No. 27 - DANKBAR

Wissenswertes

Demokratie: Wir sind alle im Spiel

Unsere Gesellschaft lebt auch vom politischen Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Menschen, die mitmachen, statt darauf zu warten, dass „die da oben“ liefern, erleben mitunter, dass man auch im Kleinen Großes bewirken kann. Wer sich nicht ohnmächtig ausgeliefert fühlt, weiß auch die Demokratie mehr zu schätzen.

Lesedauer ca. 4 Minuten

Überfülltes Hockey-Feld: Fair Play oder jeder gegen jeden?

Irene Wollenberg greift für die Demokratie auch mal zum Putzzeug. Dann reinigt sie draußen auf den Bürgersteigen die in den Boden eingelassenen Stolpersteine zum Gedenken an die Opfer der NS-Zeit. Wollenberg ist Mitglied im Bürgerbündnis „Mut machen – Steele bleibt bunt“, das sich für neue Stolpersteine hier im Essener Stadtteil Steele einsetzt und die alten bei Bedarf reinigt. 2018 hatten sich Bewohnerinnen und Bewohner in dem Bündnis zusammengetan, um der rechten bürgerwehrähnlichen Gruppierung „Steeler Jungs“ etwas entgegenzusetzen.

Die Gruppe aus Rockern, Hooligans und Neonazis marschierte damals wöchentlich durch den Stadtteil. „Wir Anwohner haben sehr schnell gesagt, dass das einfach nicht angehen kann, dass hier unwidersprochen jede Woche so eine Truppe von rechtsextremistischen Bürgerwehrtypen durch die Stadt geht und Angst und Schrecken verbreitet“, berichtet Irene Wollenberg.

Seitdem organisiert „Steele bleibt bunt“ unter anderem Nachbarschaftsfeste, Demonstrationen, Konzerte, Lesungen und Diskussionsrunden. Es gebe viele Möglichkeiten, um den Boden, auf dem Demokratie gedeihen könne, zu bewässern und den Boden, auf dem Hass, Hetze und Rassismus gedeihen, auszutrocknen, sagte Wollenberg bei der Verleihung des Deutschen Engagementpreises 2023, den sie in der Kategorie „Demokratie stärken“ für das Bürgerbündnis entgegennahm.

Demokratie lebt von Beteiligung.

Fotostrecke

Ein Ort, mehrere Zeitpunkte. Der US-Fotograf Pelle Cass schafft halb dokumentarische, halb kompositorische Bilder, indem er an belebten Orten oder Sportplätzen tausende Bilder mit dem gleichen Ausschnitt aufnimmt und eine Auswahl anschließend übereinander montiert. So entsteht ein anarchisches Durcheinander, in dem jeder sein eigenes Spiel zu verfolgen scheint.

Vertrauen in die Demokratie sinkt

Wie nötig es ist, die Demokratie zu stärken, zeigt eine Umfrage der Körber-Stiftung: Gerade mal 9 Prozent der Befragten gaben 2023 an, Vertrauen in die Parteien zu haben. 2021 waren es immerhin noch 20 Prozent. Und ganze 54 Prozent hatten 2023 wenig oder nur geringes Vertrauen in die deutsche Demokratie. Zwei Jahre zuvor hatten lediglich 30 Prozent dieser Aussage zugestimmt. „Das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie und ihre Institutionen ist auf einer abschüssigen Bahn. Zusammen mit wirtschaftlichen Sorgen der Menschen ist das eine beunruhigende Entwicklung“, sagt Sven Tetzlaff, Leiter des Bereichs Demokratie, Engagement, Zusammenhalt der Körber-Stiftung.

Wie kommt es zu dieser Vertrauenskrise der Demokratie? Gert Pickel, Professor an der Uni Leipzig, sieht eine wesentliche Ursache dafür in den zahlreichen Konfliktherden. „Die aktuellen Krisen, also insbesondere der Klimawandel, der Ukraine-Krieg und der Konflikt im Nahen Osten, wirken sich auf die demokratischen bzw. antidemokratischen Tendenzen aus“, sagte Pickel bei der Vorstellung des Berlin-Monitors 2023.

Bereits zum dritten Mal hatten er und seine Mitautoren über 2.000 in Berlin lebende Menschen nach ihrer Einstellung zu Demokratie, Politik und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen befragt. „Seit 2019 sind die Ablehnung von und Vorbehalte gegenüber politischen Parteien sowie die Zustimmung zu rechtsautoritären Überzeugungen sichtbar angewachsen“, stellt Pickel fest. Neben den großen Krisen gibt es noch einen weiteren, etwas handfesteren Grund für dieses antidemokratische Potenzial: wirtschaftliche Unzufriedenheit.

»Die Verknüpfung von Demokratie und Wohlstand wurde zu einem verlässlichen demokratischen Stabilitätsanker.«

Den Zusammenhang zwischen Demokratie und wirtschaftlichem Wohlstand stellt auch der Politologe Herfried Münkler in seinem Buch „Die Zukunft der Demokratie“ heraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei der demokratische Konsens in der westlichen Welt von der stabilen Wirtschaft getragen worden. „Die Erfahrung einer kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung und eines beständig steigenden Wohlstandsniveaus verband sich mit der Vorstellung, dies habe wesentlich mit der Demokratie zu tun, und diese Verknüpfung von Demokratie und Wohlstand wurde so zu einem verlässlichen demokratischen Stabilitätsanker.“

Nichts verpassen!

