Was uns zusammenhält
Ohne Mythen und Rituale wäre das Entstehen komplexer Gesellschaften nicht möglich gewesen. Auch heute machen Zeremonien und symbolische Gesten selbst abstrakte Konzepte wie Meinungsfreiheit oder Gleichheit aller Menschen sinnlich erfahrbar. Wir sollten Rituale kritisch hinterfragen. Aufgeben sollten wir sie nicht.
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Bei seiner Amtseinführung 2009 verwechselte der amerikanische Präsident Barack Obama an einer Stelle die Reihenfolge der Worte, die für den Eid in der amerikanischen Verfassung vorgeschrieben sind. Sofort meldeten sich verschiedene Stimmen und bezweifelten die Gültigkeit des Amtseides. Am nächsten Tag wiederholte Obama den Akt zur Sicherheit noch einmal, diesmal mit dem exakten Wortlaut. Das Ritual war vollzogen, jetzt war er wirklich Präsident. Das Beispiel zeigt: Offenbar können sich die Menschen dieser Magie bis heute nicht ganz entziehen.
Dabei wecken Rituale zwiespältige Gefühle. Sie erinnern an überholte Traditionen und menschenunwürdige Hierarchien. Abschreckende Beispiele gibt es genug: brutale Aufnahmerituale in amerikanischen Studentenverbindungen, patriotische Militärparaden, die der Machtdemonstration und Abschreckung dienen und natürlich die martialischen Fackelaufzüge der Nationalsozialisten. Doch ob sie nun für gute oder schlechte Zwecke genutzt werden: Gesellschaften brauchen Rituale.
»Am Anfang war der Tempel, dann erst kam die Stadt.«
Rituale in der Steinzeit
„Ohne Rituale gibt es keine gesellschaftliche Ordnung, keine Institutionen und auch keine dauerhafte soziale Struktur“, sagt die Historikerin und Ritualforscherin Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissenschaftskollegs in Berlin. Tatsächlich begleiten Rituale den Menschen vermutlich seit Urzeiten. Schon in den Bestattungsstätten aus der Steinzeit finden sich Hinweise auf einen rituellen Umgang mit dem Tod, etwa in Form von Grabbeigaben. In einer Höhle in Südafrika wurde dem Leichnam eines Kindes das Gehäuse einer Kegelschnecke beigelegt – vor ca. 76.000 Jahren.
Bei Ausgrabungen im südostanatolischen Göbekli Tepe wurde ein Heiligtum freigelegt, das vermutlich vor 12.000 Jahren errichtet wurde, also bevor die damaligen Jäger und Sammler anfingen, sesshaft zu werden. Eine mögliche Interpretation ist, dass es Mythen und Rituale waren, die die Menschen veranlassten, bei der Errichtung des Sakralbaus zu kooperieren und sich gesellschaftlich zu organisieren. Damit könnte die Sesshaftigkeit begonnen haben. Das würde bedeuten: Am Anfang war der Tempel, dann erst kam die Stadt.
Rituale erleichtern den Wechsel in einen neuen Lebensabschnitt...
Ob Abiturfeier oder Amtseinführung – Rituale verweisen auf den größeren Zusammenhang
Auch in der heutigen Welt sind Rituale allgegenwärtig. Trauerriten trösten Hinterbliebene nach dem Tod eines geliebten Menschen. Übergangsrituale wie Jugendweihe, Konfirmation oder die Abiturfeier erleichtern den Wechsel von einem Lebensabschnitt in den nächsten. Regelmäßig wiederkehrende Feste wie Weihnachten oder die Betriebsfeier strukturieren das Jahr und bieten Auszeiten vom Alltag.
Dabei verweisen Rituale immer auch auf einen größeren Zusammenhang und auf die gemeinsamen Werte, die Menschen miteinander teilen. Wenn wir jedes Jahr die Kerzenlichter auf der Geburtstagstorte ausblasen, feiern Familie und Freunde gemeinsam einen besonderen Tag im Leben des Geburtstagskindes. Genauso verdeutlicht auf politischer Ebene die feierliche Amtseinführung eines Bundespräsidenten die repräsentative Rolle, die ihm vom Grundgesetz zugewiesen wird.
