No. 24 – WEGE

Wissenswertes

Das kann doch kein Zufall sein!

Unerwartete Ereignisse begleiten uns das ganze Leben lang. Eine bestimmte Begegnung, ein entscheidener Anruf, die richtige Information im richtigen Moment: Manche Zufälle sind schier unglaublich. Wenn wir die Gunst der Stunde erkennen, können wir das Unvorhersehbare nutzen.

Lesedauer ca. 5 Minuten

Ein Lichtstrahl aus der Hand Jesu oder ein zufällig vorbeifliegendes Flugzeug?

Es gibt Vorfälle, bei denen wir erstaunt ausrufen: „Das gibt’s doch nicht! So ein Zufall!“ Vorfälle wie der Anruf des künftigen Arbeitgebers, der mich nur deswegen erreicht, weil ich mir kurz vorher das Knie angestoßen habe und zu Hause geblieben bin. Oder die Geschichte vom Heliumballon, die der Wissenschaftsautor Stefan Klein in seinem Buch Alles Zufall erzählt: Ein Hamburger ließ den Ballon in einer Silvesternacht in den Himmel steigen, versehen mit seiner Telefonnummer. Der Ballon flog Hunderte Kilometer weit und landete schließlich nicht irgendwo, sondern ausgerechnet im Apfelbaum seines alten Freundes aus der Kindheit. Die beiden Männer hatten sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Nun konnten sie ihre Freundschaft erneuern, der Ballon hatte es möglich gemacht.

Warum spiegelt sich zufällig ein Karussell in der Pfütze?

„Zufall bezeichnet das unberechenbare Geschehen, das sich unserer Vernunft und unserer Absicht entzieht.“ So brachten bereits Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch zwei Aspekte des Zufalls auf den Punkt: seine Unberechenbarkeit und unseren Umgang damit. In der Mathematik arbeitet die Stochastik mit Wahrscheinlichkeiten – und macht den Zufall damit ein Stück weit berechenbarer.

Je mehr Gefühl, desto mehr Bedeutung

Mindestens so interessant ist die psychologische Erforschung des Zufalls: die Art und Weise, wie wir ein unerwartetes Ereignis wahrnehmen und interpretieren. Ich bin beispielsweise in der Fußgängerzone meiner Stadt unterwegs, weil ich einen Arzttermin habe und treffe dort überraschend einen Bekannten. Ein unwahrscheinliches Ereignis, denn normalerweise meidet er diese Straße. Aber heute muss er dringend einen bestimmten Artikel kaufen. Ob ich diesem Zufall letzendlich Bedeutung zuschreibe, hängt vor allem davon ab, wie stark die Gefühle sind, die das Ereignis bei mir auslöst.

Fotostrecke

Die Fotos auf dieser Seite stammen aus dem coincidence project („Zufallsprojekt“) des Fotografen Denis Cherim, einer Sammlung wundersamer visueller Zufälle im Alltag. Cherim wurde in Rumänien geboren und ist in Spanien aufgewachsen. Er studierte Grafikdruck, Illustration und Prägekunst an der Schule für Gravur und Grafikdesign der Königlichen Münzstätte Spaniens. Bilder von ihm sind bis Dezember 2024 auch im Berliner Urban Nation – Museum for Contemporary Art zu sehen.

Der Psychiater C. G. Jung prägte den Ausdruck „Synchronizität“ und erzählte dazu eine berühmte Geschichte. Während einer Therapiesitzung berichtete eine Patientin von einem Traum, in dem ihr ein goldener Skarabäus, ein Glückskäfer, geschenkt wird. In diesem Moment hörte Jung ein Klopfen am Fenster. Ein großes Insekt war gegen die Scheibe geflogen. Jung öffnete das Fenster und fing den Käfer. Es war ein Blatthornkäfer, ein naher Verwandter des Skarabäus. Angeblich half das Ereignis, die bisher schwierige Therapie der Patientin in Schwung zu bringen.

