No. 7 – ZUKUNFT

Menschen

Was bleibt von der
Revolte?

Die 68er hatten viel vor mit der Zukunft. Sie haben rebelliert, provoziert und protestiert – damit etwas Neues entsteht. Was ist geblieben von den Utopien von gestern? Der Alt-68er und Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele erinnert an damalige Missstände, die sich heute keiner mehr vorstellen kann. Mit fast 80 Jahren rät er dazu, auch künftig alle Autoritäten in Frage zu stellen.

Was bleibt von den 68ern? Hans-Christian Ströbele 2017 in Berlin in seinem Abgeordneten-Büro. Die 68er hatten viel vor mit der Zukunft. Was ist geblieben von den Utopien von gestern? Hans-Christian Ströbele blickt zurück nach vorn. Foto: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Rechtsanwalt, Alt-68er, Grünen-Politiker, Querdenker, Einmischer. Hans-Christian Ströbele, 1939 in Halle an der Saale geboren, ist eine bekannte Persönlichkeit im bundesdeutschen Politikbetrieb. 1969 gründete er zusammen mit Horst Mahler und Klaus Eschen das Sozialistische Anwaltskollektiv und übernahm unter anderem die Verteidigung von RAF-Angehörigen. Später gehörte er zu den Mitbegründern der Grünen und sorgte bei vielen Auftritten für Reibungspunkte. Als Abgeordneter setzte sich Ströbele für Bürgerrechte ein, er wendete sich unter anderem gegen die Vorratsdatenspeicherung und traf sich 2013 mit dem Whistleblower Edward Snowden in dessen Moskauer Exil. Im Gespräch schaut der heute fast 80-Jährige zurück und nach vorn.

Herr Ströbele, wie ist Ihnen zumute bei dem Wort Zukunft, dominiert Sorge oder Optimismus? Oder eher das Gefühl, dass es Sie in Ihrem fortgeschrittenen Alter nichts mehr angeht?

Zukunft geht alle an, auch mich. Bei allen Herausforderungen: Im Grundsatz bin ich optimistisch. Die Menschheit hat sich im Lauf ihrer Geschichte stets weiterentwickelt, wenn auch oft mit Verzögerungen.

Sie sind seit mehr als 50 Jahren politisch aktiv. Hat sich der Einsatz gelohnt?

Er hat sich gelohnt. Zeitlebens hatte ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, konnte mich über nichts mehr aufregen als über Ungerechtigkeit. Das war mein Motor. Manchmal bedauere ich, dass ich mich in bestimmten Situationen zu sehr zurückgehalten habe und nicht noch deutlicher geworden bin – vor allem bei dem Thema, das mich seit Jahren umtreibt wie kaum ein zweites, der Afghanistan-Krieg. Ich habe im Bundestag dazu nie ausreichend Redezeit bekommen. Ich wurde, wenn ich Zwischenfragen stellte, meist als Störer angesehen. Zu intervenieren bedeutete also stets Überwindung.

Wann wurden Sie ein politischer Mensch?

Bis Anfang Juni 1967 war ich nicht direkt politisch engagiert, nur einmal an der Uni bei der Abwahl einer Studentenvertretung. Ich war ein zeitunglesender Nachrichtenhörer. Das änderte sich radikal durch den Tod von Benno Ohnesorg und die darauffolgenden Ereignisse. Alle, die Polizei, Bürgermeister und Senat, auch die Medien, machten die Studenten für die Auseinandersetzungen und den Tod Ohnesorgs verantwortlich. „Die Chaoten sind schuld“, hieß es unisono. Damals wurden aus Impulsen Handlungen. Ich wurde ein Linker, ich begann, mich mit linken Theorien auseinanderzusetzen, mischte mit und ging auf die Straße zu Demonstrationen.

»Ein Grundsatz war, alle Autoritäten in Frage zu stellen und alles Gewohnte zu hinterfragen. Und das ist heute so aktuell wie damals.«
Was bleibt von den 68ern? Historische Aufnahme der Studentenproteste 1968 in Berlin. Die weltweite Bewegung wollte die radikale Veränderung der Gesellschaft, erzählt Hans-Christian Ströbele im Interview. – In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Foto: Klaus Rose/picture alliance

War den Studenten damals klar, dass sie einen Platz in den Geschichtsbüchern bekommen?

