No. 23 – WERTVOLL

Impulse

Schülerpatenschaften – weil sie es wert sind!

Viele Schülerinnen und Schüler haben kaum eine Chance, einen guten Schulabschluss zu machen. Schülerpatenschaften können helfen: Hier geben Ehrenamtliche benachteiligten Kindern Nachhilfe. Sie fördern nicht nur die Lust am Lernen, sondern lernen auch selbst viel dabei.

Lesedauer ca. 5 Minuten

Schülerpatenschaften: Ehrenamtliche helfen bei Problemen in der Schule

Zweimal die Woche kommt Tatiana de Hoog zu dem 11-jährigen Amir (Name geändert) nach Hause, um ihm Nachhilfe zu geben. „Sein Deutsch ist eigentlich schon ziemlich gut“, sagt sie. Dennoch sei die letzte Deutsch-Klassenarbeit nicht so gut ausgefallen. „Aber wie soll denn so ein Kind auch wissen, was ein Wortstamm ist?“ Also habe sie Amir erklärt, wie die Wörter „Arbeitsheft“, „Arbeiter“ und „arbeiten“ zusammenhängen. „Nach einer Stunde hatte er es verstanden und konnte die Aufgaben lösen.“

Die Nachhilfe mit Amir erfordere ein wenig Geduld, gesteht die 73-Jährige. Doch sie bekommt viel zurück, zum Beispiel gute Laune. „Amir hat viel Spaß am Lernen und ist sehr glücklich, dass ich ihm dabei helfe“, erzählt de Hoog. Amir, der vor vier Jahren aus Syrien nach Deutschland kam, sei ein schlauer Junge. Nur mit der Sprache habe er es eben doppelt so schwer wie die anderen Kinder.

»Er flog lieber aus dem Unterricht, als zugeben zu müssen, dass er etwas nicht verstanden hatte.«

„Eine der wichtigsten Rückmeldungen, die wir bekommen, ist, dass sich durch die Patenschaften die Einstellung der Kinder und Jugendlichen zur Schule verändert, dass sie anfangen, gerne zur Schule zu gehen und sich am Unterricht zu beteiligen“, sagt auch Karim El-Helaifi.

Der junge Mann ist Mitbegründer der Schülerpaten Berlin e.V. und betont, wie wichtig diese Unterstützung für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sei. Das zeige schon die lange Warteliste. Seit 2009 konnte der Verein in Berlin über 1.100 Nachhilfe-Tandems wie Amir und Tatiana de Hoog zusammenbringen. Außerdem wurden weitere Standorte in Dortmund, Frankfurt am Main, Hamburg und München ins Leben gerufen.

Kinder beim Lernen unterstützen, für eine gute Bildung

"Die Kinder und Jugendlichen fangen an, wieder gerne zur Schule zu gehen."

El-Helaifi ist überzeugt, dass sich mit einer Schülerpatenschaft viel bewirken lässt. Er erinnert sich, wie er selbst vor ein paar Jahren einen 16-Jährigen bei den Hausaufgaben begleitete: „Der Junge hatte den Mittleren Schulabschluss im ersten Anlauf nicht bestanden, hatte ein geringes Selbstwertgefühl und galt als verhaltensauffällig.“

Beim Üben stellte El-Helaifi dann fest, dass der Junge zwar lesen konnte, aber das Gelesene kaum verstand, weder längere Texte im Deutschunterricht, noch die Aufgabenstellung in Mathe. „Er flog lieber aus dem Unterricht, als zugeben zu müssen, dass er etwas nicht verstanden hatte.“ Ein halbes Jahr lang übten die beiden Leseverständnis. Mit Erfolg: Der Junge beteiligte sich mehr am Unterricht, störte immer weniger und machte am Ende den Abschluss, wie El-Helaifi stolz erzählt.

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Für viele Menschen das Wichtigste: ihre Familie

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Das Ziel: Mehr Chancengleichheit

Alle reden von Chancengleichheit. Gleiche Chancen bedeutet, dass Faktoren wie Geschlecht, soziale Herkunft, Wohnort und Religion keine Rolle spielen dürften. Doch ob ein Schüler beziehungsweise eine Schülerin Abitur macht oder sogar ganz ohne Abschluss von der Schule geht, darüber entscheidet hierzulande noch immer in hohem Maße der familiäre Hintergrund. Von Kindern, die in einem benachteiligten Haushalt aufwachsen, schaffen es lediglich 31 Prozent, Abitur zu machen. Bei den Kindern aus privilegierten Familien sind es dagegen 79 Prozent.

