No. 18 – ERFÜLLUNG

Menschen

"Manches wäre einen Roman wert"

Welche Schicksalsschläge und Sternstunden habe ich durchlebt? Was ist mein Beitrag zum großen Ganzen? Und wozu bin ich überhaupt hier? Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun hat sich den großen Lebensfragen angenähert und ein Modell dafür entwickelt, welche Formen von Erfüllung wir erleben und wie sie miteinander zusammenhängen.

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Eine ältere Frau läuft lachend über den Strand - Wunscherfüllung

Friedemann Schulz von Thun gehört zu den bekanntesten Psychologen Deutschlands. Sein berühmtes Kommunikationsquadrat, das die vier Ebenen einer Nachricht beschreibt, ist ein Standard in der Kommunikationswissenschaft. Jahrzehntelang hat Schulz von Thun als Professor, Berater und Bestseller-Autor daran gearbeitet, unsere Verständigung untereinander zu verbessern. In seinem neuen Buch „Erfülltes Leben“ blickt der 77-Jährige nun auf das eigene Leben und verbindet Psychologie und Philosophie mit Lebenserfahrung. Ein Gespräch über fünf Wege zur Erfüllung.

Spielt die Frage der Erfüllung auch persönlich für Sie eine Rolle?

Ich bin jetzt 77 Jahre alt. Da kommt man in die Lebensstimmung, Rückschau zu halten und zu fragen, was hat sich für mich erfüllt? Es war in dieser Hinsicht stimmig, das Buch zu schreiben.

Die großen und kleinen Ereignisse, die ein Leben ausmachen, bezeichnen Sie als biografische Erfüllung. Manche Menschen haben ja wirklich eine spannende Biografie, andere blicken auf ein „ganz normales“ Leben zurück.

Was ist denn ein ganz normales Leben? Gibt es das überhaupt? Jedes Leben ist derart sensationell einzigartig, auch wenn von außen betrachtet vielleicht – so wie in meinem Leben – nicht viel Spektakuläres passiert ist. Ich habe aber beim Schreiben des Buches gemerkt, dass ich, wenn ich genauer hinschaue und die Lupe auf die Einmaligkeit meines Lebens lege, manches entdecke, das einen Roman wert wäre.

Der Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun

Als Experte für Kommunikation und Coach ist Friedemann Schulz von Thun immer wieder den großen Lebensthemen begegnet.

Wir alle haben sehr viele Wünsche. Merken wir zu selten, was bereits in unserem Leben alles in Erfüllung gegangen ist?

Ja, wir gewöhnen uns an die glücklichen Umstände, in denen wir leben. Die lassen irgendwann keine seelischen Sektkorken mehr knallen. Als ich 10 Jahre alt war, bekam ich mein erstes eigenes Zimmer. Meine Güte, war das toll! Macht mich das heute noch glücklich, dass ich ein eigenes Zimmer habe? Das ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Also, ich würde sagen, das ist eine große menschliche Schlüsselqualifikation: Glück über all das zu empfinden, was ja nur scheinbar selbstverständlich ist, und es zu würdigen.

Man muss ja erstmal wissen, was man sich eigentlich vom Leben erhofft. Als junger Mann hatten Sie damit Ihre Probleme.

Ich hatte keine Ahnung, wofür ich geschaffen sein könnte. Das Gymnasium fiel mir schwer. Außerdem gab es da nur Jungs. Dann bin in die Welt des Schachclubs geflüchtet. Da gab es aber auch nur männliche Wesen. Ich fühlte mich zu einem Freund hingezogen, war ich womöglich schwul? Meine Mutter hat viele Tränen über diesen Verdacht vergossen. Sollte ich Jura studieren und Richter werden, wie mein Vater es mir empfahl? Ich hatte meine liebe Not damit, mich zurechtzufinden und mein Leben selbst zu gestalten, statt bloß den Vorgaben von Elternhaus und Schule zu folgen.

