„Familie ist der
Kern von allem“
Die Führung an die nächste Generation abzugeben, fällt gerade in Familienbetrieben schwer. Beatrice Rodenstock kennt das aus der eigenen Familie. Aufgewachsen im Brillenimperium Rodenstock ist sie eine Expertin für das schwierige Gemisch aus familiären Bindungen und unternehmerischer Verantwortung. Ein Gespräch über die Kraft von Familie, das Festhalten und das Loslassen.
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“Sind Sie die Brille?“, das wurde Beatrice Rodenstock schon in jungen Jahren oft gefragt. Das Brillenimperium Rodenstock ist deutschlandweit bekannt. Ihr Ururgroßvater Josef gründete 1877 das Unternehmen, Beatrice Rodenstock hätte es in fünfter Generation weiterführen können. Doch nach der Jahrtausendwende geriet das Unternehmen in schweres Fahrwasser. Um die Firma zu erhalten, wurde das operative Geschäft verkauft. Beatrice Rodenstock ging ihren eigenen Weg. Die heute 46-Jährige berät nun andere Familienunternehmen beim Generationenwechsel. Der Firma Rodenstock ist sie verbunden geblieben, als Gesellschafterin der Rodenstock-Holding. Wir sprachen mit ihr über frühe Prägungen, die Kraft von Familie, das Festhalten und das Loslassen.
Ist es eher Last oder Lust, Teil eines bekannten Familienunternehmens zu sein?
Beides. Es bedeutet eine ungeheure Chance, etwas Lustvolles. Es bedeutet Dankbarkeit gegenüber vorangegangenen Generationen, die das alles aufgebaut haben. Es bringt auch eine große Verantwortung mit sich. Andererseits steht man permanent unter Beobachtung, muss sich an Regeln halten. Alles, was man tut, wird gesellschaftlich wahrgenommen. Wenn ich meinen Namen sagte, wurde ich oft gefragt: Sind Sie die Brille?
Wie sind Sie aufgewachsen?
Ich bin auf eine normale Schule gegangen. Schon als Kind war ich oft im Betrieb. Ich war gern auf Firmenfeiern, da spürte man eine Verbundenheit. Wir fühlten uns als eine große Familie. Die Nase hoch zu tragen, wäre mir nicht eingefallen. Bei uns galt das Credo: Du weißt nicht, was morgen ist.
Ururgroßvater Josef gründete 1877 das Unternehmen, Beatrice Rodenstock hätte es in 5. Generation weiterführen können.
In welchem Alter hatten Sie einen Plan für Ihr Leben? War für Sie als Teenager klar, dass Sie in die Firma einsteigen?
Nein, mir war eher klar, dass ich da nicht einsteige. Ich hatte die schwierige Zusammenarbeit von Großvater und Vater im Unternehmen vor Augen. Ich erlebte, mit wie vielen Herausforderungen mein Vater zu kämpfen hatte. Er sagte öfter: Es gibt viele Wege, sich unglücklich zu machen. Da musst du nicht noch in die Firma gehen.
»Mein Vater sagte öfter: Es gibt viele Wege, sich unglücklich zu machen. Da musst du nicht noch in die Firma gehen.«
Er hat den Druck, unter dem er stand, nicht an die Kinder weitergegeben?
Nein, er hat mit uns ehrlich über seine Freuden und seine Sorgen geredet. Er hat uns ermuntert, unseren eigenen Weg zu gehen. Andererseits hat er immer die klare Regel kommuniziert: Wollt ihr doch ins Familienunternehmen einsteigen, müsst ihr vorher extern als Geschäftsführer gearbeitet haben und euch an externen Mitbewerbern messen lassen.
Welchen Weg haben Sie gewählt?
Ich wollte als junge Frau in die Entwicklungshilfe. Ich habe mich schon sehr früh im sozialen Bereich engagiert, habe für UNICEF gearbeitet, war im Ausland. Am wichtigsten war mir, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und mobil zu sein. Ich entschied mich dann für Soziologie mit Schwerpunkt Psychologie und Wirtschaft. Wir hatten die Chance, herauszufinden, was uns wirklich liegt, das ist wichtig für jedes Kind, glaube ich. Erst später, als ich schon in unterschiedlichen Unternehmen gearbeitet hatte, wurde mir klar, dass ich immer auch eine Verantwortung für das Familienunternehmen haben würde, dass ich auch dort eine Rolle auszufüllen habe.
»Wir hatten die Chance, herauszufinden, was uns wirklich liegt. Das ist wichtig für jedes Kind.«
War Ihr Vater mit Ihrem Studienwunsch einverstanden?
