Was ist dran an der German Angst?
Den Deutschen wird nachgesagt, übermäßig ängstlich und grundlos besorgt zu sein. Mit Spott blicken unsere Nachbarländer auf die typisch deutsche Angst. Dabei hat sie auch ihre guten Seiten, wie der Historiker Frank Biess zeigt.
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Der Krieg in der Ukraine hat sie wieder geweckt, die „German Angst“. Keine individuelle, sondern eine tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelte Angst. Der Ausdruck kam in den 1980er und vor allem 1990er Jahren als spöttische Zuschreibung durch unsere Nachbarländer auf: Die Deutschen als Volk von Bedenkenträgern – pessimistischer, ängstlicher und zögerlicher als andere Nationen. Die Journalistin und Buchautorin Sabine Bode bezeichnet die German Angst im Untertitel ihres Buches „Kriegsspuren“ gar als deutsche Krankheit.
Entstanden ist die deutsche Angst „im Gefolge von Nationalsozialismus und Holocaust, totalem Krieg und totaler Niederlage“, schreibt der Historiker Frank Biess in seinem Buch „Republik der Angst“. Sie resultierte „aus einer stets präsenten, sich permanent verändernden und dynamischen Erinnerung an eine katastrophale Vergangenheit“, so der Historiker, und führte dazu, dass ebenso angstvoll und zuweilen apokalyptisch in die Zukunft geblickt wird.
»Selten zuvor hatte eine Gesellschaft einen so kompletten moralischen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch erfahren.«
Der Zweite Weltkrieg hatte mit verheerenden Folgen in weiten Teilen Europas gewütet, Zeitzeugenberichte offenbaren eine allgemeine Nachkriegsangst auf dem ganzen Kontinent. Dennoch war die deutsche Situation im Frühjahr 1945 eine besondere, wie Biess erläutert. „Nicht nur hatte Deutschland als Nationalstaat aufgehört zu existieren, das Land erlebte zum ersten Mal seit den Napoleonischen Kriegen eine umfassende Besatzung durch fremde Mächte. Selten zuvor hatte eine Gesellschaft einen so kompletten moralischen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch erfahren.“
Die Fotoserie "2 Minutes 2 Midnight"
Die Fotos auf dieser Seite stammen aus der Fotoserie „2 Minutes 2 Midnight“ der Fotografen Miguel Hahn und Jan-Christoph Hartung. Drei Jahre lang begleitete das Duo private und öffentliche Vorsorgemaßnahmen für den Krisen- und Katastrophenfall. Die Bilder zeigen Zivilschutzübungen ebenso wie Survival-Trainings und geben Einblick in die Prepper-Szene.
Die Angst fiel auf fruchtbaren Boden, denn die NS-Propaganda hatte schon während der letzten Kriegsjahre massive Vergeltungsängste in der Bevölkerung geschürt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten viele Deutsche dann tatsächlich große Furcht vor der Rache jüdischer Holocaust-Überlebender, ehemaliger Zwangsarbeiter aus Osteuropa und westlicher Besatzungssoldaten. Sie habe die Deutschen im demokratischen Westdeutschland geprägt, so Biess, auch wenn es in der Realität nur selten Vergeltungsakte infolge der Niederlage gegeben habe.
„Die westliche, insbesondere amerikanische Besatzung linderte diese Vergeltungsängste der Nachkriegsdeutschen keineswegs, sondern fungierte als eine der Hauptursachen dieser Angst.“ Denn die amerikanischen Soldaten sahen sich nicht als Befreier, sondern als Sieger und Besatzer. In einer Umfrage unter US-Soldaten vom April 1945 erklärten 76 Prozent von ihnen, die Deutschen entweder zu hassen oder negative Gefühle ihnen gegenüber zu haben; 71 Prozent waren der Meinung, dass alle oder die meisten Deutschen für den Krieg verantwortlich waren.
Entsprechend forderte die Hauptrichtlinie des Generalstabs für die amerikanische Besatzung eine harte und strafende Behandlung der besiegten Deutschen. In der Sowjetischen Besatzungszone und dann DDR habe es zwar auch die Furcht beispielsweise vor einem neuen Krieg gegeben, aber in dem „diktatorischen oder zumindest autoritären System“ habe Angst eine grundsätzlich andere Rolle gespielt und Funktion gehabt. Eine Politik der Angst, wie sie in Diktaturen häufig betrieben wird, war in Westdeutschland gar nicht nötig, sie war ohnehin in der Bevölkerung verankert.
Konstruktive Angst
In den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Vergeltungsangst der Westdeutschen abgelöst von Ängsten vor einem Atomkrieg, vor Wiederbewaffnung und Nato-Nachrüstung, vor Arbeitslosigkeit durch Automatisierung, vor autoritären politischen Tendenzen und nicht zuletzt vor Umweltzerstörung. Die Geschichte der Bundesrepublik sei geprägt von aufeinanderfolgenden Angstzyklen, so Biess. Mit hysterischer Panikmache habe das aber nichts zu tun, sondern vielmehr mit einem geschärften Bewusstsein für die Anfälligkeit demokratischer Gesellschaften.
Sogenannte Prepper bereiten sich mit Survival-Trainings und gefüllten Vorratskammern auf eine Katastrophe vor.
