Ratgeber

No. 22 – NOSTALGIE Madeleines - Auslöser des Proust Phänomens

Geruch: Der Proust-Effekt

Kein anderer Sinn löst so starke Erinnerungen aus wie der Geruch. Wenn wir einen altbekannten Duft riechen, steigen Bilder und Gefühle ins uns auf, die schon lange vergessen waren. Psychologen sprechen vom „Proust Phänomen“. Allerdings gilt auch: Wer nicht gut riechen kann, erinnert sich eventuell schlechter.

In einer berühmten Szene in Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ tunkt der Erzähler eine Madeleine in seinen Tee. Als das Gebäck seinen Gaumen berührt, „zuckte er zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in ihm vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand, hatte ihn durchströmt.… Und dann mit einem Male war die Erinnerung da.“

Der Duft von Kaffee

Den sogenannten „Proust-Effekt“ kennen die meisten Menschen. Ob das Parfum der Mutter, der Geruch der kuscheligen Bettwäsche bei den Großeltern, ein sommerlicher Birkenhain, Sonnencreme oder Kerzenwachs in der Vorweihnachtszeit – Gerüche können besonders lebendige Erinnerungen in uns auslösen. Für Elisabeth Kurig ist es der Duft von Kaffee, der sie an die bittere Zeit der Nachkriegsjahre erinnert, als das erste CARE-Paket in ihrer Familie eintraf. „Meine Mutter war schwer krank. Sie gesundete aber, als mein Vater den ersten Kaffee aus dem CARE-Paket kochte. Es war der Geruch. Es roch nach Neuanfang“, berichtet sie von dieser prägenden Kindheitserinnerung.

Gerüche können uns in die Vergangenheit zurückversetzen.

Eng verbunden: Nase, Gefühle und Erinnerungen

Natürlich können uns auch Geräusche und Bilder in alte Zeiten zurückversetzen. Aber die vom Geruchssinn ausgelösten Erinnerungen beeindrucken uns tiefer und intensiver. Sie sind häufig mit starken Gefühlen verbunden und können weit in die frühe Kindheit zurückreichen. Unsere Nase „ist unmittelbar in unser limbisches System eingebettet und hat einen direkten Draht zur Amygdala, jenem winzigen Gehirnareal, in dem Gefühle ausgelöst und Erinnerungen gespeichert werden“, schreibt Bill Hansson, Direktor des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie in seinem Buch „Die Nase vorn“. Damit nicht genug. „Die Geruchsinformation wird anschließend nur an den Hippocampus weitergeleitet“, erklärt Hansson. In diesem Bereich bilden sich Erinnerungen und werden Erlebnisse verarbeitet. Der Geruch ist damit der einzige Sinn, der über diese direkte Verbindung im Gehirn verfügt.

Über diese Verbindung werden aber nicht nur gute, sondern auch schlechte Erinnerungen gespeichert und durch Gerüche wieder hervorgerufen. Das kann ein bestimmtes Parfüm sein, das an eine unglückliche Beziehung erinnert. Beim Geruch von Kohle denkt man vielleicht an ein schlecht geheiztes Zimmer. Wirklich schlimm ist die Situation für Menschen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. So kann zum Beispiel der Geruch von Benzin bei ehemaligen Soldaten ein altes Trauma auslösen. Sie erleben die Kampfhandlungen dann so intensiv, als wären sie wieder mittendrin.

Der Geruchssinn lässt sich trainieren.

Überlebenswichtig

Der Geruchssinn ist älter als das Hören und das Sehen und war in der Evolution des Menschen eminent wichtig. Er warnte vor Feuer und Rauch, vor verdorbenem Essen, aber auch vor kranken Artgenossen. Wer sich einmal wegen eines faulen Fisches, einer vergorenen Melone oder eines Pilzgerichtes übergeben hat, behält oft eine lebenslange Abneigung gegen den Geruch bzw. das Lebensmittel.

Der Geruchssinn spielt möglicherweise auch bei der Partnerwahl eine Rolle. Vor über 25 Jahren zeigte erstmals der Schweizer Biologe Claus Wedekind, dass Frauen den Körpergeruch von Männern mit Immun-Genen bevorzugen, die von ihren eigenen abweichen. Es könnte ein evolutionsbiologischer Vorteil sein, wenn Kinder aus einer solchen Verbindung sehr verschiedene Immun-Gene besitzen und damit eine größere Widerstandskraft gegen Krankheiten haben. Dass Menschen sich allein nach dem Geruch für jemanden entscheiden, ist umstritten. Schließlich haben bei der Partnerwahl auch andere Faktoren eine Bedeutung, gibt der Biologe Bill Hansson zu bedenken. Aber egal, ob die Theorie stimmt oder nicht – wer den Partner oder die Partnerin gut riechen kann, hat sicherlich mehr Freude an ihr oder ihm.

Die Nase trainieren

Wer allerdings schlecht riecht, kann sich möglicherweise auch schlechter erinnern. Dass die Nase vorübergehend schwächelt, kennen die meisten, etwa bei Erkältungen oder bei Atemstörungen. Der Geruchssinn kann aber auch dauerhaft durch Krankheit und Tabakrauch geschädigt werden oder im Alter nachlassen. Glücklicherweise lässt sich der Riechsinn bewusst trainieren. Dazu eignen sich intensive Gerüche wie zum Beispiel Rose, Zitrone, Gewürznelke und Eukalyptus, an denen man zweimal pro Tag über mehrere Monate schnuppern sollte. Später können auch feinere Düfte hinzukommen. So lässt sich die Nase wieder in Schwung bringen – und damit auch der Zugang zu wichtigen emotionalen Erinnerungen erhalten.

Zum Weiterlesen

Bill Hansson: Die Nase vorn: Eine Reise in die Welt des Geruchssinns. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie gibt Einblick in die Welt der Gerüche: vom Orientierungssinn, über den Duft von Neugeborenen, bis zur Geruchswelt unserer ungewaschenen Vorfahren. Erschienen im S. Fischer Verlag, 2021.

TEXT: Angelika Friedl
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