No. 4 – EHRENSACHE

Wissenswertes

Gutes tun steckt an

Wann verhalten wir uns moralisch, wann nicht? Und warum fühlen wir uns besser, wenn wir anderen helfen? Zahlreiche Studien gehen diesen Fragen auf den Grund. Eine wichtige Erkenntnis: Gutes tut, wem Gutes widerfährt. Eine Anstiftung zum Vorleben und Nachmachen.

Gutes tun steckt an: Ein kleiner Junge imitiert eine Engelsstatue, beide führen den Zeigefinger zum Mund. Symbolbild: Gutes tut, wem Gutes widerfährt. Moral ist ansteckend. Dazu braucht es Vorbilder. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Magellan via Twenty20

In manchen Berliner Kiezen nimmt man es mit der Sauberkeit im öffentlichen Raum nicht so genau. Alte und kaputte Möbel werden nicht zur Stadtreinigung gebracht, sondern auf die Straße gestellt. Es dauert dann meist keinen Tag, dann steht neben dem ausrangierten Kühlschrank ein zerfleddertes Sofa. 30 Meter weiter liegt plötzlich eine Matratze. Die Müllabfuhr wird die Sachen schon irgendwann wegräumen.

Offensichtlich neigen Menschen dazu, das Verhalten anderer nachzumachen. Das gilt zum Glück auch bei positiven Vorbildern. So fing vor einigen Monaten ein junger Brandenburger Ingenieur an, den Unrat in der Umgebung seines Wohnortes aufzusammeln, leere Zigarettenschachteln, Hundekotbeutel und ähnliches. Er blieb nicht lange allein. Bekannte und Anwohner schlossen sich an. „Plogging“ – Joggen, bücken und Müll sammeln – heißt der neue Trend aus Skandinavien, der vor allem junge Leute weltweit inspiriert.

Gutes tun steckt an: Sperrmüll auf Berlins Straßen. Stellt einer den Müll raus, folgen bald andere. Moral ist ansteckend. Gefragt sind gute Vorbilder. Gutes tut, wem Gutes widerfährt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Ben Neale/Unsplash

Stellt einer den Müll auf die Straße, folgen bald andere. Das gilt zum Glück auch im Guten.

Vor einigen Jahren zeigte eine Studie des Kölner Sozialpsychologen Wilhelm Hofmann und seiner Kollegen, wie stark moralisches Verhalten Menschen beeinflussen kann. 1.200 Versuchsteilnehmer erhielten drei Tage lang fünf SMS mit der Bitte, in einem Online-Fragebogen zu notieren, welches moralische oder unmoralische Verhalten sie in der Stunde zuvor an den Tag gelegt oder bei anderen erlebt hätten. Das Ergebnis: Wer moralisches Verhalten erfährt, ist im Gegenzug danach auch eher bereit, selbst moralisch zu handeln. „Wir haben es gelernt, Gutes mit Gutem zu erwidern. Das ist fast wie ein körperlicher Reflex“, schlussfolgerten die Forscher.

»Wir haben es gelernt, Gutes mit Gutem zu erwidern. Das ist fast wie ein körperlicher Reflex.«

Unser Verhältnis zur Moral wird von anderen beeinflusst

Wie halten wir es also mit der Moral? Wann ist sie uns wichtig und wann ist sie uns egal? Zum einen, so die Erkenntnis von Psychologen, richten wir uns nach den Regeln der Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen. Sehr oft entscheiden wir nicht individuell, sondern schauen, wie sich andere Menschen in unserer Umgebung verhalten. „Ein Mensch ist in Not, es stehen Leute herum, schauen und warten. Niemand hilft, dann helfe ich halt auch nicht.“ Die Bereitschaft zu helfen „verteilt“ sich auf die Gruppe, weil alle denken, dass die anderen doch den ersten Schritt tun sollten.