»Dass Dinge entgegen jeder Wahrscheinlichkeit geschehen, widerspricht unserem Bedürfnis nach Ordnung.«

Wir suchen nach Mustern

Steckt hinter solch unglaublichen Zufällen nicht doch ein tieferer Sinn, sogar göttliche Vorherbestimmung? Wir hadern mit dem Zufall. Dass Dinge entgegen jeder Wahrscheinlichkeit geschehen, widerspricht unserem Bedürfnis nach Ordnung. Menschen wollen verstehen, wie die Welt funktioniert. Lernen bedeutet in erster Linie, Zusammenhänge zu erkennen. Unser Gehirn sucht daher ständig nach Mustern und Gesetzmäßigkeiten. Zwei Ereignisse, die direkt nacheinander geschehen, scheinen zusammenzuhängen und wir glauben, Ursache und Wirkung zu erkennen.

Zufälle bringen Glück und Unglück.

Warum ruft ein geliebter Mensch gerade dann an, wenn wir an ihn denken? War das nicht Telepathie? Die meisten Menschen hatten diesen Gedanken wahrscheinlich schon einmal, ein klassisches Beispiel für selektive Wahrnehmung. Denn die unzähligen Male, die wir an den geliebten Menschen denken, ohne dass das Telefon klingt, bemerken wir gar nicht. Aber das eine Mal, bei dem es gleichzeitig klingelt, erscheint uns wie ein kleines Wunder.

Futter für Verschwörungstheorien

Auch Mythen und Verschwörungserzählungen bedienen unser Bedürfnis nach Regeln. Es kann doch kein Zufall sein, wenn sich ein gefährliches Virus plötzlich weltweit ausbreitet. Da steckt doch ein geheimer Plan dahinter, um uns zu manipulieren, zu unterdrücken oder sogar die Weltbevölkerung zu dezimieren. Oder warum taucht die Zahl 11 immer wieder rund um die Anschläge vom 11. September 2001 auf?

»Verschwörungstheorien entspringen einer Weltsicht, in der es keinen Zufall gibt.«

Die Quersumme des Datums, 11.9., ist 11. Die Flugnummer der American-Airlines-Maschine war 11. Die Zahl der Passagier war 92, Quersumme 11. In einer weiteren Maschine saßen 65 Passagiere, nochmal Quersumme 11. Kann das noch Zufall sein? Ja, es kann. Denn rund um die Anschläge gibt es mindestens ebenso viele Zahlen und Daten, die keinen Bezug zur 11 haben. Das Beispiel mag abwegig sein, doch es hat etwas mit vielen anderen Verschwörungstheorien gemein. Sie alle entspringen einer Weltsicht, in der es keinen Zufall gibt, sondern nur die bösen Absichten der Verschwörer.

Ein Schatten und ein Baum, durch Zufall zusammengewachsen.

Wer dagegen den Zufall akzeptiert, muss damit leben, dass viele Ereignisse völlig sinnlos geschehen, ohne Zusammenhang und ohne Erklärung. Die gute Nachricht dabei: Manchmal können uns Zufälle die Tür zu etwas Neuem öffnen. Wir müssen allerdings in der Lage sein, die Bedeutung des Augenblicks zu erkennen. Wir können zwar nicht beeinflussen, ob etwas Unerwartetes passiert. Wir können aber entscheiden, wie wir darauf reagieren, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Christian Busch in seinem Buch Erfolgsfaktor Zufall. Ob wir die Chancen eines Vorfalls sehen, hängt davon ab, ob wir offen und neugierig sind, ob wir ausgetretene Pfade auch mal verlassen, um uns mit neuen Ideen zu beschäftigen.

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Zufällige Erfindungen

Zahlreiche Erfindungen und Neuerungen gehen auf einen Zufall zurück, wie etwa die Kartoffelwaschmaschine. Sie wurde erfunden, weil sich ein Bauer bei einem Waschmaschinenhersteller über die Ausfälle seiner Waschmaschine beschwerte. Die Maschine war immer wieder kaputt gegangen, weil der Bauer seine Kartoffeln in ihr wusch. Der Hersteller nutzte den Vorfall, baute in seine Waschmaschinen einen Schmutzfilter ein und konnte so erfolgreich ein neues Produkt verkaufen.

