No. 25 – ANGST

Menschen

Die Angst nach dem Schuss

Der ehemalige Polizist Jürgen Röhr war dem Tod schon einmal sehr nahe. Er wurde angeschossen und schwer verletzt, die Ärzte gaben ihm kaum eine Überlebenschance. Nach drei Monaten im künstlichen Koma kämpfte sich Röhr langsam ins Leben zurück. Er gründete eine Selbsthilfegruppe und hilft seitdem anderen Polizistinnen und Polizisten, mit ihren Ängsten nach einem Schusswaffengebrauch umzugehen.

Lesedauer ca. 8 Minuten

Jürgen Röhr überlebte nur knapp eine schwere Schussverletzung.

Bereits 22 Jahre war Jürgen Röhr als Polizist im Dienst, als ein Einsatz im Juni 2003 abrupt sein Leben veränderte. Nach einem Schusswechsel wurde er wegen schwerer köperlicher Schäden und einer Posttraumatischen Belastungsstörung in den Vorruhestand versetzt. Heute engagiert sich der 63-Jährige nicht nur in der Selbsthilfegruppe mit Kolleginnen und Kollegen, sondern auch als Notfallseelsorger. Ein Gespräch über die Angst bei schwierigen Einsätzen, das Trauma nach einem Schusswechsel und Röhrs veränderten Blick auf die eigene Endlichkeit.

Sie haben gerade den 20. Jahrestag des Einsatzes erlebt, bei dem Sie schwer verletzt wurden. Ein besonderer Anlass, sich zu erinnern?

Sie können das nie ablegen. Wie Sie nach so einem Erlebnis weiterleben, hängt davon ab, wie Sie es verarbeiten. Aber Sie können so eine Geschichte nie vergessen. Das bleibt immer.

Wussten Sie, dass es einen Schusswechsel gab, als Sie zu diesem Einsatz in Kreuzberg gerufen wurden?

Über Funk kam, wir sollten auf Eigensicherung achten, es sei geschossen worden. In der Ohlauer Straße stand der andere Funkwagen quer zur Fahrbahn. Dann habe ich den Mann gesehen, er stand auf dem Gehweg, in der einen Hand eine Zigarettenschachtel, in der anderen Hand eine Tageszeitung. Die Kollegen forderten ihn immer wieder auf, er soll sich an die Wand stellen und die Hände hoch nehmen. Der Mann hatte bereits seine Ex-Freundin und einen Radfahrer erschossen. Das wusste ich aber nicht. Ich habe keine Waffe an dem Mann gesehen und habe meine deswegen wieder weggesteckt.

Polizist mit der Hand an der Pistole

"Die Kugeln pfiffen umher und prallten an den Wänden ab, es war wie auf dem Schlachtfeld."

Dieser Mann hatte nur eine Zeitung und eine Schachtel Zigaretten in der Hand?

Genau, deswegen bin ich aus der Deckung raus. Mein Plan war, ihn im Laufen von hinten umzureißen und zu Boden zu bringen. Das hat fast funktioniert. Aber als ich ungefähr zwei Meter von ihm entfernt war, hat der Kollege gerufen, “geh aus der Schlusslinie, Röhrchen”. Der Mann ließ alles fallen und griff nach hinten unter sein Hemd. Da sah ich etwas Silbernes stecken. Ich wusste, dass es eine Waffe war, aber ich konnte nicht weg. Er hat sich sofort umgedreht und auf mich geschossen. Ich habe mich noch seitlich weggedreht, aber das hat wenig genutzt. Das Geschoss ist mir einmal quer durch den Körper geflogen.

Haben Sie dabei das Bewusstsein verloren?

Nein, ich bin hinter einem Transporter in Deckung gegangen. Dann fingen die Kollegen an zu schießen. Die Kugeln pfiffen umher und prallten an den Wänden ab, es war wie auf dem Schlachtfeld. Ein Mann kam schräg über die Straße gerannt und sagte, er sei Krankenpfleger. Er hat sich dann um mich gekümmert.

