Die Vorratskammer im Kopf
Nostalgie galt noch im frühen 20. Jahrhundert als Krankheit. Inzwischen weiß man: Wir wärmen uns an schönen Erinnerungen. Nostalgie steigert das Selbstwertgefühl, zeigt uns, was im Leben wirklich wichtig ist, und verbindet uns mit anderen Menschen. Der verklärte Blick zurück kann sogar körperliche Schmerzen lindern.
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Sommer 2022, ein Konzert in Berlin. Es wird langsam dunkel, endlich öffnet sich der Vorhang, die Musiker kommen auf die Bühne. Sie sind etwas in die Jahre gekommen, der eine hat ein kleines Bäuchlein, der andere schütteres Haar, die Tanzschritte sind nicht mehr ganz so frisch. Auch das Publikum ist schon etwas älter, es singt aus vollem Halse mit. Die alten Hits versetzen die Zuschauer in eine andere Zeit, in die eigene Jugend, als sie vielleicht die erste große Liebe und aufregende Partys erlebten. Denn darum geht es bei dem Jubiläums-Konzert: Jedes Lied wirkt wie ein Glückshormon, das das Publikum in nostalgische Schwärmerei versetzt.
Es tut gut, hin und wieder in Gedanken in die Vergangenheit zu reisen, verklärt und sentimental auf vergangene Sommer zurückzublicken, an Erlebnisse mit Jugendfreunden oder an das wohlige Gefühl von Geborgenheit, wenn man als Kind die Großeltern besuchte. Man kann sich sogar nach vergangenen Zeiten sehnen, die man selbst nie erlebt hat, sondern nur aus Filmen, Bildern oder der Literatur kennt.
Gleichzeitig schmerzt diese Reise ein wenig. „Bittersüß ist die Nostalgie“, sagt der niederländische Psychologe Tim Wildschut, der an der Universität Southampton zur Nostalgie forscht. Süß, weil man mit der Nostalgie zumeist positive Erinnerungen ansteuert. Bitter, weil diese schönen Momente für immer vergangen sind.
Bittersüß: Manchmal schmerzt die Erinnerung.
In seinen Erhebungen stellte Wildschut fast, dass die Mehrheit der Erwachsenen mindestens einmal in der Woche nostalgisch wird. Zudem neigt man eher zur Nostalgie, wenn man in der Gegenwart etwas Negatives erlebt. Eine Reise in die Vergangenheit kann dann dazu dienen, Trost zu spenden und ein gutes Gefühl zu erzeugen. Die meisten Menschen denken dabei an Begegnungen, an Freundschaften, an die Familie oder an Schulkameraden. Es sind also nicht so sehr bestimmte Ereignisse, sondern viel mehr die sozialen Bindungen, die bei der Nostalgie eine Rolle spielen.
»Die Mehrheit der Erwachsenen wird mindestens einmal in der Woche nostalgisch.«
Von Populisten instrumentalisiert
Tatsächlich aber wird Nostalgie gerne als sentimentale Gegenwartsflucht abgetan, als konservative Rückwärtsgewandtheit. Und auch populistische Bewegungen instrumentalisieren häufig nostalgische Gefühle. So ließen beispielsweise die Befürworter des Brexits die Erinnerung an ein altes, starkes Großbritannien wiederaufleben, als das Land noch eine mächtige Kolonial- und Seemacht war. Auch der ehemalige US-Präsident Donald Trump versprach seinen Wählern, Amerika wieder stark zu machen – so stark wie es vermeintlich einmal gewesen war.
Jahrhundertelang galt Nostalgie sogar als Krankheit. Eine erste systematische Untersuchung führte Ende des 17. Jahrhunderts der Schweizer Medizinstudent Johannes Hofer durch, der auch den Begriff Nostalgie prägte. Hofer befragte Schweizer Söldner, die sich in der Ferne verdingten. Zumeist kamen sie aus armen Verhältnissen, sprachen keine anderen Sprachen und fühlten sich fremd und einsam. Hofer attestierte diesen Söldnern eine Nervenkrankheit und stellte eine zwanghafte Sehnsucht nach der Heimat fest, die Appetitlosigkeit, Herzrasen, Schlaflosigkeit und Angstzustände hervorrufe.
