Michael Wolffsohn,
dem Erbe verpflichtet
Nicht allein sein streitbarer Geist wurde Michael Wolffsohn in die Wiege gelegt. Von seinem Großvater erbte der Historiker eine soziale Wohnanlage in Berlin. Als Teil der Generationenkette führt er sie im Sinne der Gründer weiter. Ein Gespräch über Traditionen, Erbe und Verantwortung.
Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn ist bekannt als ein meinungsstarker und streitbarer Denker. Mit seiner zugespitzten Kritik löste er schon häufiger Debatten aus, erntete aber auch Anfeindungen. Wolffsohn bezeichnet sich selbst als deutsch-jüdischen Patrioten. Seine Familie war 1954, als er sieben Jahre alt war, nach Berlin zurückgekehrt. Wolffsohn entschied sich, in Deutschland zu bleiben, und lehrte von 1981 bis 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Im Jahr 2000 erbte er die Gartenstadt Atlantic in Berlin, eine 49 Häuser umfassende Siedlung, die sein Großvater Karl Wolffsohn als soziale Wohnanlage mitkonzipiert, finanziert und betrieben hatte. Michael Wolffsohn riskierte sein gesamtes Vermögen, um die denkmalgeschützte Anlage zu modernisieren und im Geiste der Gründer fortzuführen. Gemeinsam mit seiner Frau Rita betreibt er sie heute als deutsch-türkisch/muslimisch-jüdisches Kultur-, Bildungs- und Integrationsprojekt.
Den eigenen Standpunkt zu vertreten, kein Unrecht zu dulden – lässt sich so der typische Wolffsohn beschreiben?
Das ist der Geist, der in meiner Familie wehte. Das bedeutet konkret, dass man, wenn man Überzeugungen hat und sieht, dass jemand schlecht behandelt wird, eben auch zur Tat schreiten muss. Das heißt nicht, gewalttätig zu werden, sondern Mittel und Wege zu finden, dass keinem anderen Unrecht geschieht.
Ihre Mutter war eine Persönlichkeit, die sich Autoritäten nicht unterordnen wollte. Woran erinnern Sie sich?
Ja, die kämpferische Mutter. Ein Beispiel: Ich wurde am ersten Schultag in Berlin von einer Lehrerin geschlagen. Am nächsten Morgen war meine Mutter in der Schule und beschwerte sich beim Direktor. Der sagte ihr, dass das Verteilen von Ohrfeigen durch das deutsche Gesetz gesichert sei. Meine Mutter antwortete darauf, dass ihr Sohn trotzdem nicht geschlagen werde. Sie musste damit rechnen, dass ich Nachteile haben würde – auch bei Lehrern und Schuldirektoren ist Rache nicht immer ganz auszuschließen. Aber sie hat es gemacht und ich habe künftig keine Ohrfeigen mehr bekommen. Das zieht sich durch wie ein roter Faden im Verhalten meiner Mutter.
Eine weitere prägende Figur war ihr Großvater Karl Wolffsohn. Was hat Sie an ihm fasziniert?
Die Mischung aus kreativen Unternehmertum. Also, in einer gegebenen Situation innovativ die Chancen zu erkennen, diese Chancen aber nicht nur im Zusammenhang mit dem eigenen Profit zu sehen, sondern im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Er war ein Pionier der Unterhaltung und hat in mehreren deutschen Städten Kinos gegründet. In den Kinos von Karl Wolffsohn waren die Preise bezahlbar. Aber durch den hohen Umsatz hat er dennoch Gewinn gemacht. Es war also ein Gewinn für ihn und auch für diejenigen, die ins Kino gingen. Das war seine Philosophie: eine hohe Wirtschaftsethik, die Profit nicht ausschloss.
Die Verbindung von Ethik und Profit faszinierte Michael Wolffsohn an seinem Großvater Karl.
Ihr Großvater hat auch die Gartenstadt Atlantic in Berlin mitgegründet, ein frühes Beispiel für sozialen Wohnungsbau.
Mein Großvater ist hier in Vorleistung gegangen. Mit einer beispielhaften Architektur, mit einem beispielhaften Komfort und eben auch mit beispielhaft sozialen Mieten. Er hat dadurch erreicht, dass die Wohnungen auch in Krisenzeiten gefragt waren und er, trotz geringerer Mieten, durch die Vollvermietung einen ökonomischen Nutzen hatte.
Als Sie die Gartenstadt im Jahr 2000 erbten, haben Sie sich gegen einen Verkauf entschieden. Stattdessen haben Sie die ganze Wohnanlage für 32 Millionen Euro modernisiert. Was hat Sie dazu bewegt?
