No. 19 – GEMEINSCHAFT

Menschen

Mehr Nähe, mehr Reibung

Zu allen Zeiten waren Menschen auf Gemeinschaft angewiesen. Alleinsein bereitete den meisten sogar Angst. Heute dagegen lebt rund jeder Fünfte in Deutschland allein. Die Historikerin Prof. Eva Schlotheuber regt dazu an, sich von der Geschichte inspirieren zu lassen. Aus alten Ideen kann etwas Neues entstehen.

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Eine Menschenmenge auf einem Konzert – keine Gemeinschaft ohne Konflikte.

Eva Schlotheuber lehrt Mittelalterliche Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und war von 2016 bis 2021 Vorsitzende des Verbands der Historiker und Historikerinnen. Sie interessiert sich vor allem für das Zusammenleben in den weiblichen Klostergemeinschaften des Mittelalters. Schlotheuber erforschte unter anderem das um 1500 auf Lateinisch und Plattdeutsch verfasste Konventstagebuch einer anonymen Nonne – ein seltener Fund, der überraschende Einblicke in das Leben im Kloster gab. Ein Gespräch über menschliche Gemeinschaft – damals und heute.

Geht uns die Gemeinschaft verloren? Wie sehen Sie das als Historikerin?

Durch die staatliche Sozialfürsorge ist es heute möglich, dass sehr viele Menschen alleine leben. Das hat es in der Geschichte so zuvor nie gegeben. Im Mittelalter konnte man eigentlich nur in Gemeinschaften überleben. Wenn der Ehemann verunglückte oder eine Mutter bei der Geburt starb und kleine Kinder hinterließ – frühe Todesfälle waren ja sehr viel häufiger –, dann ist die gesamte Gemeinschaft eingesprungen, um zu helfen. Man hatte auch einen ganz anderen Blick auf das Alleinleben. Die einzigen, die das auf sich genommen haben, waren Eremiten. Das Eremitensein galt als die höchste religiöse Lebensform – weil das Alleinsein als unglaublich schwer wahrgenommen wurde. In der Vita des Antonius Eremita heißt es sehr schön: Wenn man allein ist, muss man gegen seine eigenen Dämonen kämpfen. Das heißt, man muss gegen die eigene Angst kämpfen. Davor schützt die Gemeinschaft.

Die Historikerin Eva Schlotheuber

"Wir sind eine hochverdichtete Gesellschaft. Dadurch werden die Unterschiede klarer erkennbar."

Klima, Geflüchtete und natürlich Corona – bei einigen Themen gibt es scheinbar unversöhnliche Standpunkte. Aber kann man von einer „Spaltung der Gesellschaft“ sprechen?

Das ist eine schwierige Frage. Einerseits sind wir durch die sozialen Netzwerke sehr eng zusammengerückt und wissen sehr viel mehr übereinander als früher. Wir sind eine hoch verdichtete Gesellschaft. Dadurch werden die Unterschiede klarer erkennbar, wenn man etwa an Corona und die Impfverweigerer denkt. Das ist eine neue Herausforderung, mit der wir lernen müssen umzugehen. Weil wir so viel voneinander wissen, werden die Spaltungen subjektiv tiefer wahrgenommen. Aber wenn man einen Schritt zurücktritt, sieht man: Objektiv waren die Spaltungen der Gesellschaft z.B. in der Vormoderne viel größer. Da gab es Unfreie, Adelige und Geistliche, die jeweils nach einem anderen Recht lebten. Man könnte sagen, die Spaltungen waren größer, aber die Reibungsflächen geringer.

Wie können wir mit diesen starken Reibungen umgehen?

Viele Leute fordern, so akzeptiert zu werden, wie sie sind. Sie sehen sich in einem Konflikt zum Uniformierungsdruck der Gesellschaft. Wir müssen eine Antwort darauf finden, wie wir als Gemeinschaft funktionieren und die innere Freiheit bewahren können, ohne uns gegenseitig im Anderssein zu verletzen.

»Schweigen hat sich im Laufe der Jahrhunderte als konfliktvermeidend erwiesen«

Eines Ihrer Spezialgebiete sind die Gemeinschaften im mittelalterlichen Kloster. Was macht sie so spannend?

Die religiösen Gemeinschaften haben sich durch die Klausur von der äußeren Welt abgeschnitten, damit sich eine innere Welt öffnen konnte. Das finde ich sehr faszinierend. Man hat sich Gedanken über das Verhältnis zu Gott gemacht, aber auch darüber, wie eine Gemeinschaft gut funktionieren kann. Die Nonnen oder Mönche lebten ja auf engstem Raum. Weil viele religiöse Gemeinschaften über Jahrhunderte bestanden haben, war das ein langer Lernprozess.

Und welche Regeln waren erfolgreich?

