No. 20 – MENSCHLICHKEIT

Menschen

„Die Klagen dienen nicht nur dem Einzelfall.“

Der Anwalt Wolfgang Kaleck setzt sich weltweit für Menschenrechte ein. Er wählt den Rechtsweg und klagt vor internationalen Institutionen, um gegen Staatsfolter und Mord ebenso wie gegen die Ausbeutung von Menschen im Globalen Süden zu kämpfen. Ein Gespräch über die Bedeutung von Urteilen und wie er trotz allem Unrecht nicht verzweifelt.

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Wolfgang Kaleck, Gründer des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)

Wolfgang Kaleck klagte schon gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und ist der europäische Anwalt von Edward Snowden. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen gründete er 2007 das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Die Menschenrechtsorganisation unterstützt unter anderem Folterüberlebende aus Syrien und klagt gegen Push-Backs an den europäischen Außengrenzen. Für sein Engagement erhielt der 61-jährige Kaleck zahlreiche Preise, darunter den Hermann-Kesten-Preis des PEN Zentrums Deutschland.

Herr Kaleck, Sie befassen sich mit teilweise fürchterlichen Menschenrechtsverletzungen. Wie schaffen Sie es, dennoch nicht zu resignieren?

Natürlich haben wir alle unsere dunklen Momente, in denen der Frust und auch die Antriebslosigkeit überwiegen. Aber bei dieser Arbeit hat man den Vorteil, dass man die schlechten Nachrichten nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch etwas dagegen unternehmen kann.

Für mich ist es sehr motivierend, dass ich nicht allein bin. Oft treffe ich an ganz ungewöhnlichen Orten ganz außergewöhnliche Menschen. Ich war zum Ende des Bürgerkriegs mit einer Menschenrechtsorganisation in Liberia. Da lag alles in Schutt und Asche. Wir haben Frauen getroffen, die sich trotzdem zu Organisationen zusammenschlossen, und Gewerkschafter, die sich neu organsierten. Wichtig waren für mich auch die Erfahrungen mit Exil-Syrerinnen und -Syrern, mit denen wir das Urteil in Koblenz erreicht haben. Die haben ganz schlimme Dinge erlebt und waren fast am Ende. Man konnte sehen, wie wichtig der Prozess für sie war.

»Für mich ist es sehr motivierend, dass ich nicht allein bin.«

In dem Prozess am Oberlandesgericht in Koblenz wurde im Januar der Vernehmungschef in einem syrischen Gefängnis wegen Folter und Mord verurteilt. Assad selbst ist aber weiterhin an der Macht.

Zum Leben gehört auch, mit unperfekten Zuständen zurechtzukommen. Man darf diese Art von Arbeit nicht am Maximum messen. Wenn ich so denke, dann bleibe ich zuhause und schaue Fernsehen. Das sind langwierige Prozesse und auf die hat man bestenfalls einen Einfluss. Man kann sich entscheiden, nichts zu tun, wie das vielleicht vor 25 Jahren noch die Regel war. Oder man kann sich darum bemühen, etwas aufzubrechen.

So wie meine Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig nach Koblenz gefahren sind, aber auch die Syrerinnen und Syrer, die sich der Aufgabe gestellt haben, als Nebenklägerinnen aufzutreten und im Prozess auszusagen, was ihnen passiert ist. Sie haben sich dafür entschieden, weil sie wussten, dass der Prozess auch in Syrien wahrgenommen wird. Das Urteil ist natürlich auch ein Urteil über das Assad-Regime, dessen systematische Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit klassifiziert wird. Als solches kann es auch in einem anderen Kontext wieder verwendet werden.

Eine Syrerin zeigt Bilder ihrer verschwundenen Angehörigen vor dem Oberlandesgericht Koblenz.

Wie kommen Sie an Ihre Fälle bzw. wie kommen die Fälle zu Ihnen?

Es ist wichtig, sich nicht nur mit staatlichem Unrecht wie Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu befassen, sondern auch mit den Aktivitäten transnationaler Konzerne im Globalen Süden. Bei diesem Thema gab es zu Anfang fast kein Interesse, weder bei den Anwältinnen und Awälten in Europa, noch bei Geldgebern, noch bei Gewerkschaften. Trotzdem haben wir daran gearbeitet. Wir haben uns sogar mit Menschenrechten in Lieferketten beschäftigt, obwohl alle gesagt haben, dass es ja gerade da keine rechtliche Verantwortung gebe, weil es das Wesen der globalisierten Lieferketten ist, jegliche Verantwortung outzusourcen. Dann kamen bei dem tragischen Brand in einer Textilfabrik im pakistanischen Karachi 2002 über 250 Menschen ums Leben. Wir sind sofort in Kontakt zu den Betroffenen und den Gewerkschaften vor Ort getreten und haben den Fall aufgenommen.

