Wo und was
ist Heimat?
Heimat ist eine Sehnsucht und ein Bedürfnis. Doch der Begriff hat seine Unschuld verloren. Kann es eine Heimat geben, ohne andere auszuschließen? Ist Heimat ohne Ort möglich? Zeit für ein neues Heimat-Konzept. Damit lässt sich nicht weniger als die Zukunft unserer Gesellschaft aushandeln.
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Für den einen ist es vielleicht die Weite der norddeutschen Tiefebene: baumlose Wiesen, der Wind, der die Wolken übers Land treibt, salzige Luft. Für den anderen ist es der Blick auf die Berge, das Ufer eines Sees, über den die Nebelschwaden ziehen. Der Philosoph und Publizist Christian Schüle hört in seiner Erinnerung noch immer die Kirchenglocken läuten, „als wäre es die Grundmelodie meiner selbst“, schreibt er. „Man könnte es Heimat nennen.“
Allerdings fühlen sich immer weniger Menschen derart stark mit einem Ort verwurzelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in der Bundesrepublik und der DDR, mehr als jeder sechste Einwohner war seiner Heimat beraubt. Sie fanden irgendwann ein neues Zuhause. Doch die neue Heimat blieb für viele ein Ersatz und ersetzbar.
Arbeit, Studium, Fernweh, Langeweile – es gibt viele Gründe, die Provinz zu verlassen.
Die zunehmende Mobilität trug das ihrige zum Heimatverlust bei. Vor allem ländliche Regionen sind bis heute von Abwanderung betroffen. Arbeit, Studium, Fernweh oder ganz einfach Langeweile – es gibt viele Gründe, die Provinz zu verlassen. Immer weniger Menschen leben tatsächlich an dem Ort, aus dem sie stammen, an dem auch schon ihre Eltern und Großeltern lebten.
Und immerhin ein Viertel der Menschen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Das heißt, man selbst oder zumindest ein Elternteil wurde im Ausland geboren, womit es wahrscheinlich gefühlt eine weitere Heimat gibt – mal empfunden als ein wichtiger Bezugspunkt, mal auch nur eine blasse Erinnerung an ein paar entfernte Verwandte und die Überreste einer anderen Sprache.
Ein Begriff zwischen den politischen Fronten
Mit anderen Worten: Im Alltag hat der Begriff Heimat stark an Bedeutung verloren. Und doch reden gerade alle von Heimat. Vorneweg die rechten Parteien. Die NPD bezeichnet sich seit ein paar Jahren als „soziale Heimatpartei“. Die AfD warb im Bundestagswahlkampf 2017 mit dem Spruch „Dein Land. Deine Heimat. Hol sie Dir zurück“. Heimat scheint zu einem Kampfbegriff geworden zu sein: Heimat als ein Ort, der geschützt werden muss gegen das Fremde.
So ist der Begriff in einen politischen Diskurs eingezogen. Auch andere Parteien haben ihn aufgenommen, um den Rechten nicht die Deutungshoheit zu überlassen. Prominentester Versuch in diese Richtung ist das Heimatministerium, das Horst Seehofer im Bundesinnenministerium eingerichtet hat. Einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2018 zufolge verbinden allerdings die meisten Deutschen mit Heimat eher eine Region oder einen Ort, nur sieben Prozent denken dabei an Deutschland als Nationalstaat.
Das Bedürfnis nach Heimat wächst. Sollte man die Deutungshoheit dem rechten Rand überlassen?
Für wieder andere ist ein unschuldiger Gebrauch des Begriffs Heimat gar nicht mehr möglich. „Man sollte den Begriff unbedingt dem rechten Rand überlassen“, schrieb beispielsweise der Journalist Daniel Schreiber im Februar 2018 auf ZEIT ONLINE. „Wenn man ihn übernimmt, legitimiert man sein nationalistisches, fremdenfeindliches und populistisches Potenzial.“ Dem widerspricht Susanne Scharnowski: „Wer Heimat zum Kampfbegriff macht, treibt die gesellschaftliche Spaltung voran.“ Die Literaturwissenschaftlerin hat sich mit ihrem Buch „Heimat: Geschichte eines Missverständnisses“ zwischen die politischen Fronten begeben, um den Begriff zu retten. „Immerhin zeigen Umfragen, dass für die meisten Heimat positiv besetzt ist.“
»Wer Heimat zum Kampfbegriff macht, treibt die gesellschaftliche Spaltung voran.«
Tiefe Sehnsucht nach der kleinen, heilen Welt
Offenbar gibt es eine Lücke, ein Bedürfnis, in das die rechten Parteien hineinstoßen. Je weiter die Globalisierung voranschreitet, der Einzelne immer weniger Kontrolle hat und grenzenlose Freiheit als Orientierungslosigkeit erlebt, desto mehr Menschen scheinen sich nach einer begrenzten, kontrollierbaren Welt zu sehnen. Heimat ist dann ein idealisierter Ort, an dem die Welt noch in Ordnung ist. Christoph Schüle spricht von einem Parodoxon: „Je globalisierter die Welt gerät, desto kleiner wird sie. Der Öffnung des Raums durch Entgrenzung folgt die Verschließung der Scholle durch Abschottung.“
»Je globalisierter die Welt, desto kleiner wird sie. Der Öffnung des Raums folgt die Verschließung durch Abschottung.«
Das tiefe Bedürfnis nach Heimat lasse sich auch in der Literatur wiederfinden, meint Susanne Scharnowski. So habe sich in den vergangenen 20 Jahren eine neue deutsche Heimatliteratur entwickelt. Es gibt eine Art „Boom der Dorfliteratur“: ob „Unterleuten“ von Juli Zeh, „Stadt Land Fluss“ von Christoph Peters oder Dörte Hansens „Altes Land“, um nur einige Beispiele zu nennen. Dieses Bedürfnis müsse anerkannt werden.