Hätte die Firma den Bauern nur auf seinen Fehler hingewiesen, wäre die Kartoffelwaschmaschine – jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt – nicht erfunden worden. Oder wenn man an das Beispiel des Heliumballons im Apfelbaum denkt: Der Mann entdeckte den daran befestigten Zettel, wählte die unbekannte Telefonnummer und hatte plötzlich seinen Freund aus Kindertagen am Apparat. Wenn er sich nur über den fremden Ballon in seinem Garten geärgert hätte, wären sich die beiden vermutlich nie mehr begegnet.

Das muss doch mehr sein als reiner Zufall!

Auch der amerikanische Psychiater Bernard Beitman ist davon überzeugt, dass man Zufälle gezielt für sich nutzen kann. Bei seinen Untersuchungen entdeckte er, dass Menschen ganz unterschiedlich auf glückliche oder schicksalhafte Zufälle reagieren. Beitman empfiehlt in seinem Buch Connecting with Coincidence ein Zufallstagebuch zu führen. Aus einer schreibenden Distanz, sagt er, falle es leichter, einen Zusammenhang hinter seinen Erfahrungen zu erkennen. Sowohl Beitman als auch Christoph Busch glauben, dass erfolgreiche Karrieren entscheidend von glücklichen Zufällen bestimmt werden. Und dass es möglich ist, die Anzahl dieser Zufälle zu erhöhen.

Serenpendität – offen sein für Zufälle

Was uns dabei im Wege stehen kann, ist die Vorstellung, dass das Leben geradlinig verlaufen würde. Denn unerwartete Dinge passen nicht in die Planung. Dabei sind sie Christoph Busch zufolge ein entscheidender Faktor im Leben. Das Zusammenspiel von Zufällen und menschlichem Handeln wird auch „Serendipität“ bezeichnet. Sie ist „die verborgene Kraft in der Welt“, schreibt Busch und kommt zu dem Schluss: Wenn wir erkennen, dass es sich dabei nicht um einen bloßen Zufall handele, „sondern um einen Prozess des Erkennens und Verbindens von Punkten, beginnen wir Brücken zu sehen, wo andere Gräben sehen“.

»Manche Zufälle bleiben unglaublich und geradezu unheimlich.«

Bei allen Bemühungen, das Phänomen Zufall rational zu erklären – manche Zufälle bleiben unglaublich und geradezu unheimlich. So wie die Geschichte des Rennfahrers Wolfgang Graf Berghe von Trips, der im September 1961 mit einer Delegation der Bonner Landwirtschaftskammer nach Amerika fliegen sollte. Von Trips sagte die Reise ab, weil er lieber beim Formel-1-Rennen des Großen Preises von Italien teilnehmen wollte. Kurz nach dem Start stürzte das Flugzeug ab, keiner der Passagiere überlebte. Man könnte denken, Glück gehabt!

Doch die Geschichte geht weiter. Auch auf der Rennstrecke in Monza passierte ein schlimmes Unglück. Von Trips überschlug sich mit seinem Ferrari, der Rennwagen raste in die Zuschauermenge und tötete 15 Menschen. Graf von Trips brach sich das Genick und war auf der Stelle tot. Es scheint fast so, als ob sein Todestag vorherbestimmt war.

Zum Weiterlesen

Christoph Busch: Erfolgsfaktor Zufall. Christoph Busch erforscht, wie unerwartete Momente unseren Alltag erweitern und neue Möglichkeiten schaffen können. Er erzählt von Erfindungen, die auf Zufälle zurückgehen, und zeigt, wie wir uns das Unerwartete zum Komplizen machen. Erschienen im Murmann Verlag, 2023.

TEXT: Angelika Friedl
FOTOS: Denis Cherim, Sincerely Media / Unsplash, Murmann Verlag