Der Streit um die letzte Würde
Es geht um nichts weniger als die Würde des Lebens trotz schwerster Krankheit – und um würdevolles Sterben. Nur um wenige Themen wird gesellschaftlich so gerungen wie um die Sterbehilfe. Der Wunsch eines Patienten, das eigene Leben zu beenden, bringt nicht nur Ärzte in Konflikte mit ihrem Gewissen und in eine rechtliche Grauzone. Auch Angehörige sind oft überfordert.
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Irgendwann gibt ein Mensch den Kampf auf. Anja D. ist 44 Jahre alt, als sie sterben will. Seit fast drei Jahrzehnten leidet sie an einem chronischen Reizdarm, unerträgliche Schmerzen und Krämpfe bereiten ihr schlaflose Nächte. Durch die Krankheit hat sie ihre Arbeit verloren, sind zwei Ehen zerbrochen, die meisten Freunde haben sich zurückgezogen. Sie hat bereits fünf Suizidversuche hinter sich und bittet schließlich ihren langjährigen Hausarzt um Hilfe. Der Arzt verschreibt ihr eine große Menge Schlaftabletten. „Danke Dir, alles geschluckt“, lautet die letzte SMS, die sie ihm schickt. Neben ihrem Bett drei Abschiedsbriefe: an ihren erwachsenen Sohn, ihre Mutter und die beste Freundin.
Leid und Tod sind Teil des Lebens
Darf ein Arzt einem verzweifelten Menschen helfen, sein Leben zu beenden? Zumal Anja D. nicht sterbenskrank war, sondern noch viele Jahre hätte leben können. Das ist nicht nur eine juristische Frage, sondern auch eine ethische. Sie stellt den bedingungslosen Wert des Lebens in Frage. Wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert? Gilt die unantastbare Würde eines Menschen auch für sein Sterben? Gehören Leid und Tod nicht auch zum Leben dazu? Und welche Rolle spielen religiöse Vorstellungen bei solchen letzten Fragen für uns?
Wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert? Gehören Leid und Tod nicht auch zum Leben dazu?
Verboten ist der Suizid in Deutschland nicht. Wer sterben will, kann sich straffrei das Leben nehmen. Nimmt er aber für einen würdevolleren Tod einen Helfer in Anspruch, gerät dieser schnell in eine rechtliche Grauzone und steht mit einem Bein im Gefängnis. Auch der Berliner Arzt, der Anja D. die Tabletten verschrieb, kam vor Gericht. Er war in den drei Tagen, die Anja D. nach Einnahme des Schlafmittels vor ihrem Tod im Koma lag, mehrfach in die Wohnung gekommen, um nach ihr zu schauen. Genau hier sah die Staatsanwaltschaft die Grenze überschritten: Der Arzt durfte der Frau zwar die Tabletten verschreiben, er hätte sie aber anschließend aus dem Koma retten müssen.
Die Angst vor dem Pflegeheim
Der Bundesgerichtshof sprach den Arzt letztendlich frei. Doch die widersinnige Argumentation zeigt, wie sehr Gesellschaft und Gesetzgeber damit hadern, eine klare Haltung zur Sterbehilfe zu finden. Die Mehrheit in der Bevölkerung spricht sich in Studien regelmäßig mit großer Eindeutigkeit für Sterbehilfe aus. In einer aktuellen Umfrage von infratest dimap befürworteten 81 Prozent der Befragten die assistierte Sterbehilfe. Bei vielen steht dahinter die Angst vor Krankheit, vor dem eigenen Sterben und vor dem Pflegeheim. Lieber tot sein, als ins Pflegeheim zu müssen, beteuerte 2008 eine kerngesunde 79-Jährige in einem Video, bevor sie die Sterbehilfe des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch in Anspruch nahm.
Das Video der Rentnerin machte deutlich, welche Auswüchse die Sterbehilfe nehmen kann. 2015 wurde mit dem Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches die organisierte und auf Wiederholung angelegte Sterbehilfe verboten. Damit wurde Vereinen wie Kuschs „Verein Sterbehilfe“ und dem deutschen Ableger des Schweizer Vereins „Dignitas“ die Tätigkeit untersagt. Zugleich gerieten Ärzte in eine rechtliche Grauzone, weil sie in ihrem Beruf mehrfach Sterbehilfe leisten könnten. Dieses Gesetz erklärte das Bundesverfassungsgericht Ende Februar 2020 für nichtig. Jetzt besteht eine neue Chance, klare Regelungen zu finden.
Die Überforderung der Angehörigen
Gerade in der Provinz müsse man Glück haben, um einen mutigen Arzt zu finden, der Patienten bei ihrem Sterbewunsch unterstützt, sagt die Buchautorin und Pflegeberaterin Martina Rosenberg. Mitunter bleiben am Ende nur die Familie oder Freunde. Dann sind es die eigenen Kinder oder die Partnerin, von denen verlangt wird, die entsprechenden Medikamente zu besorgen. Eine furchtbare Situation, in die niemand kommen möchte: einem geliebten Menschen dabei zu helfen, sein Leben zu beenden. „Viele Angehörige stehen ganz allein vor dieser Entscheidung“, sagt Rosenberg. „Angehörige sagen oft: Wenn ich den Arzt darauf ansprechen würde, stände ich ja da wie der Henker persönlich.“
Wo genau die Grenze zwischen legal und illegal verläuft, ist für Angehörige in der Notlage nur schwer zu verstehen.
