Trauernde brauchen Beistand und Zeit
Verwandte, Freunde und Kolleginnen wissen oft nicht, wie sie einem trauernden Menschen beistehen können. Im schlimmsten Fall gehen sie auf Abstand. Sylvia und Andreas Hey haben das selbst erlebt, als ihr Sohn mit 21 Jahren bei einem Unfall starb. Im Interview erzählen die beiden, welche Art der Unterstützung ihnen geholfen und was sie verletzt hat.
Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als Ihr Sohn starb?
Andreas Hey: Am Anfang hat es ununterbrochen an unserer Tür geklingelt, sehr viele Menschen haben uns ihr Mitgefühl ausgedrückt. Wir wohnen ja in einem kleinen Dorf mit etwa 600 Einwohnern, da hat sich die Nachricht von Max‘ Tod ganz schnell verbreitet. Vor allem in der ersten Woche, bis zu Max‘ Beisetzung, bekamen wir viel Unterstützung: Freunde und Bekannte haben für uns gekocht, für uns eingekauft. Nach dieser Woche gab es aber deutliche Veränderungen, es wurde stiller um uns. Die anderen konnten in ihr altes Leben zurück, nur wir konnten das nicht mehr.
Welche Art der Unterstützung war besonders hilfreich für Sie?
Andreas Hey: Das, was einfach Beistand genannt wird. Menschen haben uns beigestanden in dem Wissen, dass sie nichts von unserem Leid wegnehmen können. Sie sind einfach bei uns geblieben und haben uns ausgehalten.
Sylvia Hey: Für uns gab es ja nur ein Gesprächsthema: Max‘ Tod. Da geht es wirklich ums Aushalten.
Was hat Ihnen noch geholfen?
Andreas Hey: Nach einem Jahr sind wir einer Trauergruppe für verwaiste Eltern beigetreten, die auch von Trauerbegleitern unterstützt wurde. Unser privater Zusammenhalt dauert bis heute an. Dieser Austausch ist enorm wichtig für uns. Wir erfahren dort genau die Resonanz, die wir uns wünschen: zu spüren, dass wir nicht alleine sind mit unserer Trauer, die nie enden wird.
Haben Sie auch schlechte Erfahrungen gemacht?
Sylvia Hey: Ja, zum Beispiel mit unserer direkten Nachbarin, einer älteren Dame. Wir hatten immer guten Kontakt, haben uns gerne unterhalten. Am zweiten oder dritten Tag nach Max‘ Tod ging ich auf den Hof und sie stand oben an ihrem Fenster und rief mir zu: „Sylvia, sei mir nicht böse. Ich kann das nicht.“ Im ersten Moment wusste ich gar nichts damit anzufangen. Aber nach diesem Satz hat sich unser Verhältnis deutlich verändert und beschränkt sich auf das Nötigste. Mehr geht für mich einfach nicht mehr.
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Haben sich auch Menschen aus Ihrem Umfeld abgewendet?
Andreas Hey: Es ist alles vorgekommen: Menschen haben sich im Supermarkt hinter Regalen versteckt, die Straßenseite gewechselt oder so getan, als ob sie uns nicht kennen würden.
Sylvia Hey: Ausgerechnet in der Familie gab es Menschen, die mit der Trauer nicht umgehen konnten. Das war eine bittere Erfahrung. Auch einige Freunde und Bekannte haben sich abgewendet. Wir unterstellen niemandem eine böse Absicht. Niemand wollte uns im Zusammenhang mit Max‘ Tod verletzen. Trotzdem haben uns manche Reaktionen sehr weh getan. Teilweise haben wir auch selbst den Kontakt abgebrochen, weil wir nicht so tun konnten, als hätte sich unser Leben nicht total verändert. Manche erwarten allerdings, dass es irgendwann mal gut ist.
Kann Trauer einsam machen?