Natürlich nicht. Aber wir wussten, wir waren nicht nur ein paar protestierende Studenten. Wir waren 1968 Teil einer weltweiten Protestbewegung, die in den USA begonnen hatte und von den Unis ausgegangen war. Teach-ins und Sit-ins waren die neuen Protestformen. Wir wollten nicht nur die Unis verändern, sondern die Gesellschaft, die Kultur, die Geschlechterbeziehungen, die Rolle der Frau, das Verständnis von Familien. Ein wichtiger Grundsatz war, alle Autoritäten in Frage zu stellen und alles Gewohnte zu hinterfragen. Und das ist heute so aktuell wie damals, ich rate das jedem, der sich politisch engagieren will.

Sie waren damals mittendrin in den Veränderungsprozessen.

Zum Beispiel habe ich als junger Anwalt Homosexuelle verteidigt. Wurden zwei Männer zusammen im Bett erwischt, hatten sie sich nach dem berüchtigten Paragraphen 175 des Strafgesetzes strafbar gemacht. Dieser Paragraph wurde in den folgenden Jahrzehnten stufenweise abgeschafft, 1994 wurde er endlich ganz gestrichen. Eine Folge der „sexuellen Revolution“. Oder nehmen Sie die Situation der Frauen. Sie brauchten damals noch die Erlaubnis des Mannes, wenn sie eine Arbeit aufnehmen wollten. Das können sich junge Frauen heute nicht mehr vorstellen.

Die sexuelle Revolution der 68er bedeutete auch Wohngemeinschaften und freie Liebe.

Es wurde eine Menge ausprobiert, einiges war auch überdreht. Es galt der Slogan „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. Aber ich habe 1967 geheiratet. So manche spotteten, ich sei ja verrückt.

»Wir wollten die radikale politische Veränderung, eben die Revolution. Das haben wir nicht geschafft. Vielleicht war das auch gut so. «

Wer waren Ihre politischen Vorbilder?

In der APO, der außerparlamentarischen Opposition, habe ich Leute wie Rudi Dutschke und Christian Semler geschätzt. Lichtgestalten waren für mich – wie für viele andere damals – Nelson Mandela oder Che Guevara. Aber ein Vorbild, an dem ich mich orientierte und dem ich nacheiferte, hatte ich nicht. Ich war überzeugt, dass ich gemeinsam mit anderen die Gesellschaft verändern muss. Ich wollte das, was ich als richtig erachtet hatte, nach Kräften realisieren.

Welche Visionen von damals sehen Sie als umgesetzt an?

Wir wollten die radikale politische Veränderung, eben die Revolution. Das haben wir nicht geschafft. Vielleicht war das auch gut so. Aber mit der APO haben wir gesellschaftliche, kulturelle Veränderungen angestoßen. Auch im Bereich der Familien und der Lebensgewohnheiten. Manches dauerte, manches ging schnell. Es hat sich noch lang nicht genug geändert. Einiges an Reformen auch in den Universitäten ist sogar wieder zurückgedreht worden.

Umwelt war damals schon ein wichtiges Thema?

Nein, soweit ich erinnere, in der APO nicht. Das kam erst später mit der Umweltbewegung und dem Kampf gegen Atomkraftwerke. Viele unserer Forderungen von damals sind heute allgemeiner Konsens. Nach den Studenten kamen noch viel größere soziale Bewegungen: Umwelt-, Anti-Atomkraft-, Friedens-, Frauenbewegung. Mit viel mehr Leuten auf der Straße, als die APO je auf die Beine gebracht hat. Heute profitieren viele davon, dass es vor Jahrzehnten diese Bewegungen gegeben hat. Die meisten politischen Bewegungen beginnen auf der Straße, damals wie heute.

Was bleibt von den 68ern? Hans-Christian Ströbele nimmt mit seinem Fahrrad bei einer Sitzblockade gegen Rechts teil. Veränderung beginnt auf der Straße, ist der Alt-68er bis heute überzeugt. – In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Foto: Thomas Peter/picture alliance

Ströbeles Credo: Veränderung beginnt auf der Straße und braucht einen langen Atem.

Sie gehen noch immer zum Protestieren auf die Straße, wann immer Sie können.