»Ich musste erst darauf gestoßen werden, dass es sich auch lohnen kann, sich für andere anzustrengen.«

Aber auch, wenn wir älter werden, wissen wir nicht immer, was wir eigentlich im Leben wollen.

In der Psychotherapie und im Coaching ist das häufig ein wichtiges Thema: Wonach sehne ich mich denn eigentlich? Vielleicht gestehe ich mir das gar nicht zu, eine solche Sehnsucht zu verspüren und sogar auszusprechen. Vielleicht ist sie ja in mir verborgen. Oder ich halte sie für so unrealistisch, dass ich sie gleich wieder unterdrücke, wenn sie kurz mal aufmuckt. Wenn ich einen Moment denke, „ach, das wäre doch eigentlich schön“, kommt sofort der Realitätshammer: „Aber nein, das ist doch völlig unrealistisch, vergiss es!“ So wird die Sehnsucht sofort wieder zum Verstummen gebracht.

Der Wunscherfüllung setzen Sie die Sinnerfüllung gegenüber – all die Dinge, mit denen wir etwas zur Gemeinschaft beitragen. Ist das nicht weitaus erfüllender als lediglich die eigenen Wünsche zu befriedigen?

Ich würde es nicht gegeneinander ausspielen. Wir leben ja auch um unserer selbst willen. Wir dürfen und sollen an irgendeiner Stelle auch unser eigenes, kleines Himmelreich erobern und dankbar genießen. Aber wenn ich mich für etwas einsetze, das über mich selbst hinaus geht, und zum Gelingen des Ganzen beitrage, kann das eine tiefergehende Erfüllung hervorbringen, als wenn ich es mir nur nett mache im Leben.

Viele Menschen sagen, sie hätten keine Zeit oder keine Kraft, sich über den eigenen Alltag hinaus zu engagieren. Was würden Sie dem entgegnen?

Ich würde sagen, ja, ihr habt Recht. Das ist anstrengend und zeitraubend, gar keine Frage. Ich habe auch so gedacht. Ich brauchte damals meine Supervisorin Ruth Cohn, die mich fragte: „Was hast Du denn dagegen, dich anzustrengen?“ Ich musste erst darauf gestoßen werden, dass das auch lohnend sein kann. Nicht nur für die Sache, für die ich mich einsetze, sondern rückwirkend auch für mich und meine Seele. Das muss man erst einmal wissen. Vielleicht muss es jemand einem sagen, bei mir war das jedenfalls so.

»Wer sich für eine Sache und andere Menschen einsetzt, sagt oft: Ich kriege so viel zurück.«

Oder man macht zufällig die Erfahrung, wie lohnend das ist.

Was ich für andere leiste oder für eine gute Sache, das muss auch mit mir im Einklang sein. Das ist der Ikigai-Gedanke aus der japanischen Philosophie, dass dein Tun dann erfüllend ist, wenn es erstens Sinn macht, zweitens in Übereinstimmung mit dem ist, was du kannst und drittens dir Freude macht. Und das muss man vielleicht erst entdecken, das fällt einem nicht einfach so vor die Füße. Manchmal kommen begnadete Zufälle zur Hilfe.

Sie schreiben von der besonderen Auszeichnung, die Sie durch die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität St. Gallen erfahren haben. Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?

Ja unbedingt. Wer sich für eine Sache und andere Menschen einsetzt, sagt oft: Ich kriege so viel zurück. Oder: Die Dankbarkeit der Leute, für die ich da bin, gibt mir sehr viel. Das gibt mir mehr, als wenn ich mein Leben nur mit Honigschlecken verbringen würde. Engagement ist erfüllend, wenn es Anerkennung und Würdigung erfährt. Es sollte auch etwas zurückkommen, das muss aber beileibe keine Ehrendoktorwürde sein.

Die Sonne bricht über einer Berglandschaft durch die Wolken.

"Auch wenn ich Atheist bin, stelle ich mir die Frage, wofür ich da bin, was diese ganze Veranstaltung soll."

Religion und Spiritualität verlieren an Bedeutung. Gibt es auch für Menschen ohne Glauben so etwas wie eine Daseinserfüllung?