»Ich muster heute noch Leute, die auf mich zukommen, ob sie etwas Gefährliches in der Hand haben.«

Sie hatten schon über 20 Jahre als Polizist gearbeitet. Verliert man da die Angst bei solchen Einsätzen?

Man hat eigentlich keine Angst, aber natürlich Respekt. Ich bin in dem Beruf oft überrascht worden. Gerade als Schutzpolizist ist es gefährlich. Sie werden zu Ruhestörungen gerufen, zu Streitigkeiten in Familien. Sie wissen nie, was Sie erwartet. Da sind schon einige Kollegen zu Tode gekommen. Ich muster heute noch Leute, die auf mich zukommen, von oben bis unten, ob sie irgendetwas Gefährliches in der Hand haben. Das ist das Überleben in dem Beruf als Polizist.

Wenn ich Gewalt auf der Straße oder in der U-Bahn sehe, fangen meine Knie an zu zittern. Kennen Sie solche körperlichen Reaktionen gar nicht?

Doch. In meinen Anfangsjahren war ich bei den Einsätzen sehr aufgeregt. Ich habe manchmal mit zitternder Hand die Personalien aufgenommen. Aber im Laufe der Jahre bekommt man Routine und lernt, Menschen und Situationen einzuschätzen.

Sie haben 85 Tage im künstlichen Koma verbracht. Wie ging es danach weiter?

Ich konnte nichts mehr. Ich konnte nicht reden, ich wurde künstlich beatmet, ich hatte keine Muskeln mehr im Körper. Ich musste alles wieder lernen: essen, trinken, reden, laufen, eigentlich alles. Ein halbes Jahr nach dem Vorfall bin ich nach Hause gekommen. Es war eine schwierige Zeit. Ich hatte noch eine offene Wunde am Bauch und musste fast täglich ins Krankenhaus. Trotzdem war mein größter Wunsch, in den Dienst zurückzukommen und weiterzumachen. Ausgerechnet bei der psychosozialen Betreuung der Polizei wurde mir dann klargemacht, ich gehöre nicht mehr dazu.

Konnten Sie mit jemandem über den Vorfall sprechen?

Ich hatte immer das Gefühl, dass ich etwas falsch gemacht hatte, dass mir etwas vorgeworfen wird. Mein Chef meinte bloß, “alles gut”. Auch mit meiner Streifenpartnerin konnte ich nicht über den Fall reden. Wir haben uns richtig gestritten. Wie sie die Geschichte erlebt hatte, passte überhaupt nicht mit dem zusammen, was ich in Erinnerung hatte.

Der Schuss setzte Jürgen Röhrs bisherigem Leben ein Ende.

"Sie fangen an zu schwitzen und können nicht mal mehr aus dem Wagen aussteigen, weil Sie wie gelähmt sind."

Ging es dabei auch um Schuld?

Nein, es hängt mit etwas anderem zusammen. Wenn Sie angegriffen werden und Sie erleben Todesangst, dann haben Sie drei Möglichkeiten: entweder Sie greifen an, Sie fliehen oder Sie stellen sich tot. Ihr Gedächtnis kann die Eindrücke und das, was passiert, nur unvollständig und unsortiert abspeichern. Man kann alle Situationen trainieren, heutzutage sogar mit Virtual-Reality-Brillen. Aber was Sie nicht simulieren können, ist Todesangst. Deswegen können Sie nicht wissen, wie Sie oder Ihr Körper reagieren.

Dann haben Sie an einem Treffen der Selbsthilfegruppe nach Schusswaffengebrauch teilgenommen.

Beim ersten Treffen war auch ein Kollege, der 2002 beim Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt dabei war. Der erzählte, wie er sich mit dem Täter beschossen hatte, wie vor seinen Augen sein Kollege erschossen wurde und eine Lehrerin starb. In meinem Polizeileben hatte ich nie zuvor erlebt, dass jemand, der geschossen hatte, darüber spricht.

Haben Sie dann auch Ihre Geschichte erzählt?