Sylvia Hey: In unserem unmittelbaren Alltag kennen wir niemanden, der ein Kind verloren hat. Wir sind damit plötzlich aus vielen Schnittmengen herausgefallen. Es gibt auch heute noch Tage, an denen ich mich sehr instabil fühle und es vermeide, in den kleinen Laden im Dorf zu gehen. Ich fürchte dann Situationen, in denen Menschen nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Auf die Frage „Wie geht’s?“ erwarten die meisten ja ein „Gut!“. Ich will und kann dann nicht so tun, als ginge es mir gut. Es wäre schön, wenn das nicht nötig wäre. Wenn Trauer als normale Reaktion akzeptiert würde und andere selbstverständlich damit umgehen könnten. So wie sich andere ja auch selbstverständlich mitfreuen, wenn ein Kind geboren wurde.
Andreas Hey: Wenn wir aus unserem Haus treten, nehmen wir eine Rolle für die Öffentlichkeit ein. Manchmal gelingt das besser, manchmal gar nicht.
Ihre Tochter hat den Bruder verloren. Wie sind Sie drei in Ihrer Trauer miteinander umgegangen?
Andreas Hey: Unsere Tochter hat nicht nur ihren Bruder verloren, sondern auch ihre Eltern, wie sie sie vor Max‘ Tod kannte. Sie wurde oft gefragt, wie es ihren Eltern geht, aber nur selten, wie es ihr selbst geht. Darunter hat sie sehr gelitten, wie sie uns später erzählt hat. Sie hat sich sehr zusammengerissen und sich vor allem um uns gekümmert.
Sylvia Hey: Unsere Tochter ist ein anderer Typ als wir. Während wir beide unsere Emotionen über das Sprechen und Schreiben ausdrücken, zieht sie sicher eher in sich zurück. Es fiel ihr schwer, mit uns über Max‘ Tod zu sprechen. Sie hatte ihre eigene Art, um ihren Bruder zu trauern. Außerdem wollte sie, wie wir erst sehr viel später von ihr erfahren haben, uns nicht mit ihrer Trauer zusätzlich belasten.
Was möchten Sie vermitteln im Umgang mit Trauernden?
Sylvia Hey: Es ist wichtig zu verstehen, dass sich Trauer auf vielfältige Weise äußert. Jede und jeder braucht etwas anderes in der Trauer. Wir sind beide sehr kommunikative Menschen. Wir machen oft den ersten Schritt und sprechen Max‘ Tod an. Viele sind dankbar dafür und geben zu, dass sie sich selbst nicht getraut hätten, uns darauf anzusprechen. Andere wollen ihre Trauer überhaupt nicht nach außen tragen. Es ist essenziell, jede Form der Trauer zu akzeptieren. Der Begriff der Freiheit in der Trauer ist mir sehr wichtig.
Geschichte der Zeitmessung – Teil 6
Die präzisesten Uhren, die es heute gibt, sind Atomuhren. Abweichungen liegen bei maximal einer 1 Sekunde in 300 Millionen Jahren. Um noch präziser zu sein, wird für die Internationale Atomzeit ein Mittelwert aus 600 Atomuhren weltweit errechnet. Leider hält sich selbst die Erdkugel nicht an dieses hochpräzise Instrument. Weil sich ihre Rotation ständig verlangsamt, hinkt die entsprechend angepasste Koordinierte Weltzeit der Atomzeit inzwischen 37 Sekunden hinterher.
Trauer verläuft nicht nach einem Programm.
Sylvia Hey: Mir hat mal jemand gesagt: „Du trägst ja wieder bunte Kleidung, dann geht es Dir wohl wieder besser.“ Der Tag, an dem mein Kind starb, war der schlimmste Tag in meinem Leben und wird es immer bleiben – egal ob ich ein rotes oder ein schwarzes Kleid trage. Wenn wir lachen, dann sagen uns manche „Wie schön, Euch geht‘s wieder besser.“ Aber Trauer ist eine Wellenbewegung. Man weiß am Morgen nie, wie der Tag wird. Plötzlich begegnest Du jemandem, der den gleichen Gang hat wie Dein Sohn. Das wirft Dich total aus der Bahn. Oder ein Geruch, eine Musik erinnert an Max und uns schießen die Tränen in die Augen. Als Reaktion kommt dann manchmal: „Aber es ist doch jetzt schon so lange her.“
Was wünschen Sie sich in so einem Moment?
