No. 22 – NOSTALGIE

Menschen

"Wenn ich Benny Goodman höre, kommen mir manchmal die Tränen."

Ihre Auftritte sind wie eine Reise mit der Zeitmaschine. Andrej Hermlin und seine Band The Swingin' Hermlins spielen die Swing Musik aus dem Amerika der 30er Jahre. Die Instrumente, Mikrophone, Pulte, Anzüge und Frisuren, alles ist im Stil der Zeit. Ein Gespräch über die Faszination der 30er Jahre, zwischen Eleganz und Katastrophe.

Andrej Hermlin möchte „schöne Dinge ins Heute teleportieren“.

Der Pianist und Bandleader Andrej Hermlin saß bereits als kleiner Junge gebannt vor dem Lautsprecher, wenn sein Vater, der Schriftsteller Stephan Hermlin, eine Benny Goodman-Platte auflegte. Der Berliner studierte Klavier an der Hanns Eisler Hochschule für Musik, doch den Swing brachte er sich größtenteils selbst bei. 1986 gründete Hermlin seine erste Band und spielt seitdem den Sound der Swing Ära, so authentisch wie möglich. Der 57-Jährige trägt auch privat immer einen stilechten Anzug.

Was ist Swing für Sie, warum ist diese Musik Ihnen so wichtig?

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Restaurant und hören die übliche Musik, die da gespielt wird. Plötzlich verirrt sich in die Playliste eine Aufnahme von Frank Sinatra mit Tommy Dorsey. Der Raum verwandelt sich. Es ist immer noch der gleiche Raum, aber er sieht vollkommen anders aus. Das ist das, wonach ich suche.

Was ist das für ein Lebensgefühl, dass da mitschwingt?

Das ist eine Mischung aus Fröhlichkeit und Trauer, sehr viel Eleganz oder Zuneigung zum Schönen. Ich habe immer das Schöne geliebt, das Hässliche hat mir nicht so viel bedeutet, auch wenn es zum Leben dazugehört. Manchmal glaube ich, dass ich gar nicht in die heutige Zeit gehöre, dass ich eigentlich aus einer anderen Zeit komme. Andererseits lebe ich natürlich im Hier und Jetzt und interessiere mich ja auch für Geschehnisse dieser Zeit.

Andrej Hermlin mit seiner neuen Band, den Swingin’ Hermlins.
»Unsere Band will die Musik so authentisch wie möglich präsentieren.«

Warum legen Sie soviel Wert auf Authentizität? Wie wäre es, Swing mit modernen Einflüssen zu vermischen?

Warum sollte ich einen guten Wein mit Coca Cola vermischen? Unsere Band will die Musik so authentisch wie möglich präsentieren, ohne sie in ein Museum zu verwandeln. Wir spielen auch eigene Titel und schreiben eigene Arrangements, aber mit der Sprache der 30er Jahre. Swing Musik war nie wieder besser als in den Jahren zwischen 1933 und 1941. Was danach kam, war ein Abstieg, in jeder Hinsicht. Es war weniger originell, weniger leidenschaftlich, weniger schön gespielt, überproduziert. Ich bin überzeugt, dass diese Musik die größte Wirkung entfaltet, wenn man sich dem Idiom der 30er Jahre annähert. Das Wichtigste ist für mich aber, dass Benny Goodman nicht vergessen wird.

Aber seine Musik wird doch immer noch häufig gespielt.

Wenn sie heute Bands sehen, stehen da 50 Mikrophone auf der Bühne und es werden unendliche Soli gespielt, die aber nichtssagend sind. Das ist nicht, was ich unter Swing Musik verstehe. Mir ist eine ganz kleine, vielleicht sogar amateurhafte Swing Band tausendmal lieber als eine perfekt geprobte Big Band. Wenn ich diese modernen Big Bands höre, empfinde ich Eiseskälte. Ich denke, ich sitze im Gefrierhaus. Aber Sie sehen ja, wenn ich Benny Goodman höre, dann breche ich wirklich manchmal in Tränen aus, weil es so schön ist. Das kann man nicht erklären, das kann man nur fühlen.

Andrej Hermlin mit seiner Familie am Klavier.

Andrej Hermlin mit seiner Familie

Während des ersten Corona-Lockdowns haben Sie begonnen, jeden Abend ein Konzert im Internet zu spielen. Ihre Sendungen haben vielen Menschen durch die schwere Zeit geholfen.