Die ECCHR war dann eine der Trägerorganisation der Initiative Lieferkettengesetz.

Das Lieferkettengesetz, das im vergangenen Jahr beschlossen wurde, ist noch schwächlich. Aber es hat für alle deutlich gemacht, dass Unternehmen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten unterliegen, egal, ob sie in Kassel oder Karachi produzieren lassen. Vor 15 Jahren, als wir angefangen haben, herrschte noch so ein Konsens, dass man außerhalb der Grenzen Europas eben nicht an die gleichen Regeln gebunden ist. Das ist die Logik, nach der man Gewerkschaften in Kolumbien zusammen mit Paramilitärs ruhigstellen kann, um geringere Löhne zu zahlen. Das muss man eben auch sagen, bei allem Übel in der Welt hat sich in den letzten Jahren einiges getan.

Ein überfülltes Holzboot mit Migranten, die von Libyen losgefahren sind

Bei Menschenrechtsverletzungen denken wir eher an andere Weltregionen. Neigen wir zur Weitsichtigkeit und sehen nicht, was direkt vor unserer Nase passiert?

Natürlich sind die Bedingungen für Menschenrechtsarbeit zumindest in großen Teilen von Europa besser als anderswo. Das ist ein Fakt. Das heißt aber nicht, dass hier keine Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Europa bezahlt Staaten dafür, dass sie den Menschen auf der Flucht die Wege abschneiden. Das führt dazu, dass die Leute in der Wüste verhungern oder in Libyen gefoltert werden. Und die, die an der Grenze ankommen, werden kollektiv abgeschoben, was gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Außerdem gibt es Abschiebungen in Länder wie Afghanistan, Irak oder Syrien, weil eine Richterin entscheidet, dort drohe keine Gefahr. Und dann werden die Menschen gleich in Haft genommen und misshandelt.

Das ECCHR vertritt eine junge Iranerin, die in Griechenland misshandelt und mehrfach zurück in die Türkei abgeschoben wurde. Was können Sie als deutsche Anwälte dort bewirken?

Das ist leider ein typischer Fall. An den europäischen Außengrenzen Türkei-Griechenland oder Marokko-Spanien, aber auch an den Innengrenzen werden immer wieder Menschen kalt abgeschoben. Das sind die so genannten Push-Backs, die gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Bei den Push-Backs haben wir mehrere Fälle vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und Beschwerde nach der UN-Kinderechtskonvention eingereicht. Die Klage am Europäischen Gerichtshof haben wir zwar verloren. Doch der UN-Kinderrechtsausschuss hat uns Recht gegeben, so dass Spanien jetzt Kinder nicht mehr einfach so abschiebt.

»Menschenrechte bedeuten, dass du nicht darauf angewiesen bist, dass Dir gönnerhaft Menschlichkeit widerfährt.«

Was haben Menschenrechte Ihrer Meinung nach mit Menschlichkeit zu tun?

Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn Menschlichkeit gepredigt wird. Auch die Wirtschaft sagt, dass sie natürlich der Menschlichkeit verpflichtet ist. Im Unterschied dazu bedeutet eine rechtliche Verankerung aber, dass du nicht darauf angewiesen bist, dass Dir gönnerhaft Menschlichkeit widerfährt. Du hast das Recht auf sauberes Wasser, das Recht auf vernünftige Ernährung, das Recht, nicht gefoltert zu werden und das Recht, Gerichte anzurufen, wenn du in deinen Rechten verletzt wirst.

Sie beschäftigen sich auch mit Klimaschutz. Was hat der mit Menschenrechten zu tun?

Klimaschutz ist natürlich im besten Fall auch Menschenrechtsschutz. Allerdings fordern Teile der Bewegung Klimaschutz, ohne die Menschenrechte der Betroffenen zu bedenken. Der Klassiker sind die Forderungen von Organisationen aus dem Globalen Norden, einen Dschungel in Amazonien zum Schutzgebiet zu erklären, so dass dann ausgerechnet die indigenen Gemeinschaften, die dort Jahrhunderte lang im Einklang mit der Natur gelebt haben, umgesiedelt werden. Ich kann als Klimaaktivist aus Hamburg oder Berlin nicht fordern, dass Indonesien diese oder jene Maßnahmen ergreift, ohne dabei indonesische Organisationen und Communities mit einzubinden.