Sylvia Hey: Dass man uns unsere Trauer lässt. Wir werden immer traurig darüber sein, dass wir unseren Sohn verloren haben. Der Max fehlt. Das heißt aber nicht, dass wir unser Leben nicht leben können. Wir leben es seitdem sogar sehr viel bewusster.
Andreas Hey: Wir sind mehr als unsere Trauer, aber wir sind auch unsere Trauer. Natürlich können wir auch lachen, fröhlich sein, aber eben mit unserer Trauer. Ich finde auch, Trauer ist nicht nur negativ besetzt. Sie bedeutet auch Erinnerung, Sehnsucht.
Selbsthilfe
Es kann helfen, andere Menschen zu treffen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Auf der Webseite trauergruppe.de sind über 350 Trauergruppen und Trauercafes deutschlandweit aufgeführt, darunter Gruppen für Jüngere und für Ältere, mit und ohne professionelle Begleitung. Viele Gruppen treffen sich zum Gespräch, andere zu gemeinsamen Aktivitäten.
Sie haben 15 Leitgedanken zum Umgang mit Trauernden zusammengestellt. Was hat sie dazu bewogen?
Andreas Hey: Während sich viele Trauernde häufig mit dem Thema beschäftigen, vermeiden Nicht-Trauernde das lieber. Deshalb wollten wir kurz und knapp das Wichtigste zusammenfassen und die Welt der Trauernden für Nicht-Trauernde verständlicher machen.
Sylvia Hey: Dazu bewogen hat uns auch unsere Erfahrung, dass um uns herum im Laufe der Zeit immer weniger Menschen bereit waren, diese Trauer als Teil von uns anzunehmen. Aber Trauer endet nicht. Schon nach einem Jahr haben uns Leute gefragt, wann wir endlich wieder die sind, die wir vorher waren. Aber wir werden nie mehr die sein, die wir vor Max‘ Tod gewesen sind.
Zum Umgang mit Trauernden
Ein Auszug aus den 15 Leitgedanken, die Sylvia und Andreas Hey für den Umgang mit Trauernden zusammengestellt haben:
- Sagen, was ist: ein Mensch ist gestorben! Reden Sie bei Ihrem ersten Treffen mit den Trauernden nicht über das Wetter. Small Talk ist hier nicht angebracht. Für die trauernden Angehörigen gibt es nur ein wichtiges und alles bestimmende Thema und das ist der Tod. Der Tod ist traurig und macht traurig. Unendlich traurig. Das dürfen Sie gerne auch so benennen.
- Der erste Satz: Vermeiden Sie die Frage „Wie geht es Dir?“. Was sollen Trauernde darauf antworten? Wie kann es ihnen mit dem erlittenen Verlust gehen? Zu Beginn eines Gespräches kann der Satz stehen: „Es ist gut, Dich zu sehen“ oder „Ich bin dankbar, Dich zu treffen“.
- Trauer und Tod nicht kleinreden: Lassen Sie den Trauernden die Traurigkeit und verzichten Sie auf Lebensweisheiten oder Floskeln. Gut gemeinte Ratschläge wie „das wird schon wieder“, „das Leben geht weiter“, oder „die Zeit heilt alle Wunden“ helfen nicht weiter. Auch mit Lob sollten Sie sparsam umgehen. „Du bist so stark“ kann auch als Aufforderung verstanden werden „nicht schwach zu sein“. Doch Trauer braucht ein Klima, in dem gestattet ist „zu sein“!
- Wohldosierte Eigeninitiative: Hilfe „nur“ anzubieten, ist oft keine Hilfe. Kaum eine trauernde Person wird um konkrete Hilfe bitten. Handeln Sie – achtsam und nicht übergriffig – indem Sie z. B. für die Trauernden einen Topf Suppe kochen, einkaufen gehen, Wäsche waschen. Gehen Sie auf die Trauernden zu, denn hier ist die ganz praktische Hilfe durch kleine Gesten von Kümmerern willkommen.
Alle 15 Leitgedanken und mehr finden Sie unter: www.trauer.land
GESPRÄCH: Kristina Simons
FOTOS: Louis Hansel / Unsplash, privat, PER Images / Stocksy