Editorial
Manchmal wird Zeit sichtbar. Es ist verblüffend, wenn man zu einem Klassentreffen fährt und nach 20, 30 Jahren wieder in die altbekannten Gesichter schaut. Die ehemaligen Schulfreunde sind nicht mehr die aus der Erinnerung. Sie sind wie wir – ergraut und faltig. Bei dem einen oder anderen ist ein neuer Gesichtszug dazugekommen, etwas müder, vielleicht etwas sorgenvoller. Doch auch wenn die Zeiten ihre Spuren hinterlassen haben, im Kern blickt einem derselbe Mensch entgegen. Das wohlbekannte Blitzen in den Augen, das alte Lächeln sind geblieben. Und ganz schnell ist man gemeinsam in den alten Zeiten: „Weißt Du noch…?“
Es stimmt, nicht jede Erinnerung an damals ist schön. Dennoch ist die Zeit wie ein freundlicher Weichzeichner. Auch schmerzvollere Erlebnisse verlieren meist an Schärfe. Über manche Feindschaft oder Rivalität von damals können wir heute gemeinsam lachen. Verklärt blicken wir zusammen zurück auf die Schulzeit, tauschen Anekdoten aus und helfen unserem Gedächtnis gegenseitig auf die Sprünge.
Solche nostalgischen Momente tun gut. Sie geben uns ein Gefühl der Geborgenheit, zeigen uns, wo wir herkommen und wer wir einmal waren. Für einen Moment fallen wir aus der Zeit und schauen von oben, aus der Vogelperspektive auf das pralle Leben und uns selbst. Und können erkennen, was uns schon immer angetrieben hat und was uns wirklich wichtig ist im Leben. Was wir schützen und bewahren wollen – über die Zeit hinaus.
Susanne Anger
Sprecherin der Initiative "Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum"
Zum Titelbild
Als einer wichtigsten Fotografen der DDR hat Harald Hauswald den sozialistischen Alltag festgehalten, voller Witz und Empathie. Das Titelbild hat er 1986 in Eythra aufgenommen. Das Dorf südlich von Leipzig musste Anfang der 80er Jahre dem Braunkohleabbau weichen.
Die Vorratskammer im Kopf
Nostalgie galt noch im frühen 20. Jahrhundert als Krankheit. Inzwischen weiß man: Wir wärmen uns an schönen Erinnerungen. Nostalgie steigert das Selbstwertgefühl, zeigt uns, was im Leben wirklich wichtig ist, und verbindet uns mit anderen Menschen. Der verklärte Blick zurück kann sogar körperliche Schmerzen lindern.
Weiterlesen...Früher war alles besser? Von wegen!
In den 80er Jahren gab es das Waldsterben und die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Auch ein atomarer Weltkrieg schien jederzeit möglich. Trotzdem sagen viele Menschen, dass damals „alles“ besser war. Doch ist heute wirklich alles schlechter? Warum es sich lohnt, die Perspektive zu wechseln.
Weiterlesen...Unsere Lieblinge
Lesetipp
Eine fiktive Kleinstadt in Norddeutschland – hier treffen sich die drei Geschwister Katja, Leon und Milena nach dem Tod der Mutter, um den Haushalt aufzulösen. Zurück in dem Haus, in dem sie aufgewachsen sind, führen Erinnerungsstücke wie ein Rezept für Weihnachtskekse zurück in die Vergangenheit. Es geht um Heimat und Lebenskrisen, denn alle drei Geschwister hadern mit ihrer derzeitigen Lebenssituation. Wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Wie viel Mut braucht es, neu anzufangen? Volker Jarck erzählt berührend und sehr ironisch von den großen und kleinen Dramen, mit einem scharfen Blick für die Details, die das Leben ausmachen.
Volker Jarck: „Robuste Herzen“. S. Fischer Verlag, 2022. 363 Seiten. 22 Euro
Das Zitat
Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.
JEAN PAUL
1763–1825, Schriftsteller
Ideen, die bleiben
Handicap International
In thailändischen Flüchtlingslagern liegen Anfang der 1980er Jahre Hunderte von Geflüchteten aus Kambodscha, die durch Minen schwer verletzt worden sind. Vier französische Ärztinnen und Ärzte, Jean-Baptiste und Marie-Eve Richardier, Marie Roux und Claude Simonnot, sehen die Not und wollen helfen. 1982 gründen sie die Hilfsorganisation Handicap International. Ein wichtiger Grundsatz ist dabei Selbstständigkeit. Für die Betroffenen entwickeln sie Prothesen aus Bambus, Leder und Holz, die vor Ort günstig hergestellt und repariert werden können.
Doch die Zahl der Minenopfer steigt in den darauffolgenden Jahren weiter an. Handicap International beschließt, über die humanitäre Hilfe hinaus zu handeln, und startet zusammen mit fünf weiteren Organisationen eine internationale Kampagne. Mit Erfolg: 1997 wird das Ottawa-Abkommen unterzeichnet, das Anti-Personen-Minen verbietet. Die Beteiligten der Kampagne werden mit dem Friedensnobelpreis geehrt.
Aus der lokalen Hilfe für Minenopfer ist mittlerweile eine große, internationale Hilfsorganisation geworden. Handicap International setzt sich heute in rund 60 Ländern für Menschen mit Behinderungen ein – für eine Welt der Solidarität und Inklusion.
Handicap International ist Mitglied der Initiative „Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum“. Mehr lesen
10–30
Die Zahl
Die Gedächtnisforschung spricht von einem Erinnerungshügel oder „reminiscence bump“. Bezeichnet wird damit der große Haufen an Erinnerungen, die sich zwischen unserem 10. und 30. Lebensjahr ereignet haben und an die wir uns auch in hohem Alter noch erinnern können. Denn was auch immer es war – der erste Kuss, eine gefährliche Situation, kleinere und größere Schicksalsschläge – was sich in diesem Lebensalter ereignet, brennt sich in unser Gedächtnis ein. Auch wenn später die allgemeine Gedächtnisleistung langsam nachlässt, diese Erinnerungen bleiben.
Schon gewusst?
Anspruch auf den Pflichtteil
Nahe Verwandte wie Ehepartner und Kinder erben normalerweise selbst dann, wenn sie im Testament nicht erwähnt wurden. Im Fall, dass sie im Testament explizit von der Erbschaft ausgeschlossen oder zu gering bedacht werden, haben sie zumindest einen Anspruch auf den Pflichtteil. Dieser Pflichtteil entspricht der Hälfte des gesetzlichen Erbes, den Ehepartner und Kinder erhalten würden, wenn es kein Testament gäbe. Er richtet sich damit zum einen nach dem Wert des Nachlasses, zum anderen nach dem ehelichen Güterstand und der Anzahl der Kinder. Im Fall, dass die Kinder nicht mehr leben, geht der Anspruch auf einen Pflichtanteil über auf die Enkel und Urenkel oder auf die Eltern der verstorbenen Person. Der Anspruch für Ehepartner entfällt bereits, sobald ein Scheidungsantrag eingereicht wurde. Nur in seltenen Fällen kann der Pflichtteil auch entzogen werden – etwa, wenn man sich eines schweren Vergehens gegen die verstorbene Person oder ihr Nahestehende schuldig gemacht hat. Die gute Nachricht: Wer das Geld für einen guten Zweck hinterlassen möchte und sich mit seinen Erben und Erbinnen einig ist, kann noch zu Lebzeiten mit diesen einen Verzicht auf die Pflichtteile vereinbaren und dies notariell beglaubigen lassen.
Das tut gut