No. 26 – ZEIT

Wissenswertes

Zeitempfinden: Immer in Bewegung

Manchmal vergeht die Zeit schneller, manchmal langsamer. Mitunter scheint sie ganz stillzustehen. Viele Leute behaupten, keine Zeit zu haben, andere haben sie angeblich totgeschlagen. Warum ist unser Zeitempfinden so launisch?

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Erst dauert alles zu lange, dann ist es plötzlich vorbei.

Wir können die Zeit exakt messen, heutzutage sogar mithilfe von Atomuhren. Dennoch bleibt sie eine sehr flüchtige und wandelbare Angelegenheit. Denn oft tickt unsere innere Uhr anders als die Uhr an der Wand. Dabei ist die Wahrnehmung von Zeit tief in uns verankert und wahrscheinlich sogar angeboren. Denn auch Tiere und kleine Kinder können Unterschiede in der Dauer von Reizen wahrnehmen. Doch richtig einzuschätzen, wie lange etwas dauert, müssen wir erst erlernen, sagt Isabell Winkler, Psychologin an der Technischen Universität Chemnitz. Sie erforscht, wie und wovon dabei unser Zeitempfinden beeinflusst wird.

Zeit richtig einschätzen

Steht man beispielsweise an der Kasse im Supermarkt an und kann sich dabei nicht ablenken, zieht sich die Zeit gefühlt in die Länge. „Beim Warten oder während eines langweiligen Vortrags achten wir auf das Zeitvergehen. Dann nehmen wir jeden Takt der inneren Uhr wahr und die Zeiträume kommen uns verhältnismäßig lang vor“, erläutert Winkler. Oft sei man in solchen Momenten besser in der Lage, eine Zeitspanne richtig einzuschätzen, „weil man sich auf die verstreichende Zeit konzentriert und diese besser wahrnehmen kann“, so Winkler.

»Wir verpassen Takte und merken nicht, wie die Zeit vergeht. «

Für Menschen, die sich im gleichen Zeitraum ablenken, scheint die Zeit dagegen schneller zu vergehen. Denn je mehr Aufmerksamkeit anderweitig beansprucht wird, etwa durch Musik hören oder im Internet surfen, durch interessante Lektüre oder ein spannendes Gespräch, desto weniger Aufmerksamkeit steht zur Verfügung, um die innere Uhr wahrzunehmen. Wir verpassen Takte und merken nicht, wie die Zeit vergeht. Am schnellsten scheint die Zeit übrigens zu rennen, wenn man sich in einem „Flow“ befindet, also völlig in einer Tätigkeit aufgeht und die Aufmerksamkeit für die innere Uhr gegen Null geht.

Unser Zeitempfinden ändert sich im Alter

Manchmal vergeht die Zeit viel zu schnell.

Erwartungen prägen unser Zeitgefühl

Doch nicht nur unsere Aufmerksamkeit für Zeit schwankt, auch die innere Uhr selbst kann sich verändern, beispielsweise bei körperlicher Anstrengung oder wenn wir emotional aufgeregt sind. „Je höher das Aktivierungsniveau, desto schneller geht die innere Uhr“, erklärt Isabell Winkler. Es werden also mehr Takte produziert, die Dauer eines Zeitraums erscheint uns länger, was dazu führt, dass die Zeit gefühlt langsamer vergeht. Deshalb erscheint uns die Zeit beim Tragen schwerer Einkaufstüten besonders lang. Beim Warten kurz vor einer Prüfung ist es ähnlich.

Darüber hinaus hat die Forschung hat einen weiteren Faktor erkannt, der unsere Zeitwahrnehmung beeinflusst: unsere Erwartungen darüber, wie lang eine Tätigkeit oder ein Ereignis dauern wird. Denn davon hätten wir immer eine Vorstellung, sagt Isabell Winkler. Wir ziehen dabei Rückschlüsse aus unseren Erfahrungen und sind meist optimistische Schätzerinnen und Schätzer, was gelegentlich zu Fehlplanungen führt.

Wer nun mit einer längeren Dauer als erwartet konfrontiert wird, empfindet die vergangene Zeit noch länger, als sie tatsächlich ist. Das erklärt auch den verbreiteten Effekt, dass sich ein nicht bekannter Hinweg oft länger anfühlt als später der Rückweg. Denn während wir auf dem Hinweg die Dauer optimistisch unterschätzen, können wir sie auf dem dann bekannten Rückweg realistisch einschätzen.

Kleine Geschichte der Zeitmessung – Teil 3

Wie die Sumerer verwendeten auch die Ägypter Sonnenuhren, um die Schichten der Arbeiter zu bestimmen. Doch Sonnenuhren funktionieren nur, wenn die Sonne scheint. Als Alternative wurden daher Wasseruhren entwickelt: Wasser wird in ein Gefäß mit kleinen Löchern gefüllt und tröpfelt langsam wieder heraus. Am Wasserstand lässt sich dabei ablesen, wie viel Zeit vergangen ist. Die Wasserchronometer wurden von den Griechen und Römern weiterentwickelt und beispielsweise dafür eingesetzt, die Redezeit vor Gericht zu begrenzen.