Interessanterweise ist der sehr strenge Kartäuser Orden, den es seit dem 11. Jahrhundert gibt, der einzige, der, wie es hieß, keine Reformen brauchte. Und zwar deswegen, weil dort bis heute geschwiegen wird. Das reglementierte Reden hat sich im Laufe der Jahrhunderte als konfliktvermeidend erwiesen. Man durfte ja allgemein im Kloster nur zu bestimmten Zeiten reden.

Heute würde man dagegen sagen, lass uns drüber reden! Denn Schweigen allein reicht natürlich nicht, was braucht eine Gemeinschaft außerdem?

Wer eine Regel übertreten hatte, musste dafür im Kapitelsaal, wo sich der ganze Konvent einmal am Tag versammelte, öffentlich büßen – indem er sich selbst anklagte oder von anderen angeklagt wurde. Die Nonnen haben außerdem sehr viel zusammen gearbeitet, in der Küche und im Garten, oder zusammen kunstvolle Teppiche gewebt. Da war vielleicht jemand dabei, der nicht lesen und schreiben konnte. Eine andere war vielleicht ein bisschen verrückt. Aber das spielte keine Rolle, weil in dem großen System Platz für jeden war. Man brauchte ja auch jeden.

Eine Menschenansammlung am Beilager eines Hochzeitspaares.

Die eine konnte nicht lesen und schreiben, die andere war vielleicht ein bisschen verrückt. Aber in dem großen System war Platz für jeden. Man brauchte ja auch jeden.

Gibt es Lehren, die man daraus für heutige Zeit ziehen kann?

Ja, beispielsweise zum Umgang mit dem Tod. Der wird ja heutzutage ganz weit in die Ecke geschoben, damit man ihn nicht mehr sehen muss. Im Mittelalter war der Tod viel präsenter. Man ist in der Öffentlichkeit gestorben, Familie und Nachbarn waren dabei und haben die Sterbenden begleitet. Es gab sehr wirksame und tröstende Rituale. Auch die Erinnerung an den Toten war sehr ausgeprägt. Dadurch entsteht ein ganz anderer Zusammenhalt, den der Historiker Gerhard Oexle als „Gemeinschaft der Lebenden und der Toten“ bezeichnet hat. Das nimmt die Angst vor dem Tod und bietet die Möglichkeit, über das Menschsein in einem tieferen Sinne zu reflektieren. Fragen, die heute nur noch in einem religiösen oder philosophischen Rahmen einen Platz finden, waren im Alltag präsent.

Sollten wir also die Geister der Ahnen wach halten?

Es geht nicht darum, die Modelle aus dem Mittelalter zu übernehmen. Man ist ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass zur Familie nicht nur die aktuell Lebenden gehören, sondern auch die Vorfahren und die Nachfahren. Das war ein Konstrukt, genauso wie unsere heutigen Vorstellung einer offenen individuellen Entwicklung jedes Einzelnen ein Konstrukt ist. Die Art und Weise, wie sich der Einzelne im Verhältnis zur Gemeinschaft wahrnimmt, hängt nicht zuletzt von den politischen und sozialen Strukturen ab. Wenn man das erkannt hat, kann man etwas Neues entwickeln. Geschichte bietet in diesem Sinne die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis von Gesellschaften.

»Das, was wir als Fortschritt bezeichnen, bedeutet eben auch, dass vieles in Vergessenheit gerät. «

Können Individualismus und Gemeinschaft denn zusammen funktionieren?

Ich denke, dass wir uns darum bemühen müssen. Wir können nicht rückwärts gehen. Aber wir sollten prüfen, was wir durch die Individuierung, also die Vereinzelung in der Gesellschaft verlieren und was von den alten Formen oder alternativen Lebenswürfen wertvoll ist. Geschichten und Geschichte hat man schon immer erinnern wollen und früh aufgeschrieben, um zu wissen, wie hat es mal funktioniert? Und dann können wir uns fragen, was machen wir heute daraus?

Sie waren die letzten fünf Jahre Vorsitzende des Verbands der Historiker und Historikerinnen. Was ist das für eine Gemeinschaft?

Das war lange ein recht konservativer Verband, der sich aber stark gewandelt hat. Die ganze Zunft hat sich sehr verändert. Insbesondere die mittelalterliche Geschichte war noch lange sehr männlich dominiert. Als zunehmend Frauen ein Studium der Geschichte aufnahmen und auch Lehrstühle mit Frauen besetzt wurden, hat sich die Fachkultur verändert: Neue Fragen wurden gestellt, zum Beispiel welchen Anteil Frauen an Politik, Wirtschaft und Kultur hatten. Sie waren vorher gar nicht oder nur als Ausnahmegestalten in den Blick geraten. So konnte man beispielsweise entdecken, dass Frauen im Mittelalter ein lohnendes Forschungsobjekt sind.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: froodmat / photocase, Matejovski Dreckmann, Classic Image / Alamy