Die reine Immobilie als Renditeobjekt hat mich nicht interessiert. Für mich war dieses Erbe Teil einer Herausforderung, der ich mich zu stellen hatte. Das heißt, an die Tradition der Gründer anzuknüpfen und sie anzupassen an die Gegebenheiten der Gegenwart. Das heißt auch, weitgehend auf Profit zu verzichten und daneben das kulturpolitische und das integrationspolitische Moment wieder aufzunehmen. Bedeutete Integration in den 1930er Jahren das Einbinden der einheimischen Unterschichten in die Mehrheitsgesellschaft, ist es heute die Einbindung von Migranten in die Mehrheitsgesellschaft.
»Die reine Immobilie hat mich nicht interessiert. Für mich war dieses Erbe Teil einer Herausforderung, der ich mich zu stellen hatte. «
Zu der Anlage gehören heutzutage neben den Wohnungen auch das Klingende Museum und das Lichtburgforum, ein interkultureller Veranstaltungssaal. Es gibt eine Warteliste für Mietinteressenten. Wie funktioniert die Integration heute in der Gartenstadt?
Wir gucken uns die Mieter an, ob sie die Miete zahlen können und ob sie auch in die Wohnanlage passen. Der gute Geist dieser Wohnanlage soll erhalten bleiben. Wir haben Menschen aus allen Regionen der Welt mit verschiedenen Konfessionen und unterschiedlichem Bildungshintergrund. Der Mensch ist als Mensch wichtig und die Mischung ist entscheidend. Wir steuern immer gegen Ghettobildung. So lernen die Bewohner, dass Verschiedenheit nicht unbedingt Konflikt bedeuten muss, sondern, ganz im Gegenteil, Zusammenarbeit und friedliches Miteinander.
Woher stammte bei Ihrem Großvater der Antrieb, soziale Wohnungen zu bauen?
Das ist jüdische Tradition, die von einem Grundgedanken ausgeht: Mein Wohlbefinden hängt ab vom Gemeinwohl. Das ist Teil jüdischer Wirtschaftsethik – entgegen der oft zu hörenden antisemitischen Behauptung, dass gerade jüdische Kaufleute besonders skrupellos seien. Das gab es und gibt es in jeder Gemeinschaft. Aber das widersprach schon immer dem jüdischen Geist. Das Überleben als Minderheit ist immer abhängig vom Wohlwollen der Mehrheit. Und das Wohlwollen der Mehrheit kann man auf Dauer nur haben, wenn man sich anständig benimmt. In diesen Geist bin ich hineingeboren.
»Das eigene Wohl steht immer im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl.«
Sie haben drei erwachsene Kinder. Wie geben Sie das geistige Erbe Ihrer Familie weiter?
Es ist innerfamiliärer Konsens, dass die Gartenstadt Atlantic im Geiste meines Großvaters weitergeführt wird. Das war und ist Teil des Selbstverständnisses meiner Kinder und ihrer angeheirateten Partner. Die Verpflichtung des Eigentums ist oft eine Phrase. In unserer Familie ist es eine Selbstverständlichkeit. Dafür bin ich sehr dankbar. Wer glaubt, dass er oder sie auf Kosten anderer dauerhaft zufrieden sein kann, der irrt.
Haben Sie mit Ihren Kindern über Ihre Erwartungen an sie gesprochen?
Da bedarf es gar nicht vieler Worte. Das ist gelebte Verantwortung. In der Erziehung spielen Worte keine große Rolle. Es kommt vielmehr auf die Taten und das eigene Vorbild an. Wenn man erbt, und das ist meine feste Überzeugung, dann nimmt man es nicht einfach auf dem goldenen Tablett, sondern muss es weiterentwickeln. Gerade eine Immobilienanlage muss instandgehalten werden. Da kann man nicht sagen, so, jetzt habe ich geerbt und lass den lieben Gott einen guten Mann sein. Darüber sind sich auch unsere Kinder bewusst. Die Gartenstadt ist heute ein Schatzkästchen, aber das wird sie nicht bleiben, wenn sie nicht weiter gehegt und gepflegt wird.
Atlantic ist heute "Schatzkästchen" und Kultur- und Integrationsprojekt.
Sie sehen also Erben in erster Linie als eine Verantwortung?
Das ist einerseits traditionell jüdisches Denken, aber – was ich jetzt sage, ist nicht sehr populär – auch europäisch-aristokratisches Denken. In der Aristokratie hat sich jeder einzelne als Teil einer Generationenkette gesehen. Das Wirtschaften war geprägt von der Verpflichtung, den Besitz zu erwerben und zu bewahren. Das ist eine ständige Aufgabe, denn auf Dauer kann keiner von der Substanz leben. Aus meiner Sicht ist das die einzige ethische Rechtfertigung für Erbe. Denn was heißt Erbe? Du bist zufällig in diese Familien hineingeboren und bekommst dann ein mehr oder weniger großes Vermögen. Das ist keine Leistung. Das ist ethisch nur dann zu rechtfertigen, wenn man sich mit Haut und Haaren dafür einsetzt. Und die Erben, die diesen Geist verinnerlichen, sind die besseren Bewahrer einer solchen Substanz als irgendwelche staatliche Behörden. Denn hier gibt es die individuelle Identifikation mit den Vorfahren, die kein Abstraktum sind, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, deren Geist man an die folgenden Generationen weitergibt. Das sind auch Fragen, mit denen wir uns als Familie viel beschäftigt haben.