Dann gibt es noch den Einfluss einzelner Menschen. „Hier zeigt die Forschung, dass vor allem drei Faktoren wichtig sind: Wie ähnlich wir uns der anderen Person fühlen, wie erreichbar uns das Verhalten der anderen Person scheint, und wie moralisch oder unmoralisch wir uns selbst fühlen“, erklärt die Sozialpsychologin Alexandra Fleischmann vom Social Cognition Center Cologne der Universität zu Köln. Das heißt, wenn wir uns jemanden ähnlich fühlen, lassen wir uns von deren Verhalten eher anstecken. Und wenn sie sich moralisch verhält, tun wir das auch. „Wenn in der Straßenbahn jemand den eigenen Sitzplatz für eine gebrechliche Person freimacht, werde ich das auch eher tun, wenn das Vorbild mir ähnlich ist, also auch eine Frau und in meinem Alter ist. Dasselbe gilt für unmoralisches Verhalten: Auch das ahmen wir eher nach, wenn uns die Person ähnlich ist“, sagt Alexandra Fleischmann.

Gutes tun steckt an: Vier Wanderer im Gänsemarsch. Ob wir uns moralisch verhalten und Gutes tun, ist oft von anderen beeinflusst. Gutes tut, wem Gutes widerfährt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: @ Paige via Twenty20

Gutes tun oder nicht? Fünf Prozent einer Gruppe genügen, um einen Schwarm zu lenken.

Zum Zweiten wirkt das Verhalten anderer ansteckend, wenn es uns erreichbar erscheint, also nicht über unsere Kräfte geht. Daher folgen wir in der Regel dem Beispiel von Blutspendern. Eine Niere zu spenden ist eher die Ausnahme. Und doch orientieren sich Menschen auch gerne an großen Vorbildern. Ein berühmtes Beispiel ist die Krankenschwester Florence Nightingale, die Reformerin des englischen Sanitätswesen. Zehntausende Frauen folgten ihr und wurden  Krankenschwestern. Einen großen Einfluss hatte Nightingales Wirken übrigens auch auf den Schweizer Henri Durant, der später das Rote Kreuz gründete.

Zum Dritten spielt es eine Rolle, wie wir unser Tun moralisch bewerten. „Um uns wieder besser zu fühlen, lassen wir uns oft nicht vom moralischen Verhalten einer anderen Person anstecken. Stattdessen machen wir deren Verhalten schlecht“, sagt die Kölner Psychologin. In einer Studie hat man zum Beispiel herausgefunden, dass sich Fleischesser negativ bewertet fühlen, wenn Vegetarier ihre Ernährung als moralisch gut betrachteten. Und dann bewerten sie Vegetarier auch negativer.

Gegenseitige Hilfe sichert das Überleben

Ist Moral angeboren? Manche Biologen vertreten die These, dass Menschen quasi genetisch bedingt in erster Linie ihre Interessen durchsetzen wollen. Andere Wissenschaftler wie der amerikanische Neuropsychologe Jonathan Haidt behaupten, dass wir bei moralischen Urteilen zuerst auf unsere Gefühle hören und nicht auf unseren Verstand. Evolutionsbiologen und -psychologen vermuten heute, dass vor allem die Fähigkeit zur Kooperation zur Menschwerdung beitrug und den Menschenaffen vom Homo Sapiens trennte. Moral hat demnach einen evolutionären Ursprung. Die gegenseitige Hilfe sicherte das Überleben der Menschheit.

»Wir sind soziale Wesen und darauf angewiesen, mit anderen gut zu Rande zu kommen. Und dabei hilft uns die Moral.«

Michael Tomasello, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, schildert in seinem Buch „Eine Naturgeschichte der menschliche Moral“, wie dieser Prozess abgelaufen sein könnte. Die guten Erfahrungen des Füreinander Daseins führten dazu, dass sich neue geistige Fähigkeiten bildeten. Menschen lernten, sich in andere hineinzuversetzen: Wenn ich glauben kann, dass ein anderer mir hilft, nachdem ich ihm selbst einmal geholfen habe, erhöht das meine Chancen, zu überleben. Wie du mir, so ich dir. So entwickelten sich mit der Zeit Werte und Normen, die Kooperation und Hilfsbereitschaft in den kleinen menschlichen Gemeinschaften belohnten. „Wir sind soziale Wesen. Und darauf angewiesen, mit anderen gut zu Rande zu kommen. Und dabei hilft uns die Moral.“