Spaß am Lernen und Lesen: in der Bibliothek

Gleiche Chancen bedeutet, dass Faktoren wie Geschlecht, soziale Herkunft, Wohnort und Religion keine Rolle spielen dürften.

Der Bildungsbericht der Bundesregierung macht drei Risikofaktoren aus: einen niedrigen Bildungsstand der Eltern, Arbeitslosigkeit der Eltern und eine Armutsgefährdung des Haushalts. Besonders Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund schneiden in der Schule durchschnittlich schlechter ab. Studien zeigen, dass Lehrkräfte mitunter Schülerinnen und Schülern, die nicht der deutschen Mittelschicht entstammen, weniger zutrauen und sie sogar bei gleichen Leistungen schlechter benoten.

Enger Kontakt zur Familie

Auch bei den Schülerpaten Berlin spielen die Eltern eine wichtige Rolle. Es waren arabischsprachige Mütter im Stadtteil Schöneberg, die den Anstoß zur Gründung des Vereins gaben. Mütter, die weder Nachhilfe bezahlen noch ihre Kindern selbst unterstützen konnten und dringend Hilfe suchten, wie El-Helaifi erzählt. „Die Patenschaften waren von Anfang an auch ihr Projekt, der enge Kontakt zu den Familien ist ein Kernstück des Konzepts geblieben“, so El-Helaifi. Der Austausch untereinander sei wichtig. Und so wirken die Patenschaften nicht nur gegen die Bildungsbenachteiligung der Kinder und Jugendlichen. Auch die Ehrenamtlichen profitierten davon, weil sie Menschen begegnen, die sie sonst vielleicht nie kennengelernt hätten und so ganz nebenbei ihre eigenen Vorurteile infragestellen.

Tatiana de Hoog erzählt, wie dankbar Amirs Mutter für die Hilfe ist: „Die ganze Familie überlässt uns für zwei Stunden das Wohnzimmer und stört nicht, aus Respekt vor dem Lernen.“ Demnächst werden sie zu dritt ins Kino gehen, de Hoog, Amir und seine Mutter. „Die Familie ist unsicher und möchte nicht, dass der Junge alleine mit mir ins Kino geht.“ Doch natürlich sei das auch eine gute Gelegenheit, sich gegenseitig besser kennenzulernen.

Spaß am Lernen und Lesen: in der Bibliothek

"Die ganze Familie überlässt uns für zwei Stunden das Wohnzimmer, aus Respekt vor dem Lernen.“

De Hoog war selbst ihr Leben lang „Ausländerin“, wie sie sagt. Sie ist in Südamerika aufgewachsen, hat dort Spanisch gelernt. In ihrer Familie wurde erst Niederländisch, später Deutsch gesprochen, zum Studium in Frankreich lernte sie schließlich Französisch. In Berlin hat de Hoog lange als Verhaltenstherapeutin gearbeitet und dabei viel mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen zu tun gehabt. „Aber mit Amir ist das etwas ganz anderes. Er ist ja sehr motiviert. Er braucht die Grundlagen: Deutsch lesen und schreiben.“ Dann werde es bei ihm gut laufen, meint de Hoog.

Wer passt zusammen?

Wer sich bei den Schülerpaten bewerben möchte, gibt an, in welchem Fach er oder sie Nachhilfe geben kann, beispielsweise „Mathe für Grundschüler“ oder „Deutsch bis 12. Klasse“. Anhand dieses Profils wird ein passendes „Patenkind“ gesucht. Mit allen Bewerberinnen und Bewerbern gibt es zudem ein persönliches Gespräch. „Wir wollen, dass die Ehrenamtlichen realistische Erwartungen davon haben, was eine Patenschaft leisten kann“, sagt El-Helaifi. „Denn wir werden nicht jedes Kind von einer Note 5 auf eine 1 bringen.“ So sollen die Patinnen und Paten vor Enttäuschungen geschützt werden.