Das Thema ist ein Tabu. Doch immer wieder machen tragische Fälle Schlagzeilen: die Mutter, die ihren querschnittsgelähmten Sohn auf dessen eigenen Wunsch vergiftet. Oder der Sohn, der seine Mutter nach langjährigem Koma tötet. In ihrem Buch „Anklage: Sterbehilfe. Machen unsere Gesetze Angehörige zu Straftätern?“ beschreibt Martina Rosenberg das Leiden dieses Sohnes, der schließlich für seine Tat zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Genauso wie für Ärzte sei es auch für Angehörige wichtig, dass klare rechtliche Regelungen getroffen würden, meint Rosenberg. Denn wo genau die Grenze zwischen legal und illegal verläuft, ist für den Laien in der Notlage nur schwer zu verstehen.
Am meisten leiden Angehörige, wenn Patienten nicht mehr in der Lage sind, ihre Willen zu äußern. Dann muss die Familie entscheiden, was ihr oder sein vermeintlicher Wunsch sein könnte, und ihn gegebenenfalls auch gegen die Ärzte durchsetzen. Das erfordere viel Rückgrat, meint Rosenberg. „Ich wünsche mir, dass sich die Menschen mehr Gedanken über ihr Ableben machen und viel häufiger eine Patientenverfügung abfassen. Sie ersparen damit ihren Angehörigen viel Leid, und sich selbst auch.“
In Würde sterben
Jeder müsse selbst entscheiden dürfen, wie und wann er sterben möchte, lautet ein zentrales Argument für die Sterbehilfe. Denn wie wir mit Krankheit, Schmerzen oder schwere körperliche Einschränkungen umgehen, hängt vom Einzelnen ab. Was wir als Verlust der eigenen Würde empfinden, ist von Mensch zu Mensch verschieden. „Zu entscheiden, ob ein Sterben erträglich oder unerträglich für jemanden ist, möge man bitte ihm selbst überlassen“, sagte etwa das ehemalige Mitglied des Ethikrats, der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, in einem Interview. Niemand habe das Recht auf Sterbehilfe vom Staat, aber der Staat dürfe sie auch niemandem untersagen. Merkel weist immer wieder darauf hin, dass jedes Jahr rund 100.000 Menschen versuchen, sich das Leben zu nehmen. Bei knapp 10.000 gelingt der Suizid, alle anderen überleben – mit teilweise schweren Schäden.
»Für Ärzte müssten die Lebensqualität des Patienten und ein friedliches Sterben vor der Lebensverlängerung stehen.«
Eine besondere Dringlichkeit hat die Debatte über Sterbehilfe auch durch die fortscheitenden medizinischen Möglichkeiten erfahren. 40 bis 50 Prozent der Menschen in Deutschland sterben im Krankenhaus, nicht wenige auf der Intensivstation. Medikamente, künstliche Beatmung und Ernährung erlauben es, dass Leben zu verlängern. Sterben, das ist schon lange kein natürlicher Vorgang mehr, sondern zu einem guten Teil eine menschliche Entscheidung geworden – vor allem die der Ärzte. Deshalb brauche es ein Umdenken, meint der Berliner Arzt und Hospizgründer Michael de Ridder. Für die Ärzte müssten die Lebensqualität des Patienten und ein friedliches Sterben vor der Lebensverlängerung stehen. Die Frage sollte nicht lauten: Dürfen wir aufhören? Vielmehr sollte gefragt werden: Dürfen wir noch weitermachen? Zu den Aufgaben eines Arztes gehöre auch, dem Patienten unnötige Qualen zu ersparen.
Kritiker fürchten Normalisierung
Doch viele Ärzte sehen die Beihilfe zum Suizid im Widerspruch zu dem von ihnen geleisteten Hippokratischen Eid. Elf der 16 Landesärztekammern untersagen ihren Mitgliedern die Sterbehilfe. In einer Allensbach-Umfrage von 2010 lehnten 60 Prozent der befragten Ärzte eine Legalisierung ab.
Kritik kommt auch von den beiden großen Kirchen in Deutschland. In einer Stellungnahme befürchten die Vorsitzenden, dass ein leichterer Zugang zu Sterbehilfe-Angeboten „alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen.“ Nach dem Motto: Warum tust Du Dir das an? Patienten könnten sterben wollen, um ihren Angehörigen nicht zur Last zu fallen oder weil sie fürchten, mit hohen Pflege- oder Hospizkosten das Erbe aufzubrauchen.
Setzt ein leichterer Zugang zu Sterbehilfe-Angeboten alte oder kranke Menschen unter Druck?