Gutes tun macht glücklich

Vertrauen, Wertschätzung und Hilfsbereitschaft lohnen sich aber auch aus Sicht des Gehirns. Denn wenn wir diese Haltungen kultivieren, werden „Glücksbotenstoffe“, unter anderem Dopamin, ausgeschüttet, wie bildgebende Untersuchungsverfahren zeigen. Auch mit Blick darauf empfiehlt die Philosophin Ulla Wessels altruistisches Verhalten. „Diejenigen, die anderen helfen“, so meint sie, „begreifen das oft nicht als ein Opfer, das sie erbringen, sondern als etwas, was sie selbst bereichert und froh macht. Das Glück der anderen, das sie mit ihrem Tun befördern, macht sie selbst glücklich.“

Moralischen Sinn müssen wir erlernen

„Letztlich ist kooperatives Verhalten positiver, als wenn sich alle eigennützig verhalten. Kooperatives Verhalten gibt es schon bei kleinen Kindern,“ erklärt der Moralpsychologe Horst Heidbrink von der Fernuniversität Hagen. Natürlich gilt auch: Ohne Verständnis keine Moral. Ganz kleine Kinder können noch nicht verstehen, dass andere Menschen die Welt anders sehen. Aber auch Babys machen früh über Mimik, Gestik und Laute soziale Erfahrungen. Sie können schon erkennen, wie andere reagieren. Babys und Kleinkinder zeigen Mitgefühl. Sie weinen, wenn andere weinen. Sie trösten und helfen. Sie legen auch Wert auf Fairness und achten darauf, dass jeder gleich viel erhält. Allerdings verhalten sich fünfjährige Kinder „fairer“ als Dreijährige.

Gutes tun steckt an: Ansicht eines Strickteddy. Reicher Teddy Armer Teddy? Fünfjährige Kinder verhalten sich „fairer“ als dreijährige. Das zeigt: Moralischen Sinn müssen wir erlernen. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Seleneos/Photocase

In einem Experiment von Entwicklungspsychologen der Universität München erhielten drei- und fünfjährige Kinder mehrere Sticker, die sie an zwei Teddybären verteilen durften. Der wohlhabende Teddybär hatte ein Heft voller Sticker, während im Heft des armen Teddy nur einige klebten. In allen Versuchen gaben die Fünfjährigen dem armen Bären die meisten Sticker. Die Dreijährigen verteilten dagegen ihre Sticker gleichmäßig an die beiden Bären. Ein Spiegelbild der Kooperation ist Fairness. Daher ist auch der Sinn für Gerechtigkeit bei Menschen stark ausgeprägt. Das Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter in Bonn hat über Hundert Studien ausgewertet, in denen die Probanden Geld frei bestimmt verteilen konnten. Die Metastudie zeigte, dass fast 64 Prozent der Teilnehmer bereit waren, von ihrem Geld etwas abzugeben. Rund 43 Prozent der Beträge verschenkten sie weiter. Ältere Menschen erwiesen sich dabei als großzügiger, sie spendeten gut ein Drittel mehr als der Durchschnitt. Allerdings bricht die Bereitschaft zur Hilfe zusammen, wenn Trittbrettfahrer eine Situation ausnutzen und sich selbst bereichern.

»Niemand kommt als moralisch denkendes und handelndes Wesen auf die Welt. Es bedarf der moralischen Erziehung.«

Menschen ist es wichtig, moralisch zu sein. Den meisten jedenfalls. Wir fühlen uns gut, wenn wir moralisch handeln und von anderen akzeptiert werden. Auch weil andere uns nach unserem moralischen Verhalten bewerten. „Wenn jemand zum Beispiel sehr intelligent ist, sehen wir das nicht per se als positiv an – schon gar nicht, wenn die Person damit unmoralische Dinge tut. Nur wenn diese Begabung in den Dienst des Guten gestellt wird, bewerten wir sie positiv“, sagt die Kölner Psychologin Alexandra Fleischmann. Aber klar ist auch, dass uns moralisches Verhalten nicht in die Wiege gelegt wird. Die Philosophin Ulla Wessels stimmt zu: „Niemand kommt als moralisch denkendes und handelndes Wesen auf die Welt. Es bedarf der moralischen Erziehung.“

TEXT: Angelika S. Friedl
FOTOS: Magellan/Twenty20, Ben Neale/Unsplash, Paige/Twenty20, Seleneos/photocase.de