Die meisten Menschen denken an Begnungen, an Freundschaften und die Familie.
Auch nach Hofer betrachteten noch eine ganze Reihe von Medizinerinnen und Psychologen die Nostalgie als ein psychisches Leiden ähnlich der Melancholie oder der Depression. Erst in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckte die Forschung, dass Nostalgie nicht nur positive Gefühle verursacht, sondern auch gezielt als Strategie genutzt werden kann, um durch herausfordernde Zeiten zu kommen.
Funktionen von Nostalgie
Der Psychologe Tim Wildschut und sein Kollege Constantine Sedikies unterschieden drei Funktionen der Nostalgie. Zum einen hilft sie, sich im eigenen Leben zu orientieren und dadurch das Selbstbewusstsein zu stärken. In einer herausfordernden Situation tut es beispielsweise gut, sich an Begebenheiten zu erinnern, die man bereits gemeistert hat. Nach dem Motto: Alles wird gut. Du hast das schon einmal geschafft und wirst es wieder schaffen. Zudem schärft Nostalgie den Blick für die eigene Sinnhaftigkeit, indem sie einen roten Faden im Leben erzeugt. Denn in der Rückschau zeigt sich, dass wir wichtige Ziele und Persönlichkeitsmerkmale schon viele Jahre in uns tragen. Und nicht zuletzt festigt Nostalgie die Verbundenheit mit lieb gewordenen Menschen.
Wer hin und wieder nostalgisch ist, wird optimistischer und kreativer.
Tatsächlich kann man Nostalgie nutzen, um die eigene Resilienz zu stärken. Denn wer hin und wieder nostalgisch ist, wird optimistischer, kreativer und ist an Lösungen interessiert. Der Soziologe Fred Davis sieht die Nostalgie als eine Art Bankkonto, auf das man mit positiven Erlebnissen und sozialen Kontakten einzahlt, um die Ersparnisse dann in Zeiten der Not wieder abzuheben. Es ist daher kein Wunder, dass Menschen dazu tendieren, die Vergangenheit durch eine rosarote Brille zu betrachten. Gute Erinnerungen werden aufgebauscht, schlechte werden verdrängt oder sogar in gute umgedeutet. Das alles polstert das Konto weiter auf.
»Gute Erinnerungen werden aufgebauscht, schlechte werden verdrängt oder sogar in gute umgedeutet.«
Geringeres Schmerzempfinden
Der positive Effekt von Nostalgie kann so stark sein, dass wir sogar weniger Schmerzen empfinden. Ein Forschungsteam an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking zeigte Studienteilnehmenden Bilder, die positive Kindheitserinnerungen in ihnen auslösten. Als sie anschließend kurze Hitzeimpulse am Unterarm erhielten, nahmen sie diese als weniger unangenehm wahr. Unter dem Eindruck der nostalgischen Gefühle hatte sich ihr Schmerzempfinden verringert. Den Effekt konnten die Forschenden auch im Hirnscanner beobachten: In zwei mit Schmerzen verbundenen Hirnregionen konnten sie weniger Aktivität messen.
Noch zwei Zugaben, dann ist schließlich das nostalgische Sommerkonzert vorbei, die Zuschauer strömen zum Ausgang. Vor der Bühne bleiben drei Freundinnen noch einen Moment zusammen stehen und umarmen sich. Die eine sagt: „Ach, war das schön. Wie früher!“ Ja, wie früher, stimmen die anderen lachend ein. Die drei haben ihr Nostalgiekonto mit einer neuen Erinnerung kräftig aufgeladen.
TEXT: Karl Grünberg
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