...und wirken wie "soziale Magie".
Zusammenhalten stiften
Denn Rituale wirken auf mehreren Ebenen. Zum einen haben sie oft eine ganz handfeste Funktion. Wir tun etwas zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. „Ein Beispiel wären Regentanzrituale. Man kommt zusammen, man tanzt und singt, um den Regen herbeizuführen. Das ist das Offensichtliche. Außerdem gibt es eine latente Funktion. Das wäre in diesem Fall: Zusammenhalt stiften in einer krisenhaften Situation, in der Menschen dringend Regen brauchen“, erläutert der Soziologe Christian von Scheve von der Freien Universität Berlin eine Ritualtheorie, die von dem amerikanischen Soziologen Robert K. Merton stammt.
Beispiele dafür finden sich auch in der heutigen Gesellschaft: Mit der Heiratszeremonie verbinden sich zwei Menschen zu einem Paar. Der Promotionsakt macht aus Studierenden einen Doktor. Solche Rituale sind performativ – sie bewirken das, was sie darstellen und verändern unsere soziale Wirklichkeit. Doch zugleich schreiben sie auch die gesellschaftliche Ordnung fest. Der französische Soziologe Paul Bourdieu spricht von „sozialer Magie“.
»Rituale sind performativ – sie bewirken das, was sie darstellen und verändern unsere soziale Wirklichkeit.«
Mehr Rituale, aber weniger werden geteilt
In der pluralistischen Gesellschaft scheinen gemeinsame Rituale zunehmend an Bedeutung zu verlieren. „Mit der Differenzierung der Gesellschaft differenzieren sich auch die Rituale immer weiter aus“, beobachtet Stollberg-Rilinger. Die großen und kleinen Gebräuche, die eine Gesellschaft verbinden, werden weniger. Vor einigen Jahrzehnten wurde noch fast in jedem Haus Weihnachten gefeiert. Heute gebe es zwar immer mehr Rituale, aber immer weniger, die von allen geteilt würden, so die Historikerin.
Auch die politischen Rituale des Staates haben zumindest in Deutschland nicht mehr die große emotionale Kraft, die sie früher einmal hatten. Eine geschriebene Verfassung und bürokratische Verfahren, an denen sich Bürgerinnen und Bürger ausrichten, haben vielfach kollektive Rituale ersetzt, erklärt Stollberg-Rilinger.
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„Die Frage ist, will man eine starke Identifikation mit der Nation? Oder will man lieber eine heterogene Gesellschaft, die durch das Gesetz zusammengehalten wird? Für Deutschland ist klar, dass wir lieber eine nüchterne Verfassungstradition haben wollen. Zugleich könnten wir aber durchaus mehr Feierlichkeiten vertragen“, betont Stollberg-Rilinger.
»Wir könnten durchaus mehr Feierlichkeiten vertragen.«
Rituale der Versöhnung statt der Macht
Auffällig ist, dass sich der Charakter politischer Rituale verändert hat. Die Darstellung von Macht und Herrschaft ist in den Hintergrund gerückt, betont werden mehr verbindende Elemente. Ein berühmtes Beispiel ist der Kniefall Willy Brandts 1970 am Mahnmal für die Toten des Warschauer Ghettos. Brandts Geste war ein einmaliges Ereignis und damit streng genommen kein Ritual.
Doch der damalige deutsche Bundeskanzler bediente sich einer Geste, die seit alters her ein wesentliches Element vieler ritueller Handlungen ist: das Niederknien als Zeichen der Unterwerfung und Sühne, mit der man bei Gott und der Gemeinde um Vergebung bittet. „Brandts Geste war einerseits spontan, andererseits konnte sie nur verstanden werden, weil sie sich in eine alte Tradition der Schuldrituale einreihte“, sagt Stollberg-Rilinger.
Der Kniefall als Zeichen der Sühne ist Teil einer alten Tradition der Schuldrituale.
