Trauma: Das vererbte Leid
Furchtbare Erlebnisse können ein Trauma auslösen, das sich sogar auf nachfolgende Generationen überträgt. Doch sind wir den seelischen Wunden nicht hilflos ausgeliefert.
Immer wieder träumte der Junge, dass er unter der Erde liegt und keine Luft bekommt. Immer wieder wachte er voller Panik aus dem Alptraum auf. Später litt er unter Platzangst. Er wusste, dass die Familie seiner Mutter während des Holocausts ermordet wurde. Aber erst mit 40 Jahren erfuhr er, dass sein Großvater lebendig begraben worden war. Das Beispiel stammt aus dem Buch „Emotionales Erbe“, in dem die Psychotherapeutin Galit Atlas die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf die Nachkommen schildert. Transgenerationales Trauma lautet der wissenschaftliche Begriff. Bereits in den sechziger Jahren hatten Psychiater in Montreal entdeckt, dass in Familien von Holocaust-Überlebenden sowohl die Eltern als auch die Kinder sehr ähnliche psychische Probleme aufwiesen. Sie litten unter anderem an Angststörungen, Panikattacken und Depressionen.
Wie es weitergegeben wird
Krieg, Terror oder Flucht gehören zu den einschneidendsten Erfahrungen, die Menschen existenziell erschüttern können. Auch Missbrauchserfahrungen und Schicksalsschläge wie der Tod des eigenen Kindes können bei manchen Menschen ein Trauma auslösen. Doch wie ist es überhaupt möglich, dass sich eine seelische Verletzung auf die Nachkommen überträgt? „Menschliche Kommunikation erfolgt nicht nur auf der bewussten Ebene, sondern in großem Umfang nonverbal und unbewusst“, schreibt die Sozialpsychologin Angela Moré von der Leibniz Universität Hannover in ihrem Aufsatz Stille Botschaften. „Zwischen Eltern und Kindern werden auf diesem Weg zahlreiche Ereignisse und die ihnen zugehörigen Gefühle und Affekte übertragen.“
Es sind also nicht nur Erzählungen, über die das Leiden weitergegeben werden kann. Oft sind es unbewusste Verhaltensweisen und versteckte Botschaften durch Gesten und Mimik, wenn die Eltern zum Beispiel keine Nähe zulassen können. Auch wenn in den Familien geschwiegen wird, „erfühlen“ die Söhne und Töchter die Stimmungsschwankungen und die Traurigkeit von Vater oder Mutter. Wenn Eltern von ihren Erlebnissen sprechen, geschieht das oft nur bruchstückhaft, weil traumatisierte Menschen meist gar nicht zusammenhängend erzählen können.
Auch die Publizistin und Psychologin Marina Weisband trägt ererbte Traumata in sich, die in der Generation ihrer Großeltern entstanden sind. Teile ihrer Familie waren vom Holocaust betroffen. Gefühle von Unsicherheit und Ratlosigkeit waren prägende Elemente in ihrer Kindheit und Jugend, sagt Weisband. „Eine Folge davon ist, dass ich immer einen gepackten Notfallrucksack habe. Die Vorstellung ist ganz nah, dass ich von heute auf morgen fliehen muss, dass eine Katastrophe passiert, dass ich meine Familie beschützen muss, dass ich alles verliere, was ich besitze.“
Die Spuren der Epigenetik
Eine offene Frage ist, ob Traumata auch über das Erbgut an die Nachkommen weitergegeben werden. Hier könnte die Epigenetik eine wichtige Rolle spielen, mit der sich seit einigen Jahren die neurowissenschaftliche Forschung beschäftigt. „Sie weist bei den Nachkommen von traumatisierten Säugetieren, vor allem Mäusen und Ratten, eine veränderte Stressverarbeitung und -empfindlichkeit nach, die mit einer veränderten DNA-Methylierung einhergeht“, erklärt Angela Moré. Bei der Methylierung setzen sich Methylgruppen an einzelne Gene, deren Funktion sie abdimmen oder sogar abschalten. Allerdings: Wenn es um Menschen geht, steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen. Bislang gibt es keinen eindeutigen Nachweis, dass eine Übertragung der Epigenetik zwischen Generationen möglich ist.
Wie können Traumata behandelt werden?
Die gute Nachricht: Die Folgen traumatischer Erfahrungen lassen sich mit einer Psychotherapie gut behandeln. Bekannt ist vor allem die kognitive Verhaltenstherapie. Sie hilft unter anderem dabei, negative Denk- und Verhaltensmuster zu verändern. Eine andere Methode ist EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Bei dieser Therapie erleben die Klientinnen und Klienten ihre Erinnerungen noch einmal nach, wobei gezielte Augenbewegungen helfen, erschütternde Erlebnisse besser zu verarbeiten.
Es kann aber auch helfen, sich eigenständig mit der Geschichte seiner Vorfahren zu beschäftigen. „Vielen Nachkommen gelingt die Verarbeitung und Bewältigung auch durch Gespräche mit ähnlich Betroffenen oder durch Tagebuchaufzeichnungen, durch literarische oder anderweitige, zum Teil künstlerische Verarbeitungen problematischer Familiengeschichten“, betont die Sozialpsychologin Moré.
Der beste Schutz: Resilienz
Manche Menschen besitzen eine innere Stärke, die sogenannte Resilienz, und kommen auch mit sehr schwierigen Lebenssituationen zurecht. „Resilienz hängt von den Ressourcen ab, die ich während einer traumatischen Zeit habe. Das sind besonders andere Menschen, denen ich vertraue“, meint Marina Weisband. „Noch besser ist es aber, wenn man jemanden hat, um den man sich kümmert. Anderen zu helfen gibt uns die meiste Kraft.“ Und es ist vielleicht beruhigend zu wissen: Große Umfragen zeigen, dass etwa 70 Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens furchtbare Erfahrungen machen. Doch nur bei etwa vier Prozent entwickelt sich ein Trauma.
TEXT: Angelika Friedl
FOTOS: Andreea Pop / Unsplash, Alex Linch / iStock, Tom Barrett / Unsplash, Frantisek G / Unsplash, Dumont
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Psychoanalytikerin Galit Atlas verwebt Geschichten aus der Therapie mit ihrer eigenen Lebenserfahrung und zeigt, wie unsere wiederkehrenden Lebensthemen mit dem emotionalen Erbe verbunden sind. Emotionales Erbe von Galit Atlas ist 2023 bei Dumont erschienen.