Ich habe nur zehn Minuten geschafft. Dann musste ich rausgehen. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, was mir eigentlich passiert war, was das mit mir und mit meiner Familie gemacht hatte. Man konnte dort die ganze Geschichte erzählen, ohne sich dafür zu schämen, dass man Schwächen hat, oder dass man irgendwas erlitten hat, was nicht schön war. Die Wertschätzung, die ich da erlebt habe, hat mir viel Kraft gegeben.

»Wenn man wirklich die Waffe einsetzen muss, kriegt fast jeder ein Problem.«

Hatten Sie mit posttraumatischen Ängsten zu kämpfen?

Ja, natürlich. Schon während ich im Koma lag, hatte ich viele wirre Träume. Die konnte ich auch hinterher lange Zeit nicht einordnen und wusste nicht, ob das wirklich passiert war. Das waren zum Teil grausige, irrsinnige Träume. Zum Beispiel erkannte ich das Krankenhauspersonal an den Stimmen. Ich wusste, bei wem ich gut behandelt werde und bei wem schlecht. Ich habe dann geträumt, dass ich aus dem Krankenhaus geflohen bin und dass man mich wieder eingefangen und in ein Zimmer gesperrt hat. Die haben das Zimmer angesteckt und ich bin da verbrannt, solche Sachen. Natürlich habe ich auch geträumt, dass ich angeschossen werde.

Sie leiten seit 2007 selbst eine Selbsthilfegruppe. Was bewegt die Menschen in dieser Gruppe?

Es sind Kollegen dabei, die verletzt wurden, Kollegen, die geschossen haben, und Kollegen, deren Streifenpartner im Einsatz geschossen hat. Wir machen diesen Beruf nicht, um jemanden zu verletzen oder zu töten. Wenn man wirklich die Waffe einsetzen muss, kriegt fast jeder ein Problem, das macht etwas mit Ihnen.

Alpträume nach dem Schusswechsel

"Grausige, irrsinnige Träume"

Man hat dann Angst, nochmal in so eine Situation zu kommen?

Zunächst geht alles gut. Sie fangen wieder an, erstmal im Innendienst. Sie schlafen zwar nachts unruhig, Sie schwitzen, Sie haben Alpträume oder schreien vielleicht im Schlaf. Aber Sie denken, das geht doch wieder weg. Dann wollen Sie in den normalen Dienst zurück. Wenn Sie das zu früh machen, kommt genau dieser Moment, den die meisten unterschätzen. Sie steigen wieder in den Funkwagen und es gibt einen Angriff, der so ähnlich ist wie der Vorfall, den Sie erlebt haben. Ihr Körper reagiert sofort. Sie fangen an zu schwitzen und es kann passieren, dass Sie nicht mal mehr aus dem Auto aussteigen können, weil Sie wie gelähmt sind. Der Körper wehrt sich und will diese Situation nicht nochmal erleben.

Wie kann man diese Ängste überwinden?

Man muss über das Erlebte sprechen, mit Menschen, denen man vertrauen kann. Das Reden auf Augenhöhe, das Verstehen und Verstandenwerden ist in einer Selbsthilfegruppe ganz enorm. Das sind ja Dinge, die ein Außenstehender, der das selbst nicht erlebt hat, gar nicht verstehen kann.

»Es hat sich ein ganz anderes Leben entwickelt, das ich mir vorher nie hätte vorstellen können.«

Sie waren dem Tod sehr nah, verändert das die Einstellung zur eigenen Endlichkeit, zur eigenen Sterblichkeit?

Es ist mir später erst bewusst geworden, dass ich fast gestorben wäre. Inzwischen ist das 20 Jahre her und es hat sich ein wertvolles und ganz anderes Leben entwickelt, das ich mir vorher nie hätte vorstellen können. Ich habe ja vorher eigentlich nur funktioniert. Man lebt für die Arbeit, aber nie für das Leben.

Das hatte ein Ende, als Sie nach dem Vorfall in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurden.

