Editorial
Die ersten Erfahrungen, der vertraute Raum, in dem wir laufen und sprechen lernten; die Freunde und Nachbarn, das Essen, die Feste, die Sicherheit der Familie; das Paradies der Erinnerung, aus dem wir angeblich nicht vertrieben werden können. Was Heimat wirklich bedeutet, erfahren wir oft erst dann, wenn wir sie verlassen oder verlieren.
Heimat, dieses urdeutsche Wort, in andere Sprachen schwer übersetzbar und oft missbraucht, liegt wieder im Trend. Und doch tun wir uns damit schwer. Es waren die Nazis, die mit ihrer mörderischen Ideologie dafür sorgten, dass der Begriff Heimat entwürdigt wurde. Die nachfolgenden Generationen wollten davon nichts mehr wissen. Bis heute wieder einmal die Rechten Heimat als Kampfbegriff missbrauchen.
Aber die „Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ‚Wir gegen die‘, als Blödsinn von Blut und Boden“, sagt unser Bundespräsident. Wir sollten einen offenen Zugang finden. Denn ist es nicht so: Da, wo ich einen Wert habe, wo ich mich einbringen kann und wohlfühle, da ist Heimat. Und: Alle Menschen sollten die Chance haben, sich verankern zu können.
Mit Heimat verbinden wir das Gefühl von Ankommen, Dazugehören, Geborgenheit und Glück. Das sollten wir uns nicht nehmen lassen. Deshalb nähern wir uns diesem so schwierigen Thema in der aktuellen Ausgabe unseres Magazins aus unterschiedlichen Perspektiven.
Susanne Anger
Sprecherin der Initiative
„Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum"
Wo und was
ist Heimat?
Heimat ist eine Sehnsucht und ein Bedürfnis. Doch der Begriff hat seine Unschuld verloren. Kann es eine Heimat geben, ohne andere auszuschließen? Ist Heimat ohne Ort möglich? Zeit für ein neues Heimat-Konzept. Damit lässt sich nicht weniger als die Zukunft unserer Gesellschaft aushandeln.
Weiterlesen...Ein Dorf erfindet sich neu
Das sächsische Nebelschütz ist ein blühender Ort. Eine Heimat, in der Menschen bleiben, statt abzuwandern. Es gibt einen Babyboom und eine Warteliste für junge Leute, die bauen wollen. Während andernorts die Dörfer veröden, ist die sorbische Gemeinde schon immer einen etwas anderen Weg gegangen. Mit Ideen, Tradition und Gemeinsinn.
Weiterlesen...Unsere Lieblinge
Lesetipp
Zwei Wessis, der Schauspieler Joachim Król und der Reporter Lucas Vogelsang, reisen quer durch die Republik, den Kopf voller Fragen. Die neuen Bundesländer seien ihm seltsam fremd geblieben, gesteht Król gleich zu Anfang. Er und Vogelsang lassen sich die Lebensgeschichten von zwölf ganz unterschiedlichen Menschen erzählen. Da ist der Landwirt, der seinen Acker direkt an der innerdeutschen Grenze bestellte und immer wieder zwischen die Fronten geriet. Der Betriebsleiter, der das Überwachungssystem stützte, um sein Werk zu retten. Oder die „Wossies“ aus Göttingen, die im Osten eine neue Heimat fanden. Die persönlichen Geschichten erzählen im Kleinen von den Umwälzungen im Großen. Sie zeigen, wie sehr die DDR die Biografien geprägt hat – und noch nicht vorbei ist.
Lucas Vogelsang, Joachim Król: „Was wollen die denn hier? Deutsche Grenzerfahrungen“. Rowohlt Verlag, 2019. 138 Seiten. 20 Euro.
Das Zitat
Die Fremde ist herrlich,
solange es eine Heimat gibt,
die wartet.
Erika Mann
1905-1969, deutsche Schauspielerin, Kabarettistin, Schriftstellerin
BERÜHMTE TESTAMENTE
Franz Dominic Grassi
Seine Familie stammte aus Italien. Seine Heimat aber war Leipzig, wo er 1801 geboren und 1829 eingebürgert wurde. Franz Dominic Grassi fühlte sich der Stadt so stark verbunden, dass er ihr am Ende seines langen Lebens fast sein gesamtes Erbe hinterließ: über 2,3 Millionen Mark. Zu diesem beachtlichen Vermögen hatte es der geschickte Kaufmann durch den Handel mit russischen Produkten, Indigo und Südfrüchten gebracht. Zu einem geachteten Bürger wurde er durch seinen Gemeinsinn: Obwohl selbst sparsam, bot er vielen Leipzigern in Notsituationen spontane Hilfe oder Darlehen an. Als der Junggeselle 1880 starb, bedachte er Patenkinder, entfernte Verwandte und Bedienstete. Mit dem größten Teil seines Vermögens machte er aber allen Leipzigern ein bleibendes Geschenk, um es für „Annehmlichkeiten und Verschönerungen unserer Stadt zu verwenden“, wie Grassi in seinem Testament formulierte. Damit konnten unter anderem das Gebäude der Stadtbibliothek, das Grassimuseum, der Mendebrunnen und das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Gewandhaus in der heutigen Grassistraße errichtet werden. So ist Grassi bis heute eng mit seiner Heimat verbunden.
56 %
Die Zahl
Über die Hälfte der Deutschen leben – immer noch oder wieder – am Ort ihrer Kindheit oder in der nahen Umgebung. Das ergab eine Yougov-Umfrage im Mai 2017. Umgekehrt bedeutet das auch: Vier von zehn Deutschen leben nicht mehr an ihrem Herkunftsort. Sie haben eine neue Heimat gefunden, suchen noch oder betrachten vielleicht sogar mehrere Orte als ihre Heimat. Nicht berücksichtigt wurden in der Umfrage die rund 9,4 Menschen, die in Deutschland leben, aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Schon gewusst?
Über Grenzen hinweg
Vererben über Landesgrenzen hinweg – eine manchmal komplizierte Situation. Ein Beispiel: Ein deutscher Staatsangehöriger lebt seit Jahren auf seinem spanischen Weingut. Als er dort verstirbt, hinterlässt er das Weingut sowie ein Haus in Köln. Welches nationale Recht gilt nun? Welches Gericht ist zuständig? Und wie lässt sich Erbenstellung nachweisen? Innerhalb der EU regelt all das die EU-Erbrechtsverordnung. Sie legt fest, dass ein und derselbe Erbfall vor den Gerichten nur eines Staates nach dem dort geltenden Recht abgewickelt werden soll. Grundsätzlich gilt das Recht des Landes, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Im Fall des Weingutbesitzers wäre spanisches Recht anwendbar und spanische Gerichte wären zuständig. Aber: Der Erblasser hätte auch die Möglichkeit gehabt, in seinem Testament festzulegen, dass sein Heimatrecht angewendet wird.
Michael Beuger, Partner der Kanzlei WILDE BEUGER SOLMECKE
Das tut gut