In tiefer Umarmung: Es tut gut, anderen Menschen Dankbarkeit zu zeigen.

Mit unserem Newsletter „Prinzip Apfelbaum“ verpassen Sie keine Ausgabe. Wir senden Ihnen regelmäßig Anregungen, Rat und Service – kostenlos per E-Mail in Ihr Postfach.

Jetzt kostenfrei anmelden!

Keine Garantie für Wohlstand

Doch spätestens mit der globalen Finanzkrise, die 2008 mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers begann, wurde klar, dass die demokratische Ordnung keine Garantie für verlässlichen Wohlstand ist. „Aus der zeitweiligen Stütze der Demokratie wurde durch den Übergang von Wohlstandssteigerung zu Wohlstandseinbußen eine Schwächung der Demokratie.“ Auch die Erwartung, in europäischen Demokratien für immer in Frieden leben zu können, wurde durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 tiefgreifend erschüttert. Je länger der Krieg dauert, desto größer wird Münkler zufolge die Angst, dass wachsende Rüstungsausgaben und steigende Inflation die Entwicklung des Wohlstands weiter ausbremsen könnten.

Befördert würden solche Ängste unter anderem durch das Internet und allabendliche Talkshows. Weil dort eher diffuse Probleme herangezoomt würden, erschienen sie als besonders bedrängend und dramatisch. „Man muss sich Sorgen machen, so die Grundbotschaft der Talkshows. Nur die Uninformierten und Ahnungslosen machen sich keine Sorgen“, schreibt Münkler.

Wenn jeder nur sein eigenes Spiel verfolgt, funktioniert es nicht.

Was hilft: sich richtig zu informieren

Was die Demokratie brauche, seien deshalb sachkundige Bürgerinnen und Bürger. „In der liberalen Demokratie tritt die Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger an die Stelle der in autoritären Regimen herrschenden Kontrolle und Zensur der Nachrichtenverbreitung.“ Die Menschen müssten in die Lage versetzt werden, systematische Falschinformationen und im Internet vagabundierende Fake News identifizieren zu können „An der Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger, an ihrer Fähigkeit, Wahrheit und Lüge in nichtkuratierten Medien, zumal im Internet, zu unterscheiden, hängt die Zukunft der Demokratie.“

Ebenso wichtig ist, dass sich mehr Menschen politisch engagieren. Anders als das gesellschaftliche Engagement ist das genuin politische Engagement im Verlauf der letzten Jahre deutlich zurückgegangen, stellt Münkler fest. Viele Menschen hätten eine konsumistische Erwartungshaltung an die Politik, die allein danach frage, ob die Politik geliefert habe. Die Demokratie brauche hingegen aktive Bürgerinnen und Bürger, die teilhaben wollen an der Gestaltung der Verhältnisse, in denen sie leben.

»Viele Menschen haben eine konsumistische Erwartungshaltung an die Politik, die allein danach fragt, ob die Politik geliefert hat.«

Das muss nicht immer in den etablierten Parteien und Organisationen sein. Denkbar sind auch neue Partizipationsmöglichkeiten, die dazu einladen, sich politisch zu engagieren. Vor allem auf der kommunalen Ebene mit ihren vergleichsweise überschaubaren Problemen und Lösungen sei es wichtig, die Menschen stärker in Entscheidungen einzubeziehen. Wer aktiv werde und sich beteilige, erlebe ganz automatisch die Realität politischer Prozesse und entwickle dabei politischen Sachverstand.

Wertschätzung durch Engagement

Kein Wunder also, dass mit Bürgerbeteiligung und ehrenamtlichem Engagement auch mehr Wertschätzung der Demokratie einhergeht. So zeigt eine Umfrage des Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung (zze) und des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem vergangenen Jahr: 70 Prozent der Engagierten mit einem Amt oder einer festen, langfristigen Aufgabe sind mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Vor allem erleben sie im Vergleich zu Nicht-Engagierten deutlich seltener Gefühle politischer Ohnmacht. Es gehe um die für das Systemvertrauen so essenzielle Erfahrung, das Gemeinwesen mitgestalten zu können, meint Thomas Klie vom zze. Und das sei gerade in Krisenzeiten besonders wichtig.

Dass man im Kleinen Großes bewirken kann, haben Irene Wollenberg und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter von „Steele bleibt bunt“ selbst erlebt. Denn ihre jahrelangen Gegenkundgebungen hatten Erfolg: Sie haben die rechten Aufmärsche der „Steeler Jungs“ zurückgedrängt.

TEXT: Kristina Simons
FOTO: Pelle Cass

Zum Weiterlesen

Herfried Münkler: Die Zukunft der Demokratie. Herfried Münkler analysiert die inneren und äußeren Bedrohungen der Demokratie, um daraus Vorschläge und Strategien für ihre Zukunft zu entwickeln. Erschienen bei Brandstätter 2022