Ich habe nicht den Eindruck, dass Religion und Spiritualität an Bedeutung verlieren. Was an Bedeutung verliert, ist der Glaube an das, was die Kirche vorpredigt. Aber Spiritualität und Religiosität, in dem Sinne, dass ich mich frage, was soll mein Dasein hier auf Erden, das wird eine hochaktuelle Frage bleiben. Das kann mir die Wissenschaft nicht beantworten.

Daseinserfüllung ist also nicht an Glauben gebunden?

Auch wenn ich Atheist bin, stelle ich mir diese Frage und werde ein existenzielles Credo entwickeln, also einen Glauben daran, was ich für wichtig und erstrebenswert in diesem Leben halte, wofür ich da bin, was diese ganze Veranstaltung soll. Diese Fragen stellen sich dem Atheisten ja genauso wie dem Gottgläubigen. Die Daseinserfüllung, wie ich sie vor Augen habe, ist das Innewerden des großen Wunders, das du selbst bist und das dieses Universum ist. Dieses Innewerden ist nicht an eine Konfession gebunden.

In das eine Erfüllung in Gedanken oder eher ein Gefühl?

Bei der Daseinserfüllung sehe ich das Gefühlte im Vordergrund. Ich erlebe das große Wunder, dass ich die Schwerkraft überwinden und eine Treppe hochsteigen kann, indem ich über die Nervenbahnen meinen Muskeln den Befehl dazu gebe. Das ist doch unglaublich. Dieses Erstaunen und die Ehrfurcht vor all dem, was auf diesem Planeten geworden ist, einschließlich meiner selbst, das ist etwas Gefühltes und Wahrgenommenes. Im zweiten Schritt kann ich dann aber auch darüber nachdenken und mir philosophisch einen Reim darauf machen.

Fußabdruck im Sand - Was bleibt am Ende eines Lebens?

"Ich möchte, dass etwas von mir bleibt, dass ich etwas Gutes in der Welt hinterlasse."

Der fünfte Bereich, den Sie beschreiben, ist die Selbsterfüllung. Was hält uns denn davon ab, unser wirklich eigenes Leben zu führen?

Kann man das so allgemein beantworten? Vielleicht hält Sie etwas anderes ab als mich und einen Dritten wieder etwas anderes. In der Therapie und beim Coaching versuchen wir ja, die Glaubenssätze zu identifizieren, die in uns stecken, die man irgendwann einmal in uns implantiert hat, wie zum Beispiel: „Haste was, biste was!“. Diese Glaubenssätze richten dann den inneren Kompass aus. Ob dieser indoktrinierte Kompass in Übereinstimmung ist mit dem Kompass, der in mir selbst wachsen will, ist eine wichtige Frage. Allein sich diese Frage zu stellen, ist schon ein Schritt in Richtung Stimmigkeit.

Gibt es am Ende so etwas wie eine Erfüllung über das eigene Dasein hinaus?

Gewiss möchte ich, dass etwas von mir bleibt, dass ich etwas Gutes in der Welt hinterlasse. Das ist eine Form der Sinnerfüllung. Lebe so, wie du wünschen wirst, gelebt zu haben, wenn du einmal stirbst! Und wer weiß? Vielleicht fällt der Abschied leichter, wenn ich die Augen schließe im Bewusstsein eines Lebens, das erfüllt war und in dem ich eine Spur hinterlassen habe? Sogar mit einem inneren Einverstanden sein?

Zum Weiterlesen

Friedemann Schulz von Thun: „Erfülltes Leben. Ein kleines Modell für eine große Idee“ Was zählt wirklich in diesem Leben? Der Psychologe regt dazu an, unser Leben aus fünf verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, zu würdigen und womöglich zu verändern. Erschienen im Hanser Verlag.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: Emin Özmen / Magnum, Saskia Giebel, marsj / Photocase, MicPic / Photocase, Annie Spratt / Unsplash, Hanser Verlag