Beispiel zur Warnung: Niederlande
Auch Verbände wie die Deutsche Palliativ-Stiftung und die Deutsche Stiftung Patientenschutz befürchten eine Normalisierung der Sterbehilfe. Ihr Argument: Angebot schafft Nachfrage. Das zeige das Beispiel Niederlande, wo die aktive Sterbehilfe seit ihrer Legalisierung 2002 von Jahr zu Jahr häufiger angewandt wurde. Allerdings scheinen sich die Zahlen dort inzwischen zu stabilisieren: 2018 gab es erstmals weniger Fälle von Sterbehilfe als im Vorjahr, aber immerhin noch 6.126. Das waren etwa vier Prozent aller Sterbefälle in den Niederlanden. Gut 90 Prozent der Menschen, die im Nachbarland eine Sterbehilfe in Anspruch nehmen, leiden an einer schweren, unheilbaren Krankheit.
»Wenn es die einfache schnelle Lösung gibt, werden Alternativen möglicherweise nicht mehr in Betracht gezogen.«
Schnelle Lösung statt aufwendiger Pflege
Ein anderes wichtiges Argument der Kritiker: Wenn es die einfache, schnelle Lösung gibt, werden Behandlungsalternativen oder Betreuungsmöglichkeiten, die einen größeren Aufwand bedeuten, möglicherweise nicht mehr in Betracht gezogen. Schon jetzt werden die palliativmedizinischen Möglichkeiten, die es gibt, nicht bei jedem Patienten ausreichend genutzt. Und es gibt sie, die scheinbar hoffnungslosen Fälle, bei denen eine andere Behandlungsmethode doch noch eine Besserung bringen: Der Großvater mit schweren Depressionen, scheinbar therapieresistent. Nach einem Suizidversuch erhält er schließlich Elektrokrampftherapie. Und jetzt fährt er wieder gut gelaunt mit seinem Fahrrad durch die Stadt. Oder die Krebspatientin, die bereits auf der Palliativstation lag. Bis ein erwachsener Enkel sich bereit erklärt, sich um ihre Pflege in ihrem eigenen Haus zu kümmern. Und plötzlich kann die Frau sogar wieder alleine laufen. Würden die beiden noch leben, wenn Sterbehilfe auch in Deutschland leichter zu haben wäre?
Wichtige Bedingungen
Auch für Befürworter Michael de Ridder ist das eine der wichtigsten Bedingungen für ärztliche Sterbehilfe: Dem Patienten müssen zuvor maximale Zuwendung und Therapie zukommen, er sollte über alle Behandlungsalternativen informiert sein. Außerdem: Nur wer an einer schweren, aussichtslosen Krankheit leide und ohne psychische Beeinträchtigungen seinen Willen äußern könne, dürfe Sterbehilfe erhalten. Grundlage sei ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis. Nur ein Arzt, der den lebensmüden Menschen schon länger kenne, könne einschätzen, inwiefern es sich nur um einen vorübergehenden Wunsch handeln könnte.
»Nur ein Arzt, der den lebensmüden Menschen länger kennt, kann einschätzen, ob es sich nur um einen vorübergehenden Wunsch handeln könnte.«
Der Medizinethiker Ralf Jox von der Ludwig-Maximilians-Universität München verweist auf den US-Bundesstaat Oregon, wo die Sterbehilfe 1997 für Patienten mit weniger als sechs Monaten Lebenserwartung eingeführt wurde. Trotz zahlreicher Befürchtungen im Vorfeld ist die entfesselte Suizid-Welle ausgeblieben. Die Zahl hat sich bei rund 0,2 Prozent aller jährlichen Sterbefälle eingependelt. Das Beispiel zeigt: Auch wenn es im äußersten Notfall die Möglichkeit gibt, Hilfe zum Sterben in Anspruch zu nehmen, wollen am Ende nur wenige diesen Weg wirklich gehen.
Sterbehilfe: Was erlaubt ist – und was nicht
- Aktive Sterbehilfe: Das Töten auf – auch ausdrückliches – Verlangen ist in Deutschland strafbar.
- Passive Sterbehilfe: Das Sterbenlassen durch Abbruch der Therapie oder Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen ist auch dann erlaubt, wenn der Patientenwille nur noch angenommen werden kann. Das Vorgehen kann durch eine Patientenverfügung festgelegt werden.
- Indirekte Sterbehilfe: Eine schmerzlindernde Behandlung, bei der ein vorzeitiger Tod in Kauf genommen wird, ist erlaubt.
- Assistierter Suizid: Die Hilfe zur Selbsttötung, etwa durch das Besorgen eines tödlichen Medikaments, ist grundsätzlich nicht strafbar. Der Patient muss das Medikament selbst zu sich nehmen. Wird es ihm verabreicht, entspricht das einer Tötung auf Verlangen und ist damit verboten ist. Aber: Zehn der 16 Landesärztekammer verbieten assistierte Sterbehilfe. Ärzten droht der Verlust der Zulassung.
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TEXT: Wibke Bergemann
FOTOS: Martino Pietropoli/Unsplash, Bernard Hermant/Unsplash, sumingliu youyou/Unsplash, Pacific Austin/Unsplash, Trevor Black/Unsplash