»Erbe ist ethisch nur dann zu rechtfertigen, wenn man sich mit Haut und Haaren dafür einsetzt. «
Nach dem Krieg ist die Gartenstadt Atlantic zunächst immer stärker verfallen.
Es gab die Auseinandersetzung ums Erbe zwischen meinem Vater und seinem älteren Bruder. Mein Onkel war überzeugter Zionist und Landwirt in Israel. Der hat aus seiner Sicht völlig zu Recht gesagt, die Gartenstadt liegt im tödlichen Land der Täter. Dort investiere ich nichts; ich investiere in Israel. Das war für die Mieter sicherlich unerfreulich, aber historisch und psychologisch absolut verständlich. Mein Vater, der in Berlin lebte, hat das natürlich anders gesehen. Aber auch das ist eine ethische Auseinandersetzung, denn wer wollte diesbezüglich den Stein gegen meinen Onkel werfen?
Hat dieser Streit die Familie entzweit?
Nein. Ich stand mit meinem Onkel immer sehr gut. Zumal ich seinen Standpunkt sehr gut verstanden habe. Auch mit meinem Vater hat dieser Streit nicht zum Bruch geführt. Mein Vater hatte aus seiner Sicht Recht – und mein Onkel auch. Toleranz bedeutet ja, dass man die Meinung des anderen hinnimmt, ohne dass man sich gleich an die Gurgel springt, sondern, im Gegenteil, freundschaftlich verbunden bleibt.
In seinem Buch erzählt Michael Wolffsohn die Geschichte seiner Familie.
Um noch einmal auf den Wolffsohnschen Widerstandsgeist zurückzukommen: Sie sind 1970, nach dem Wehrdienst in Israel, nach Deutschland zurückgekehrt. Was hat Sie in das Land der Täter zurückgezogen?
Ich war dort zuhause und die Täter waren entweder tot oder sie hatten zumindest nichts mehr zu sagen. Ich habe ein neues, liberales, weltoffenes Deutschland erlebt, in dem ich, bei aller Verbundenheit mit Israel, mehr beheimatet war. Das historisch Richtige ist nicht immer und überall das individuell Zutreffende. Es wird zum Teil ja auch von meinen Historiker-Kollegen behauptet, dass die Ära Adenauer rein restaurativ gewesen sei. Das widerspricht den Fakten. Natürlich waren die Täter unter uns. Aber erstens waren die meisten keine Täter mehr und zweitens, und das ist das Wunder der Bundesrepublik, wurde mit den Mitläufern eine funktionierende Demokratie aufgebaut. Wenn man Selbstbestimmung ernst nimmt, dann schließt man Fremdbestimmung aus. Als die Jewish Agency und die Israelische Regierung 1950 die deutsche Judenheit aufforderten, das Land innerhalb von sechs Monaten zu verlassen, stand der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins, Heinz Galinski, auf und sagte, wir lassen uns von niemandem vorschreiben, wo wir leben.
Hatten Sie Bedenken, als Sie 1981 als jüdischer Professor die Berufung an die Universität der Bundeswehr München annahmen?
Angesichts der deutschen Militärgeschichte und meiner Familiengeschichte fand ich es reizvoller, Geschichte an einer Bundeswehr-Universität zu lehren als an jeder anderen herkömmlichen Universität. Das war auch ein Zeichen für die Offenheit der Bundesrepublik zum einen und für meine Offenheit zum anderen. Wenn ich Offenheit von anderen erwarte, dann muss ich sie selber auch einbringen. Die Bundeswehr hat das demokratische Gemeinwesen der Bundesrepublik zu verteidigen und mit dieser Aufgabe hatte ich keine Probleme.
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Michael Wolffsohn: Deutsch-jüdische Glückskinder. – Historiker Michael Wolffsohn erzählt die Weltgeschichte seiner Familie. Der Blick auf drei Generationen ist zugleich ein unkonventioneller Blick auf die deutschjüdische Geschichte. Erschienen bei dtv Verlagsgesellschaft.
INTERVIEW: Wibke Bergemann
FOTOS: www.drohnen-fotografie.de (Gartenstadt), ullstein Bild (K. Wolffsohn), Susanne Jahrreiss/Michael Wolffsohn/dpa (M. Wolffsohn), Michael Wolffsohn, dtv Verlagsgesellschaft