Ich war Mitte 40, aber gefühlt habe ich mich wie am Ende meines Lebens. Das ganze soziale Umfeld bricht weg, Sie haben keine Arbeit, Sie haben nichts mehr. Die Ärzte sagten, “seien Sie doch froh, dass Sie noch leben.” Aber ich habe mich gefragt, warum ich überlebt habe, wenn ich so leiden muss? Ist das eine Art Bestrafung oder hat das einen anderen Sinn? Habe ich vielleicht überlebt, um jemandem damit zu helfen? So ist es am Ende ja tatsächlich gekommen.

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Sie sind seit 2009 auch als Notfallseelsorger tätig.

Bei der Polizei haben wir damals den Leuten Todesnachrichten überbracht, uns dann umgedreht und sind gegangen. Wir hatten überhaupt keine Zeit, uns damit auseinanderzusetzen. In solchen Fällen wird ein Notfallseelsorger gerufen. Und dann kommt jemand zu Ihnen, der für Sie da ist und Zeit hat. Der Ihnen in einem solchen Moment, in dem sich der Boden auftut, zeigt, wie Sie damit fertig werden können, wie es vielleicht für Sie weitergehen kann.

Mit Blaulicht zum Einsatz

"Bei der Polizei haben wir die Todesnachricht überbracht, uns umgedreht und sind wieder gegangen."

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, als Notfallseelsorger zu arbeiten?

Viele, die in der Notfallseelsorge tätig sind, haben selbst etwas Schlimmes erlebt und sind dabei von jemandem aufgefangen worden. Jetzt möchten Sie etwas zurückgeben. Ich weiß, was es bedeutet, wenn jemand nicht nur sagt, ich bin jetzt für dich da, sondern es auch so meint. Dann müssen sie aber auch die Trauer der Menschen aushalten. Die ersten Reaktionen können sehr unterschiedlich sein. Manche schreien, andere sagen gar nichts. Sitzen Sie mal mit jemandem eine Stunde zusammen, ohne zu sprechen. Es ist nicht leicht, das auszuhalten. Aber danach erfährt man große Dankbarkeit, weil man da war und unterstützt hat. Das ist mehr wert als irgendetwas anderes.

Sie haben immer wieder mit dem Tod zu tun, was erleben Sie dabei?

Das Größte, was wir tun können, ist, einem Verwandten beizustehen, wenn er diese Welt verlässt. Ihn zu stärken und nicht mit der Angst alleine zu lassen. Viele Menschen sterben im Krankenhaus. Ich habe aber auch erlebt, wie das ist, wenn die Tante oder die Oma stirbt und die ganze Familie anwesend ist, auch die Kinder. Es gehört ja zu unserem Leben dazu. Wir vergessen, dass wir nur endlich auf dieser Welt sind, aber nichts ist so sicher wie der Tod. Einfach nicht darüber zu reden macht es nicht besser. Im Gegenteil, es macht alles viel schwieriger.

»Als ich aus dem Koma wach geworden bin, musste ich gewaschen werden und alles. Das war mir sehr unangenehm.«

Wie blicken Sie selbst in die Zukunft, in das hohe Alter?

Als ich aus dem Koma wach wurde, konnte ich erstmal gar nichts. Ich musste gewaschen werden und alles. Das war mir sehr unangenehm, man hat ja ein Schamgefühl. Ich habe erlebt, dass es auch bei den Pflegenden solche und solche gibt. Die einen machen das sichtlich gerne und gut. Die anderen machen das nur, weil sie Geld verdienen müssen, und das merkt man. Ich denke, für die meisten Menschen ist es die schlimmste Vorstellung, in eine Pflegeeinrichtung oder ein Altenheim zu kommen.

Was bedeutet das für Sie?

Ich habe inzwischen eine Vorsorgevollmacht und eine Patientenverfügung. Das habe ich auch mit meinen Kindern besprochen, damit sie genau wissen, was im Ernstfall zu tun ist. Ich möchte nicht auf Maschinen angewiesen sein, ich möchte kein Pflegefall werden. Das möchte ich nicht erleben.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: Privat, iStock / Huettenhoelscher, picture alliance / Flashpic | Jens Krick, Stocksy / Evan Dalen, iStock / Franckreporter