No. 25 – ANGST

Wissenswertes

Nervenkitzel: Die Lust am Bibbern und Zittern

Gruselige Filme, Fußball im Fernsehen, Glücksspiele und Mutproben lösen neben Angst auch Lust in uns aus. Woher kommt diese Lust am Nervenkitzel? War sie möglicherweise ein evolutionärer Vorteil? Warum manche Menschen mehr Aufregung brauchen als andere und Horrorfilme uns gut tun könnten.

Lesedauer ca. 5 Minuten

Ein Sprung in die Tiefe

Eine postapokalyptische Trümmerwelt: Viele Menschen sind mit einem aggressiven Pilz infiziert, der als schleimiges, grüngelbes Geflecht zuerst über die Augen wuchert. Die Infizierten erblinden, verfallen zunehmend und verwandeln sich in furchteinflößende Zombies, die andere Menschen anfallen. Ein ehemaliger Schmuggler beschützt ein junges Mädchen vor den Angriffen von Wegelagerern und Infizierten. Sie ist die Hoffnung der Menschheit, denn ihr Blut enthält Abwehrstoffe gegen den Pilz. Das ist die Handlung von The Last of Us. Die Streaming-Serie war dieses Jahr trotz der vielen Schockszenen ein großer Erfolg. Oder gerade deshalb?

Horrorfilme, Thriller und Krimis erfreuen sich großer Beliebtheit. Wir lieben es, uns vor der Leinwand zu gruseln und vor Spannung zu zittern. Eine ähnliche Faszination geht auch von Glücksspielen oder von Geister- und Achterbahnen aus. Und manche Menschen stürzen sich sogar an einem Bungee-Seil in die Tiefe. Denn auch wenn es widersprüchlich erscheint, kann Angst Lustgefühle auslösen: Wenn die (gefühlte) Gefahr vorbei ist, lässt die Anspannung nach und quasi als Belohnung schüttet das Hirn die Glücksboten Dopamin und Endorphine aus. Das Ergebnis ist, dass wir mehr von diesen guten Gefühlen haben wollen.

Spannung im Kino

Ende der 1950er Jahre beschrieb der ungarische Psychoanalytiker Michael Balint den Begriff der Angstlust. Balint sieht die Erfahrungen in der frühen Kindheit als Ursache dieser Sehnsucht. Ein kleines Kind entfernt sich mutig, aber auch ängstlich von der Mutter, um dann wieder erleichtert zu ihr zurückzukehren. Auch im späteren Leben suchen wir, so Balint, immer wieder nach Erfahrungen, in denen sich Angst und Lust mischen.

»Manche schauen sich Filme an, die angsterregend sind, manche leben es auf der Autobahn aus und andere spielen."«

Dabei macht es keinen Unterschied, ob wir den besonderen Kick in einem spannenden Buch finden oder eher bei einem Abenteuer-Urlaub in der kanadischen Wildnis. „Es kommt darauf an, was für den jeweiligen Menschen den Reiz darstellt“, sagt der Psychologe Marcus Roth, Professor am Institut für Psychologie der Universität Duisburg-Essen. „Es muss nicht immer Bungeespringen sein. Es gibt viel einfachere Möglichkeiten, um einen Nervenkitzel zu erleben. Manche schauen sich Filme an, die angsterregend sind, manche leben es auf der Autobahn aus, was natürlich nicht gut ist, und andere Leute spielen.“

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Eine Frage der Gene

Einige Menschen sind geradezu süchtig nach der Angstlust, während andere nur ein geringes Bedürfnis verspüren oder sich überhaupt nicht nach Nervenkitzel sehnen. Woher kommen diese Unterschiede? „Das sind Persönlichkeitsunterschiede, so wie zum Beispiel einige Menschen impulsiv sind und andere nicht. Menschen kommen mit einem unterschiedlichen Bedürfnis nach Stimulation auf die Welt. Es gibt einen recht hohen genetischen Anteil, wie Zwillings- und Adoptionsstudien zeigen“, erklärt Marcus Roth.

Männer verhalten sich tendenziell risikofreudiger als Frauen. Unklar ist allerdings, ob der Unterschied vom traditionellen Rollenverständnis oder von geschlechtsspezifischen Genen herrührt. Außerdem ist die Lust am Nervenkitzel in der Jugendzeit am höchsten. Je älter wir werden, desto mehr sinkt die Bereitschaft, sich auf größere Mutproben einzulassen. „Wir wissen nicht genau, warum das so ist“, sagt Marcus Roth. Eine häufige Erklärung ist, dass Ältere ein größeres Sicherheitsbedürfnis als jüngere Menschen haben.

Karusselfahren: Abwärts, kopfüber und im Kreis herum

Sensation Seekers

Bei einigen Menschen ist dagegen das Bedürfnis nach Nervenkitzel besonders ausgeprägt. Der amerikanische Psychologe Marvin Zuckerman hat als Erster das sogenannte Sensation Seeking untersucht. Diese Persönlichkeitseigenschaft beschrieb er als „die Suche nach abwechslungsreichen, neuen, komplexen und intensiven Eindrücken und Erfahrungen und der dazugehörigen Bereitschaft, (…) dafür Risiken in Kauf zu nehmen”.