Ja sicher. Ich war unter den 250.000 in Berlin bei der Demo für Weltoffenheit und gegen Rechtsruck. Dass es einen langen Atem braucht, weiß ich aus meiner Biographie. Ich habe lange an fast jeder Demo in Berlin teilgenommen. Das erzähle ich etwa denen, die sagen: Nun war ich drei Mal auf einer Demo für die Agrarwende und es ist immer noch nichts passiert. Von Parteien habe ich nicht viel gehalten – trotzdem bin ich 1969 in die SPD eingetreten und 1975 rausgeworfen worden. Die Alternative Liste in Berlin habe ich mitgegründet, bin aber selbst erst zwei Jahre später eingetreten.

Raten Sie jungen Leuten, sich einzumischen?

Ja, aber ich würde niemanden überreden. Man sollte Teile seines Lebens gesellschaftlichen Belangen widmen. Das muss nicht in einer Partei sein, bewahre. Aber zum Beispiel in Sozial- oder Umweltprojekten. Mein Rat an Junge, die in die Politik wollen: Wenn, dann soll man sich voll darauf einlassen. Das ist nicht nebenher zu machen.

»Heute sage ich, parlamentarische Demokratie ist noch das Beste, was auf dem Markt ist – wenn sie denn so praktiziert wird, wie es sein sollte.«

Was bedeutet Ihnen der Bundestag, Ihre langjährige Arbeitsstelle? Ab 1985 waren Sie Mitglied für zwei Jahre. 1998 kamen Sie wieder und blieben 19 Jahre.

Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich bis Ende der 1960er Jahre überzeugt war, dass wir ein anderes Demokratiesystem brauchen. Die damalige parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik löste nicht ein, was an den Unis gelehrt wurde. Heute sage ich, parlamentarische Demokratie ist noch das Beste, was auf dem Markt ist – wenn sie denn so praktiziert wird, wie es sein sollte. Wichtige Entscheidungen und Gesetze sollten wirklich im Parlament getroffen bzw. verabschiedet werden, nicht außerhalb. Nach Rede und Gegenrede mit Argumenten, um den anderen zu überzeugen. Und nicht, indem vorbereitete Reden abgelesen und entlang der Fraktionsmeinung abgestimmt wird. In meiner letzten Rede im Bundestag habe ich die Kollegen gemahnt: Nehmt den Job ernst. Ihr seid nur euch selbst und den Wählern verantwortlich.

Ihre schwierigste Entscheidung im Parlament?

War die Abstimmung über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wenige Wochen nach dem 11. September 2001. Kanzler Gerhard Schröder hatte sie an die Vertrauensfrage gekoppelt. Wir waren letztlich vier in der rot-grünen Koalition, die gegen den Kriegseinsatz stimmten. Und ich stehe bis heute dazu. Der einzige Weg für Deutschland und alle, die dort mitmischen, heißt: raus aus Afghanistan.

Eines Ihrer großen Themen ist Transparenz.

Schon der Aufklärer Immanuel Kant hat gesagt, dass es in einer Republik kein Herrschaftswissen geben darf, das nur wenigen vorbehalten ist. Aber heutzutage gibt es unendlich viel vor der Bevölkerung geheim gehaltenes Wissen. Es bleibt der Öffentlichkeit verborgen, wenn sich niemand findet, der es öffentlich macht, wie Edward Snowden. Die Bevölkerung, zumindest ihre gewählten Vertreter, sollten von allem Wichtigen Kenntnis haben, damit sachgerecht entschieden werden kann. Heute ist es so, dass die Abgeordneten drei Tage vor der Verabschiedung langer Gesetze zuweilen einen halben Meter Akten erhalten – und sich bei der Abstimmung auf das Votum der jeweiligen Fachabgeordneten verlassen müssen.

Dabei galten gerade Sie immer als akkurat vorbereitet.

Ich habe mich zumindest bemüht, vor Abstimmungen die Gesetze zu verstehen. Ich habe nächtelang alle mir zugänglichen Papiere studiert, um mir eine eigene Meinung auch zu mir fremden Themen zu bilden. Besonders in Sitzungswochen hatten die Tage sehr viele Stunden. Ich hätte das gern weitergemacht, aber konnte nicht wegen des Stresses.