Rückblick oder Gegenwart? Ein großer Unterschied!

Ganz anders tickt unser Zeitempfinden, wenn es um Ereignisse in der Vergangenheit geht. Um rückblickend zu rekonstruieren, wie lange etwas gedauert hat, müssen wir auf alles zurückgreifen, was in diesem Zeitraum passiert ist und woran wir uns noch erinnern können. „Die Takte der inneren Uhr stehen hinterher nicht mehr zur Verfügung“, erklärt Isabell Winkler. Je mehr Anhaltspunkte man im Gedächtnis hat, desto länger wird die Dauer geschätzt. Dadurch kann es im Rückblick zu fundamental anderen Einschätzungen kommen als in der Situation selbst.

»Das Zeit-Paradox: Spannende Erlebnisse vergehen wie im Flug. Später kann man umso länger darüber berichten.«

Es entsteht ein Zeit-Paradox: Spannende Erlebnisse vergehen wie im Flug. Später kann man umso länger darüber berichten. Im Nachhinein scheinen solche Ereignisse länger gedauert zu haben, weil man sich an vieles sehr gut erinnert. Umgekehrt fühlen sich ereignisarme Zeiträume sehr lang an, wenn man mittendrin steckt. In der Erinnerung dagegen wirken sie kurz, weil man nur wenige Gedächtnisinhalte aus dieser Zeit abrufen kann.

Zeit mit den Enkeln verbringen

Zeitempfinden synchronisieren

The Mind ist ein einfaches Kartenspiel, bei dem Zahlenkarten in aufsteigender Reihenfolge abgelegt werden. Dabei ist es verboten, miteinander zu sprechen oder sonstwie  zu kommunizieren. Das Spiel gelingt, wenn sich alle darauf einlassen und ihr Zeitempfinden aufeinander einstellen eine verblüffende Gruppenerfahrung.

Weniger Zeit im Alter?

Doch warum scheint die Zeit mit zunehmendem Alter immer schneller voranzuschreiten? Auch dafür hat die Psychologin eine Erklärung. Eine wichtige Rolle spielt dabei, wie lebendig wir ein Ereignis erleben. Im Gegensatz zur Kindheit stehen wir als Erwachsene zunehmend unter Zeitdruck. Das führt dazu, dass einzelne Lebensereignisse weniger intensiv wahrgenommen und weniger detailreich gespeichert werden.

Außerdem prägen Routinen verstärkt den Alltag. Das ist effektiv und hilfreich. Doch je routinierter eine Handlung abläuft, desto weniger bleibt sie im Gedächtnis. Zudem kommt es mit zunehmender Lebenserfahrung seltener vor, dass wir etwas wirklich Neues erleben. Es sind aber vor allem neue Lebensereignisse, die als außergewöhnliche Erfahrungen gut im Gedächtnis bleiben.

Das kann auch ein tröstlicher Gedanke sein: Selbst wenn das letzte Jahr wie im Flug vergangen zu sein scheint, bedeutet das nicht, dass wir weniger erlebt oder bewirkt hätten. Es hat sich lediglich nicht mehr so stark in unser Gedächtnis eingebrannt.

„Die eigene Zeit zu strukturieren, ist eine Kunst“

Der deutsch-schweizerische Philosoph Norman Sieroka rät dazu, sich bewusst mit dem eigenen Zeitempfinden auseinanderzusetzen.

Herr Sieroka, haben wir ein Problem mit der Zeit oder mit unserem Zeitempfinden?

Wir takten den Alltag immer enger. Zwei Beispiele: Wir haben heutzutage minutiöse Fahrpläne und Terminkalender. Digitale Kommunikationsmittel ermöglichen schnelle Reaktionen und unsere Mitmenschen erwarten diese dann auch. Das alles wirkt sich unmittelbar auf unsere individuell erlebte Zeit aus.

Ist also Entschleunigung angesagt?

Für unser Wohlbefinden spielt auch das Verhältnis von Wiederholung und Neuerung eine wichtige Rolle. Wiederholung strukturiert unser Leben. Deshalb messen Menschen religiösen wie profanen Ritualen so große Bedeutung bei. Andererseits brauchen wir Neuerungen. Kleine Verschiebungen in unseren Wiederholungen und Strukturen wirken gegen körperliche und geistige Ermüdung.

Wie kriegen wir das in unseren Alltag?

Menschen brauchen für ihr Wohlergehen die Freiheit, ihre Zeit individuell gestalten zu können, auch bei Dingen, die zum Pflichtprogramm gehören. Wenn ich etwa selbst beeinflussen kann, wann und in welcher Reihenfolge ich notwendige Erledigungen angehe, ist das schon ein Pluspunkt. Aber die eigene Zeit zu strukturieren, ist eine Kunst. Dabei sollte man sich nicht mit zu hohen Ansprüchen überfrachten. Vorsicht etwa bei Dingen wie „Quality Time“. Glückliche Momente lassen sich nicht erzwingen.

TEXT & INTERVIEW: Lars Klaaßen
FOTO: Vladimir Tsarkov / Stocksy, Trinette Reed / Stocksy, Samantha Gehrmann / Stocksy, NSV-Verlag, Shane / Unsplash