Auch Marcus Roth hat sich mit dem Konzept des Sensation Seeking beschäftigt. In einem zusammen mit Kollegen entwickelten Fragebogen geht es nicht mehr wie bei Zuckerman um konkrete Verhaltensweisen, sondern darum, wie stark jemand den Zustand von Aufregung braucht.

»Vielleicht springt ein Bungee-Springer nicht wegen des Nervenkitzels, sondern weil er Aufmerksamkeit braucht.«

Gefragt wird zum Beispiel „Ich mag Situationen, in denen vor Aufregung mein Herz klopft“ oder „Ich kann es genießen, wenn eine Weile einfach nichts passiert“. Solche Fragen, meint Roth, seien besser in der Lage, „Angstsucher“ aufzuspüren. „Die Wege, wie Menschen die Stimulation erreichen, sind nun einmal extrem unterschiedlich. Das heißt, ich kann an dem Verhalten des Menschen nicht sehen, ob er Sensation Seeker ist oder nicht. Es könnte zum Beispiel sein, dass ich etwas lese, das mich sehr aufwühlt, das Sie dagegen langweilig finden.“ Umgekehrt springt ein Bungee-Springer vielleicht nicht wegen des Kitzels, sondern weil er Aufmerksamkeit braucht.

Ein bisschen wie Verliebtsein

Die Forschung geht davon aus, dass die biologischen Abläufe im Körper beim Sensation Seeking eine wichtige Rolle spielen. Wer von Natur aus einen hohen Erregungslevel hat, will keine weitere Stimulationen. Menschen mit einem niedrigen Level sind dagegen stärker auf der Suche nach intensiven Reizen. Übrigens: In Hinblick auf die körperlichen Reaktionen lässt sich die Lust an der Angst kaum von den Gefühlen beim Verliebtsein unterscheiden. In beiden Fällen reagieren wir mit Herzklopfen, feuchten Hände und Schmetterlingen im Bauch. Der Körper wird in „Alarmbereitschaft“ versetzt und schüttet verschiedene Botenstoffen wie zum Beispiel Adrenalin aus.

Ein Fahrt mit der Geisterbahn

Sind Horrorfilme ein Angsttraining?

Angst warnt vor Gefahr und bereitet den Körper darauf vor, schnell Energie bereitzustellen, um zu kämpfen oder um zu fliehen. Angst ist überlebenswichtig, doch warum sollte sie Spaß bereiten? Möglicherweise brachte die Lust am Nervenkitzel einen evolutionären Vorteil.

„Für eine Population könnte es interessant sein, wenn einige wenige unter ihnen Sensation Seekers sind. Zum Beispiel gibt es eine neue Frucht, die von drei Neugierigen ausprobiert wird. Wären alle in der Population so mutig wie sie, wäre es sehr schlecht, wenn die Frucht giftig wäre. So haben wir zwei oder drei Wagemutige, die den Schritt vorangehen“, sagt der Psychologe Roth und schränkt zugleich ein: „Die evolutionären Theorien bleiben letztlich immer im Bereich des Spekulativen, weil man damit alles begründen kann.“

»Es könnte ein evolutionärer Vorteil sein, wenn es zwei oder drei Wagemutige gibt, die den Schritt vorangehen.«

Eine weitere Erklärung könnte sein, dass wir uns dank Nervenkitzel immer wieder dem Schrecken auf Probe aussetzen. Dadurch bereiten wir uns vor allem als junge Menschen spielerisch auf Gefahren vor und sammeln neue Erfahrungen. Für den dänischen Literaturwissenschaftler Mathias Clasen von der Universität Aarhus ist das Schauen von Horrorfilmen sogar eine Art Angst-Training. Ihm zufolge können uns postapokalyptische Filme wie The Last of Us möglicherweise dabei helfen, mit Angst besser umzugehen. Wir lernen dabei durch die Simulation von Gefahr.

Gemeinsam mit Forschenden der Universität von Pennsylvania befragte Clasen während der Coronazeit Fans von Horrorfilmen. Tatsächlich zeigten sich die Gruselfans in der Pandemie psychisch belastbarer als andere Menschen. Sie fühlten sich nach eigenen Angaben durch das Schauen von Endzeit- und Horrorfilmen besser auf die Krise vorbereitet. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Horrorfilmen und psychischer Widerstandskraft lässt sich daraus allerdings nicht herleiten. Schließlich ist auch denkbar, dass die Gruselfans von Natur aus stärkere Nerven haben als andere.

Es gibt übrigens eine gute Nachricht für alle, die weder Bungee Jumping noch Horrorfilme mögen: Auch bei Karten- und Glücksspielen kann es einem ähnlich ergehen wie in Gruselfilmen, wie die Forschenden von der Universität Aarhus herausgefunden haben. Wir erleben dabei mitunter eine Berg- und Talfahrt von Unsicherheit, Neugier und Spannung, ohne unsere Gesundheit riskieren zu müssen. So setzen wohlige Gänsehautgefühle ein, die sich am Ende – in den meisten Fällen – in glückliche Erleichterung auflösen.

TEXT: Angelika Friedl
FOTOS: Stocksy / Manu Prats, iStock / Edwin Tan, Lothar Schulz / fstop / Getty Images, Shutterstock / RMC42