Versöhnungsrituale wie Willy Brandts Kniefall dienen dazu, Konflikte beizulegen und können dabei machtvoller sein als Worte allein. „Rituale sind essentiell, weil sie darauf ausgerichtet sind, das Gemeinsame zu betonen“, meint der Soziologe von Scheve. Ein Beispiel aus der Gegenwart seien Mediationen, bei denen ritualhafte Handlungen bewusst eingesetzt würden, um die beiden sich gegenüberstehenden Seiten einander anzunähern. „Zahlreiche Handbücher zum Organisationsmanagement in Unternehmen empfehlen den Vorgesetzten, Rituale mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchzuführen. Sie produzieren einen gemeinsamen Zusammenhalt und sollen damit auch Konflikte beilegen bzw. vorbeugen.“
Brauchen wir neue Rituale?
Abstrakte Konzepte wie Demokratie, Gleichheit aller Menschen oder Meinungsfreiheit lassen sich mit den Sinnen schlecht erleben. Umso wichtiger ist auch in einer Demokratie die öffentliche Inszenierung. „Damit Wertvorstellungen und Symbole wirksam werden, müssen sie in der Lage sein, Menschen zu bewegen. Die Körperlichkeit von Ritualen wie Mimikry und synchrones Verhalten ist dabei zentral“, erklärt von Scheve.
Vielleicht liegt darin ein Grund dafür, warum die Europäische Union bisher nicht so recht in den Herzen der Europäer angekommen ist. „Das Konstrukt EU beruht in erster Linie auf instrumentellen, rationalen Prinzipien und bleibt blutleer“, sagt von Scheve. „Auf europäischer Ebene gibt es kaum Ritualkonzepte, die Menschen in Europa miteinander verbinden und sie gemeinsam Emotionen erleben lassen.“
»Das Konstrukt EU beruht in erster Linie auf instrumentellen, rationalen Prinzipien und bleibt blutleer.«
Rituale lassen sich nicht anordnen
Ein positives Beispiel für funktionierende Rituale sind die Städtepartnerschaften, die auf kommunaler Ebene nach dem 2. Weltkrieg eingeführt wurden: mit Austauschprogrammen, Pflege der Kriegsgräber der ehemaligen Feinde und Feiern zu Ehren der Gäste. Eine wichtige Rolle spielten dabei die regelmäßigen Besuche und Gegenbesuche, bei denen sich die Menschen in kleineren und größeren Gruppen trafen, meint Stollberg-Rilinger „Unmittelbar persönlich anwesend zu sein, ist die Grundlage für die Kraft von Ritualen.“ So leisteten die Städtepartnerschaften einen wichtigen Beitrag bei der Überwindung der ehemaligen Feindschaften.
Lassen sich also neue Rituale schaffen, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken? Die Ritualforscherin Stollberg-Rilinger ist skeptisch: „Ich fürchte, so etwas kann man nur begrenzt von oben bestimmen. Bundespräsident Walter Steinmeier hat das versucht, als er vorschlug, wir alle sollten für die Toten der Corona Pandemie und ihre Angehörigen eine Kerze ins Fenster stellen, eine kleine rituelle Geste. Das hat bekanntlich nicht funktioniert.“
Das Beispiel Fridays for Future
In den meisten Fällen wachsen Rituale von unten aus der Gesellschaft heraus, meint Stollberg-Rilinger. Und zwar dann, wenn es ein großes Bedürfnis nach Veränderung gibt. Ein Beispiel seien die Fridays for Future-Demonstrationen. Die Versammlungen der junge Leute, die jeden Freitag gegen die aktuelle Klimapolitik protestieren, sind zu einer Art Ritual geworden: Sie haben einen großen emotionalen Effekt und wirken auch auf diejenigen, die nicht teilnehmen.
Kein Zweifel, wir sollten politische Inszenierungen und Rituale, die große Emotionen wecken, kritisch hinterfragen. Was ist jeweils das Ziel, was sollen sie bewirken? Aufgeben sollten wir die sinnlich erfahrbaren Zeremonien nicht. Sie sind auch in einer Demokratie nötig.
TEXT: Angelika S. Friedl
FOTOS: Picture Alliance / dpa|AFP, PCKaro / Photocase, daaarta / Photocase, Picture Alliance / dpa|dpa