Neil Thomas / Unsplash