Das hat diese Musik ja schon einmal getan. In den 30er Jahren während der Großen Depression in den USA haben sich die Leute den letzten Cent abgespart, um einen Film zu sehen, in dem Fred Astaire und Ginger Rogers in diesen wunderschönen Traumkulissen tanzen. Kino und Musik halfen ihnen, für einen Moment das Elend zu vergessen, in dem sie leben mussten. Während der Lockdowns haben wir von vielen Menschen Nachrichten gekriegt, die alle irgendwie gleich waren: Wir haben keine Hoffnung mehr, wir haben nur noch euch.
Wir haben uns mit der Sendung aber auch selbst gerettet. Ich weiß nicht, was ohne diese Sendung aus mir geworden wäre. Es wäre furchtbar geworden, wie es bei vielen Künstlern während der Pandemie furchtbar geworden ist, die plötzlich allen Lebens beraubt waren. Die Politik ging ja davon aus, dass ein Land durch Baumärkte und Gartencenter zusammengehalten wird und nicht durch Konzerte oder Theater.

Die Konzerte fanden und finden hier in diesem Zimmer statt, oder?

Ja, richtig. Das ist übrigens ein historisches Zimmer. Hier nahm die Biermann-Affäre 1976 ihren Anfang. Mein Vater, Stephan Hermlin, hatte nach der Ausbürgerung den Text der Protestpetition geschrieben. Und in diesem Zimmer fand das Treffen der Erstunterzeichner statt, darunter Stefan Heym, Christa Wolf. Manche sagen, dass mit der Ausbürgerung Biermanns und den Protesten dagegen das Ende der DDR begann. Also, hier fing alles an, in diesem Raum.

Andrej Hermlin zuhause an seinem Flügel.

Auf dem Flügel: Fotos aus einer versunkenen Welt

Andrej Hermlin ist wieder in das Haus gezogen, in dem er aufgewachsen ist, das Haus seines Vaters. Das Zimmer im Erdgeschoss ist ganz im Stil der 30er Jahre eingerichtet: An der Wand steht ein schwarzer Wohnzimmerschrank mit verchromten Leisten und runden Ecken. Wir sitzen auf geschwungenen Ledersesseln, vor uns zwei Ausgaben des US-Männermagazins „The Esquire“ von 1937 und 1938. Andrej Hermlin hat zu jedem Möbelstück viel zu erzählen. Ebenso zu den Bildern, die an den Wänden hängen. Zwei davon zeigen seine Großmutter und sind von Max Liebermann, mit dem das jüdische Unternehmer- und Kunstsammlerpaar David und Lola Leder befreundet war.

Ihr Vater emigrierte nach Palästina, auch Ihre Großeltern retteten sich ins Ausland. Die Auslöschung des jüdischen Lebens in Deutschland ist für Sie auch ein persönlicher Verlust. Was konnten Sie bewahren?

Es ist eine versunkene Welt. Von den Dingen, die meine Großeltern besaßen, ist relativ wenig übrig geblieben. Ich bin ja nur mit meiner Mutter und meinem Vater aufgewachsen. Und je älter ich werde, desto mehr stelle ich fest, dass ich eigentlich wenig darüber weiß, wo ich herkomme und was war. Vieles ist vergessen und man kann niemanden mehr fragen.
An meine Großmutter habe ich nur eine einzige Erinnerung und das ist ein Telefonat mit ihr. Da war sie 84, also ein Jahr vor ihrem Tod. Mein Vater reichte mir den Hörer und ich sagte, Großmutter, du klingst gar nicht wie 84, du klingst wie 48. Daraufhin fing sie furchtbar an zu lachen. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Und deswegen sitze ich manchmal im Esszimmer und schaue auf die beiden Bilder an der Wand und denke, jetzt ist sie wieder zuhause.

»Es geht nicht darum, die alten Zeiten zu romantisieren, sondern sich das herauszusuchen, was man schön findet.«

Haben Sie dennoch ein wenig Sehnsucht nach den dreißiger Jahren?

Ich nehme aus der Zeit nur das, was mir gefällt. In mancher Hinsicht habe ich natürlich keine Sehnsucht nach den Dreißigern: Wenn ich in Deutschland gelebt hätte, hätte ich das wahrscheinlich nicht überlebt. Und in Amerika war das eine Zeit furchtbarer Depressionen, im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne. Aber es war eben auf der anderen Seite eine Zeit, in der alles zusammen kam: großartige Architektur, großartiges Design, großartige Musik, großartige Mode und Kunst.

Welche Rolle spielt die stilechte Kleidung bei ihren Konzerten?