Was bleibt von den 68ern? Hans-Christian Ströbele in seinem Abgeordneten-Büro in Berlin. „Ich werde mich immer einmischen“, sagt der Alt-68er im Interview. – In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

"Ich werde mich weiter einmischen", sagt Ströbele, hier in seinem Berliner Abgeordneten-Büro.

Sie sind nicht mehr Mitglied des Bundestages. Aber Sie haben sich nicht ins Private zurückgezogen?

Ich twittere, schreibe Kolumnen und andere Texte, melde mich zu Wort. Ich bin weiter bei den Grünen aktiv, gehe zu den Parteitagen, wenn es meine Gesundheit zulässt. Ich werde mich weiter einmischen, denn grundsätzliche Fragen müssen diskutiert und gelöst werden. Wie geht es weiter in Europa, in der Welt? Wie werden Reichtümer künftig verteilt? Der Gegenpol zu diesen Fragen sind die einfachen Lösungen, sie heißen Nationalismus und Egoismus. Der Frust ist groß, wenn es um die Umsetzung von Versprechen von Regierungen und etablierten Parteien geht. Das zeigt sich überall von Griechenland bis Skandinavien, von Frankreich über Italien bis Deutschland. Und das zeigt sich zu Recht.

Wie weiter?

Die Probleme sind offensichtlich und Lösungen bekannt. Wir brauchen zum Beispiel eine völlig andere Welthandelspolitik. Während mehrerer Legislaturperioden im Entwicklungshilfeausschuss war ich öfter in Afrika und Lateinamerika. Solang wir unsere Billigprodukte in die dortigen Länder liefern, zerstören wir ihre Landwirtschaft, ihre Warenproduktion. Wir nehmen ihnen die Luft, verhindern den Fortschritt. Heutige Entwicklungshilfe kompensiert das nicht. Es machen sich mehr Menschen auf die Flucht. Und wenn wir dortigen Potentaten noch mehr Geld auf den Tisch legen – wie die Kanzlerin im vergangenen Jahr, um Flüchtlinge zurückzuhalten – dann versickert das nur in dunklen Kanälen. Wir müssen nachhaltiger handeln und Verträge schließen, die entscheidend von den Interessen der Länder des Südens bestimmt werden.

»Verlangt von der Politik, dass sie nicht nur allgemeine Statements verlautbart, sondern konkrete Lösungen vorschlägt – und die auch realisiert. «

Was würden Sie auf die Dringlichkeitsliste für die deutsche Demokratie setzen?

Abgeordnete sollten sich klarmachen, dass sie sich von ihrem Gewissen leiten lassen müssen und ihren Wählern verpflichtet sind. Ich halte es für unmöglich, dass nahezu alle Regierungsmitglieder auch Parlamentsmitglieder sind. Das schafft einen extra Machtfaktor innerhalb der Macht. Dabei haben wir Gewaltenteilung! Ich schüttele auch den Kopf über Frau Merkels Sprüche, die Flüchtlingsfrage müsse europäisch gelöst werden. Während sie das sagt, weiß sie, dass es nicht geht, denn die Hälfte der europäischen Länder macht nicht mit.

Und was schreiben Sie Ihren 80 Millionen Mitbürgern ins Stammbuch?

Verlangt von der Politik, dass sie nicht nur allgemeine Statements verlautbart, sondern konkrete Lösungen vorschlägt – und die auch realisiert. Sonst geht das schief mit der Demokratie. Gewaltsame Entwicklungen würden von rechts kommen.

Gibt es einen Moment, der herausragt in Ihrer politischen Biografie?

Ja, als ich im Jahr 2002 entgegen aller Prognosen das Direktmandat für den Wahlkreis Kreuzberg/Friedrichshain/Prenzlauer Berg-Ost gewonnen habe. Eigentlich war es aussichtslos. Dann entfiel auf mich die Mehrheit der Erststimmen. Es war ein glücklicher Moment. Das hat mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass es sich lohnt, seinen Weg beharrlich zu gehen, seinen Überzeugungen zu folgen und nicht der Parteidisziplin.

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Mit 80 Jahren kein bisschen leiser: Auch nach seinem Abschied aus dem Deutschen Bundestag mischt sich Hans-Christian Ströbele ein. Was ihn bewegt, steht auf seiner Internetseite: www.stroebele-online.de

GESPRÄCH: Birgit Kummer
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