»Amir ist ja sehr motiviert. Er braucht nur die Grundlagen: Deutsch lesen und schreiben.«

Regelmäßig bietet der Verein zudem Fortbildungen für seine Ehrenamtlichen an, etwa zu Fragen, was Paten und Patinnen tun können, wenn ein Kind Diskriminierungen in der Schule erlebt, oder wie man einem Kind, das eine andere Muttersprache hat, Deutsch beibringt. Andere Workshops geben Einblick in die Vielfalt der arabischsprachigen Community in Deutschland: die verschiedenen Nationalitäten, sozialen Bedingungen, Religionen und Herkunftskulturen. Zudem kommen die Eltern, die Schülerinnen und Schüler und die Ehrenamtlichen jedes Jahr zu einem großen Sommerfest zusammen.

Eine „unentschuldbare Ungerechtigkeit“

Über 20 Jahre liegt der so genannte Pisa-Schock mittlerweile zurück. Bei dem internationalen Vergleich der schulischen Leistungen lag Deutschland damals im unteren Drittel. Zudem zeigte sich, dass nur in wenigen anderen Ländern der Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und schulischen Kompetenzen so groß wie in Deutschland war. Bundespräsident Köhler sprach damals von einer „unentschuldbaren Ungerechtigkeit“ für die Betroffenen und beklagte darüber hinaus für die Gesellschaft eine „Vergeudung von Humanvermögen“.

Ungleiche Voraussetzungen schon ab dem Start in die Schule

Das Motto vieler Schulen: Ungleiches ungleich behandeln.

Seitdem tut sich was in der deutschen Schullandschaft. Immer mehr Schulen werden zu Ganztagsschulen ausgebaut. Das frühe Aussieben der Kinder auf Gymnasium, Real- und Hauptschule wird teilweise abgelöst durch integrierte Schulformen und Gesamtschulen, an denen Kinder und Jugendliche gemeinsam von der 1. Klasse bis zu ihrem jeweiligen Abschluss unterrichtet werden.

Viele Schulen versuchen zudem, die unterschiedlichen Lebenssituationen ihrer Schüler und Schülerinnen zu berücksichtigen. Das Motto: Ungleiches ungleich behandeln. Es gibt Sprachförderung und personalisiertes Lernen, um den verschiedenen Kompetenzen gerecht zu werden.

»Mit jeder Nachhilfestunde kommt Amir der Möglichkeit ein Stückchen näher, ein guter Schüler zu werden.«

Vor allem der Ausbau des Kita-Angebots in den vergangenen Jahrzehnten ist ein Erfolg. Fast jedes Kind in Deutschland besucht mittlerweile mindestens ein Jahr lang eine Kita, bevor es eingeschult wird. Und dennoch sind die Ergebnisse dieser Bemühungen weiterhin bescheiden. Lediglich eine leichte Verbesserung der Chancengleichheit bescheinigte der letzte Pisa-Bericht Deutschland. Umso wichtiger bleiben daher weitere Möglichkeiten, benachteiligte Schülerinnen und Schüler zu fördern.

Ein Versprechen

„Es tut gut, zu sehen, wie Amir mit jeder Nachhilfestunde der Möglichkeit, ein guter Schüler zu werden, ein Stückchen näher kommt“, sagt Tatiana de Hoog. Manchmal seien die Aufgaben aus der Schule auch für sie selbst eine Herausforderung. Gemeinsam mit Amir schaue sie sich dann Lehrvideos im Internet an, bei denen auch sie noch viel lernen könne.

„Ich bin nicht Schülerpatin geworden, weil ich mich langweile. Im Gegenteil, ich habe ein tolles Leben.“ De Hoog erzählt von ihrer Leidenschaft fürs Klavierspielen, ihrem großen Freundeskreis, von dem Chor und regelmäßigen Theaterbesuchen. „Aber wenn ich mich nur damit beschäftigen würde, könnte ich nicht in den Spiegel schauen.“ Mindestens ein Jahr lang werden sie und Amir zusammen lernen. „Das habe ich versprochen, darauf muss sich der Junge verlassen können“, sagt de Hoog und man merkt, wie sehr sie sich auf die gemeinsame Zeit freut.

TEXT: Wibke Bergemann
FOTOS: Kallejipp / Photocase, Michal Parzuchowski / Unsplash, Przemekklos / Photocase, Complize / Photocase, Angela Lumsden / Stocksy