Genau deshalb sieht Biess in der German Angst auch etwas Positives, Konstruktives – zum Beispiel als entscheidende emotionale Antriebskraft der Friedens- und Umweltbewegung in Westdeutschland. „Die erhöhte Angstbereitschaft der Deutschen sensibilisierte sie auch für mögliche Gefahren. Sie intensivierte die demokratische Wachsamkeit und schärfte das Bewusstsein für die inhärente Krisenanfälligkeit moderner Demokratien.“
»Die Angstgeschichte nach 1945 hat paradoxerweise auch zur Stabilisierung der Bundesrepublik beigetragen.«
So habe die Angstgeschichte nach 1945 paradoxerweise auch zur Stabilisierung und letztlich dem Gelingen der Bundesrepublik beigetragen. Die Friedensbewegung, geboren aus der Angst vor einem Atomkrieg durch die Aufrüstungsdebatten in den Achtzigerjahren, sei zur bei Weitem größten Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik geworden. Diese Angst habe die real existierende Gefahr einer nuklearen Apokalypse im Kalten Krieg präsent gehalten. Sie „motivierte zur Vorsicht, zur Deeskalation, auch zum Versuch, die Gesprächsfäden mit der anderen Seite nie ganz abreißen zu lassen“, schreibt Biess in einem Gastbeitrag auf Spiegel online
Treten Krisen dann tatsächlich ein – etwa die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, 9/11 und andere Terroranschläge, die Finanzkrise seit 2008 – würden die Menschen hierzulande in der allgemeinen Wahrnehmung besonnener reagieren als erwartet. „Wie Hypochonder befürchteten die Deutschen oft das Schlimmste – nur um dann festzustellen, dass die Wirklichkeit weniger schlimm war“, so Biess in einem Vortrag.
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Wird die deutsche Angst vererbt?
Doch wenn die German Angst ihren Ursprung in den Erfahrungen von Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg hatte, warum prägt sie uns dann noch heute? Seit Anfang der 2000er Jahre sind die sogenannten Kriegsenkel ins Blickfeld von Psychologen und auch von Autorinnen und Autoren wie Sabine Bode und Matthias Lore gerückt. 2010 hat sich sogar ein gleichnamiger Verein gegründet. These ist, dass die Generation, die als Kinder während und nach dem Zweiten Weltkrieg seelische Verletzungen und Traumata erlebt und nicht aufgearbeitet hat, diese an ihre Kinder, die Kriegsenkel, weitergegeben hat. So würden sich die Seelennöte, Lebensängste und das vermeintlich übergroße Sicherheitsbedürfnis der zwischen 1960 und 1975 Geborenen erklären.
Die mit Schrecken aufgeladenen Andeutungen von Eltern und Großeltern würden die Nachkommen verunsichern, schreibt Sabine Bode in den Kriegsspuren. „Ihr Erbe sind nicht Ermutigungen, sondern belastende Aufträge, die im wesentlichen mit ‚Nie wieder…‘ anfangen. Davon schleppt die deutsche Bevölkerung eine ganze Menge mit sich herum. Nie wieder Krieg. Nie wieder Großdeutschland. Nie wieder Auschwitz. Nie wieder fliehen. Nie wieder Elend. Nie wieder Arbeitslosigkeit. Nie wieder vor dem Nichts stehen.“
Ein internationales Forscherteam um den Psychologen Martin Obschonka und den Ökonomen Michael Stützer ist 2017 in einer Studie noch einen Schritt weiter gegangen. Sie wollten wissen, ob die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung ganzer Städte zu einer ängstlichen und skeptischen Grundhaltung geführt haben, die über epigenetische Prozesse an die Nachfahren vererbt wurde.
Zu ihrer Überraschung stellten die Autoren jedoch eine bemerkenswerte psychische Resilienz gerade in den schwer zerstörten Städten fest. „Es ist möglicherweise so, dass besonders traumatische Erfahrungen des Bombenkriegs die regionale Mentalität auf die Dauer widerstandsfähiger gemacht haben“, so Stützer. Forschungen zu den psychologischen Folgen des Terrorangriffs vom 11. September 2001 kommen laut Stützer und Obschonka zu ähnlichen Befunden: Auch bei den New Yorkern zeigte sich eine deutliche psychische Widerstandskraft in Folge der traumatischen Erfahrungen.
Der Ukrainekrieg reaktiviert alte Ängste
Die Entstehung der German Angst ist also offensichtlich komplexer, Kriegserfahrungen wie etwa schwere Bombardierungen allein können sie nicht erklären. Und es geht weiter. Die Geschichte der Angst in der Bundesrepublik hat kein Ende, wie Frank Biess feststellt. Während die durch die Corona-Pandemie und die Klimakrise ausgelösten Ängste eher diffus seien, sei die durch den Ukrainekrieg ausgelöste Angst handfest und real. „Nun gibt es wieder einen einzigen Bösewicht, ein klares Angstobjekt: den russischen Präsidenten Wladimir Putin“, so Biess auf Spiegel online. Bereits vergessene Ängste vor einem neuen Krieg drängen sich zurück in die Erinnerung.
Hier zeigt sich aber auch die gute Seite der German Angst. Denn gerade bei den Älteren ist sie wieder da: die Angst vor einem atomaren Krieg aus den Zeiten des Kalten Kriegs. Und wieder einmal könnte sie sich als hilfreich erweisen: Weil sie sich den Forderungen nach militärischer Entschlossenheit entgegenstellt und zur Besonnenheit mahnt.
Zum Weiterlesen
Frank Biess: Republik der Angst. Der Historiker erzählt die Geschichte der kollektiven deutschen Ängste und welche Auswirkungen sie auf die Entwicklung der Bundesrepublik hatten. Erschienen bei Rowohlt, 2019
TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Hahn und Hartung, Rowohlt Verlag, Unsplash / Annie Spratt