Heimweh kann nur empfinden, wer seine Heimat verlässt. Erst im Ausland werden wir zu Deutschen.
„Solange das Gefühl, das sich Heimweh nennt, bei kleinen und großen Kindern nicht ausstirbt, gibt es keinen vernünftigen Grund, das Wort Heimat aus der deutschen Sprache zu tilgen“, schreibt der Philosoph Christoph Türcke. Heimweh kann aber nur empfinden, wer seine Heimat verlässt. Erst wenn wir ins Ausland reisen, werden wir zu Deutschen: Wir werden mit Stereotypen konfrontiert und mit unserem geschichtlichen Erbe. Wir erinnern uns an die guten und die schlechten Seiten unserer Heimat, die wir oft auch kritisch sehen. Erst wenn sie fehlen, werden wir uns unserer alltäglichen Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten in ihren kleinen Details bewusst.
Heimat ist nicht nur ein Ort
„Heimat sind auch jene Wert- und Normvorstellungen, mit denen der Einheimische aufwächst, die ihn fundamental festigen, die Gewohnheiten formulieren und ein moralisches Korsett herausbilden“, schreibt der Philosoph Christoph Schüle. Heimat, das sind eben auch unsere Familie und unsere Freunde, Menschen, die wir gut kennen und die uns verstehen. Gerade für Menschen, die – freiwillig oder gezwungenermaßen – nicht mehr in ihrem Heimatort oder -land leben, können nahestehende Menschen das Zuhause bedeuten. Und lässt sich das nicht erweitern? Können nicht auch die Protestgruppe, das Netzwerk, das genossenschaftliche Hausprojekt oder der Verein eine Heimat sein?
Für Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, können andere Menschen das Zuhause bedeuten.
Letztlich lasse sich das Gefühl von Heimat nicht von einem Ort entkoppeln, meint Susanne Scharnowski. „Heimat ist eine physische Erfahrung. Ich muss eine Weile an einem Ort gelebt haben, um mich mit ihm verbunden zu fühlen.“ Diese Verbundenheit sei schließlich auch die Grundlage einer demokratischen Gesellschaft: „Heimat ist der Ort, den die, die dort wohnen, teilen und auf den sie sich gemeinsam beziehen, ganz gleich welcher Herkunft sie sind.“ Scharnowski ist überzeugt: Nur wer sich beheimatet fühlt, werde aktiv. „Was mache ich, wenn es mir nicht mehr gefällt? Gehe ich einfach weg oder tue ich etwas dagegen?“ Die Proteste gegen Bauprojekte wie Stuttgart 21, gegen die Gentrifizierung von Stadtvierteln oder gegen die Abholzung von Wäldern – auch hier gehe es schließlich um Heimatschutz.
»Heimat ist ein Ort, an dem man sich zugehörig fühlt, ohne dass dem widersprochen wird.«
Ein ähnliches Heimat-Konzept, das ein- statt ausschließt, hat auch Armin Nassehi. Der Soziologe bezeichnet Heimat als einen Ort, wo man sein kann, ohne rechtfertigen zu müssen, dass man da ist. Ein Ort, an dem man sich zugehörig fühlt, ohne dass dem widersprochen wird.
Heimat, das kann vieles sein – ein Synonym für Nationalismus, eine Sehnsucht, der Ort, von dem wir kommen, oder der Ort, an dem wir uns wohlfühlen. Heimat ist wie ein Kristallisationspunkt, an dem sich nicht weniger als die Zukunft unserer Gesellschaft aushandeln lässt. Man sollte das Wort nicht einfach verloren geben.
Zum Weiterlesen
Christian Schüle: Heimat. Ein Phantomschmerz. Heimat ist auch heute möglich – aber nicht durch die Beschwörung des Vergangenen, meint der Philosoph und Publizist Christian Schüle. Welche Möglichkeiten Gegenwart und Zukunft bieten und wie sie unsere Demokratie stärken, zeigt er in seinem Essay. Erschienen bei Droemer HC.
Susanne Scharnowski: Heimat. Geschichte eines Missverständnisses. Mit unserem wechselvollen Umgang mit Heimat beschäftigt sich die Literaturwissenschaftlerin von der Freien Universität Berlin in ihrem neuen Buch. Erschienen bei wbg Academic.
TEXT: Wibke Bergemann
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