Ich glaube, dass man Musik nicht nur hört, sondern auch sieht. Ich halte es also für einen ganz großen Irrtum, Swing Musik zu spielen und dann mit Jeans und T-Shirt auf die Bühne zu gehen. Das macht die Sache meiner Meinung nach kaputt. Für uns auf der Bühne ist 1937. Das betrifft die Kleidung, das betrifft die Frisuren, das betrifft die Pulte, das betrifft die Instrumente, aber auch die Aufführungspraxis.

Etwas nostalgisch: Andrej Hermlin im Anzug auf dem Fahrrad.

"Das Bügeln kann einen doch nicht davon abhalten, ein Hemd zu tragen."

Verändert die Kleidung auch, wie man sich bewegt?

In meiner Band spielen ja auch meine Kinder: Rachel singt und David spielt Schlagzeug und singt. Und zumindest David und ich tragen auch privat Anzug. Trotzdem bewegt sich David viel eleganter als ich. Er ist eben ein junger Mann, der sich gut bewegen kann und einen unheimlichen Charme hat. Ich kann mich anziehen, wie ich will, ich werde neben ihm immer wie ein leicht verkrampfter, blöd grinsender Mensch aussehen. Das kann ich leider auch nicht ändern (Hermlin lacht). Das muss ich neidlos anerkennen.

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Sie tragen diese Sachen ausnahmslos immer?

Ich habe gar nichts anderes. Wenn ich Fahrrad fahre, trage ich Anzug. Und wenn ich in im Dorf Kenia bin, trage ich auch nichts anderes. Warum auch? Die Leute wundern sich immer. Aber warum eigentlich? Was ist denn der Unterschied zwischen einem T-Shirt und einem Hemd?

Das Hemd muss man bügeln, das T-Shirt nicht.

Das Bügeln kann einen doch nicht davon abhalten, ein Hemd zu tragen. Und ganz ehrlich, ein völlig zerknautschtes T-Shirt wollen sie ja vielleicht auch nicht tragen. Ich habe mir vor ein paar Jahren mal eine Jeans gekauft: unbequem, schwerer Stoff, eng. In einem Anzug ist man gut angezogen, ja, aber es ist auch sehr viel angenehmer.

»Ich bewege mich, wie ich will, zwischen den Zeiten hin und her.«

Ist Nostalgie mit einem pessimistischen Blick auf die Gegenwart verbunden?

Wir sind heutzutage von Belanglosigkeit und Trivialität umgehen. Aber ich bin überhaupt nicht pessimistisch. Ich denke, das wird sich auch wieder ändern. Ich will auch nicht die gute, alte Zeit gegen das hässliche Heute ausspielen. Es gibt auch heute schöne Dinge. Ich lebe ganz gerne in der heutigen Zeit, mit ihren vielen Annehmlichkeiten, die es damals nicht gab. Es geht nicht darum, die alten Zeiten zu romantisieren, sondern sich das herauszusuchen, was man schön findet und es in die heutige Zeit zu teleportieren. Es gibt ja Menschen, die hineintauchen in eine andere Welt und nicht mehr zurückkehren wollen. So geht es mir nicht.

Sind Sie ein nostalgischer Mensch?

Ich fühle mich nicht nostalgisch. Ich versuche, so zu leben, wie ich möchte. Also, mich mit den Dingen zu umgeben, die mir gefallen, und die Musik zu spielen, die ich liebe. Für mich ist diese Zeit nicht vergangen. Ich bewege mich, wie ich will, zwischen den Zeiten hin und her.

Würde ein bisschen mehr Nostalgie uns allen gut tun?

Das weiß ich nicht. Schlimm ist es, wenn ein Mensch ein falsches Leben lebt. Weil die Eltern vielleicht gesagt habe, du sollst das und das werden. Oder weil er vielleicht Angst hatte, sich einen Traum zu erfüllen. Oder weil er einfach nur Pech hatte. Ich glaube, dass sehr viele, vielleicht sogar die meisten Menschen nicht das Leben leben, das sie eigentlich wollten. Und ich habe immer das Gefühl, ich habe nicht nur meine Träume erfüllt. Für mich haben sich sogar Träume erfüllt, die ich gar nicht hatte. Wenn mir jemand gesagt hätte, du wirst in 40 Jahren in New York im Rainbow Room spielen, dann hätte ich gesagt, geh zum Arzt.

Zum Reinhören

Tourdaten und einige Songs der Swingin‘ Hermlins finden sich auf ihrer Webseite https://theswinginhermlins.de/.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: Guenther Schwering, Uwe Hauth