Menschlichkeit zeigen: Rettungsboot auf dem Mittelmeer

Bevor Sie 2007 das ECCHR gründeten, haben Sie in Ost-Berlin als Rechtanwalt gearbeitet.

Viele anwaltliche Arbeit hat mit Menschenrechten zu tun, ohne dass das unbedingt draufsteht. Wir haben uns für die Rechte von Gefangenen im Strafvollzug eingesetzt und mit Kriegsdienstverweigerern befasst. Unsere erste Anwaltskanzlei war im Haus der Demokratie in der Friedrichsstraße 165, dem damaligen Hauptquartier der Bürgerrechtsbewegung. Wir haben mit dem Neuen Forum und anderen zusammengearbeitet. Da ging es dann um Einsicht in Stasi-Akten, um eventuellen Schadensersatzansprüche und so etwas. Das war eine ungewöhnliche Zeit, als Westdeutscher in Ostberlin anwaltlich tätig zu werden. Vieles, was ich da erlebt habe, hätte ich mir nie vorstellen können, als ich noch Jura im behüteten Bonn studierte.

Wie kam dann die Entscheidung, international tätig zu werden?

Bis Mitte der Neunziger Jahre war es schwierig, als Jurist menschenrechtlich über die Grenzen aktiv zu werden. Die Möglichkeiten haben sich, angefangen mit der Verhaftung Pinochets in London, nach und nach ergeben. Meine ersten Fälle auf diesem Gebiet, die Vertretung von deutsch-argentinischen Opfern der damaligen Militärdiktatur, habe ich zunächst von unserer Kanzlei aus betrieben. Irgendwann wurde klar, dass die Arbeit mehr Ressourcen und ein anderes Herangehen erfordert, deswegen haben wir das ECCHR gegründet. Damals haben viele Leute in Deutschland noch gar nicht verstanden, dass Klagen auch größeren Zielen dienen können als nur dem Einzelfall.

»Wirklich gefährlich ist es für meine Kolleginnen und Kollegen aus Syrien, aus Kolumbien, aus Indien, aus Russland. Die riskieren viel.«

Ist Ihre Arbeit eigentlich gefährlich?

Ich würde im Moment nicht nach Syrien fliegen, das ist schon klar. Ich würde auch in andere bestimmte Weltgegenden nicht fliegen, aber das würden Sie ja vielleicht auch nicht. Aber wirklich gefährlich ist es für meine Kolleginnen und Kollegen aus Syrien, aus Kolumbien, aus Indien, aus Russland. Die riskieren viel.

Ihr Vater ist als Kind nach dem zweiten Weltkrieg aus Königsberg geflüchtet, ihre Mutter ist aus Siebenbürgen in Rumänien gekommen. Haben diese Erfahrungen der Eltern Sie beeinflusst?

Offensichtlich schon, auch wenn ich das lange nicht wahrhaben wollte. Die deutsche Nachkriegsgeschichte war eine Geschichte von Verdrängung, der Verbrechen, aber auch des Leids. Die Generation meiner Eltern ist in dieser Zeit aufgewachsen. Man hat darüber nicht gesprochen und so war es auch bei uns. Aber ich denke schon, dass es eine große Rolle gespielt hat.

Indem das Elternhaus den moralischen Kompass ausgerichtet hat?

Genau. Andererseits muss man auch sagen, selbstverständlich ist das nicht. Es gibt Leute, die sind erst vorgestern geflohen und haben Zuflucht gefunden. Und wenn dann morgen ein Mensch mit ganz ähnlichen Problemen vor der Tür steht, schimpfen sie. Auch das gibt es ja. Aber offensichtlich habe ich eher eine menschenfreundliche Erziehung genossen.

Zum Weiterlesen

Wolfgang Kaleck: Die konkrete Utopie der Menschenrechte. Ein Blick zurück in die Zukunft. Ein Plädoyer dafür, die wirtschaftlichen Grundlagen von Menschenrechten stärker mit in den Blick zu nehmen und den Globalen Süden miteinzubeziehen. Erschienen im Fischer Verlag.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
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