Anfangs fand er das nicht nachvollziehbar, er wusste schlicht nicht, worum es in diesem Studium geht. Ich habe ein dreistündiges Plädoyer für die Soziologie gehalten – und dann hatte ich seinen Segen. Später habe ich zusätzlich den Master of Business Administration erworben.
Wie haben Sie die Jahre 2002/2003 erlebt, als klar war, dass grundlegende Entscheidungen anstehen und der Hauptteil des Unternehmens verkauft wird?
Ich hatte zahllose schlaflose Nächte. Wir waren ja eingebunden in diesen Prozess. Wir haben versucht, so rational wie möglich damit umzugehen. Es ging dabei nicht vorrangig um uns, sondern vor allem um fast 7000 Mitarbeiter. Aus heutiger Sicht kann ich nur sagen, dass der Verkauf damals die absolut richtige Entscheidung für das Unternehmen war.
Teil eines Familienunternehmens zu sein, bedeutet Dankbarkeit, aber auch große Verantwortung.
Welche Rolle spielt Familie für Sie?
Familie ist für mich das A und O, sie ist der Kern von allem. Sie schafft eine Ur-Bindung, die einem niemand mehr nehmen kann. Wie man aufwächst, was einem mitgegeben wird, ist das, was einen später ausmacht. Und da spreche ich nicht von Geld, sondern von Liebe, Geborgenheit, Akzeptanz, Förderung. Kinder mit einer guten Bindung zu den Eltern können später stärker im Leben auftreten, das ist meine Erfahrung. Dazu gehört auch, Konflikte in der Familie auszuhalten und zu besprechen. Auch die erweiterte Familie ist wichtig – auch die, die dazukommen, müssen eingebunden werden.
Ihre Biographie ist voller Tatkraft, Mut und der Bereitschaft, sich Herausforderungen zu stellen. Hatten Sie auch Zweifel?
Ich bin froh, dass wir als Familie alle noch immer eng zusammen sind und ich trotzdem meinen unabhängigen Weg gehe. Manchmal sage ich mir, dass ich noch mehr tun müsste, um das Vermächtnis fortzuführen und ihm gerecht zu werden. Da frage ich mich, ob ich genug leiste. Mein Großvater war ein großer Mensch in mehrfacher Beziehung, auch in dem, was öffentlich wahrgenommen wurde. Mein Vater ist dies ebenso. Da habe ich noch einiges aufzuholen.
Engagement für Chancengerechtigkeit, für Beatrice Rodenstock auch als Erbin selbstverständlich.
Sie haben 2003 gemeinsam mit anderen die Stiftung „Gesellschaft macht Schule“ gegründet. Was hat Sie dazu veranlasst?
Die Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie, die zahlreiche prekäre Punkte offenbart hatte, gab den Anstoß. Bildung ist entscheidend für die Entwicklung der Persönlichkeit, durch Bildung lässt sich Chancengleichheit befördern. Das wollten wir vor allem in Brennpunktschulen Münchens bewerkstelligen. Es geht uns um soziale Integration, um ein Miteinander der Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, um ihr Selbstwertgefühl, die Förderung ihrer unterschiedlichen Talente. Um Kultur, Sprache, Werte, auch um konkrete Hilfen beim Übergang in den Beruf. Dazu haben wir ein Netzwerk aufgebaut. In dieser Stiftung zu arbeiten, gemeinsam etwas zu bewirken, das gehört zu den großen Freuden in meinem Leben. Inzwischen haben wir 15 Festangestellte und zahlreiche Helfer im Ehrenamt.
Raten Sie auch anderen Familien mit Vermögen, nicht nur das Unternehmen zu verwalten, sondern neue, sinnstiftende Projekte zu schaffen?
Durch die Stiftung sehe ich, wie viele Familien in Deutschland keinen Zugang zu Bildung haben, weil es bei ihnen um ganz andere Dinge geht. Ich denke, dass all jene Menschen, die viel mitbekommen haben, auch die Erben-Generation, einen Beitrag leisten sollten, um Ungleichheit und Desintegration im gesellschaftlichen System zu mindern. Es gibt schon zahllose Menschen, die das tun, die sich vor allem im Ehrenamt engagieren. Oft wird das gesellschaftlich nicht ausreichend gewürdigt.
»Selbst etwas zu tun und nicht nur mit dem Finger auf andere zu zeigen – das kann man in vielen gesellschaftlichen Bereichen.«
Die Welt ist im Wandel. Es wird über Ressourcen debattiert, über Klima, Digitalisierung, das Schwinden politischer Mehrheiten. Wo soll man loslassen und woran festhalten?
Festhalten soll man an Grundsätzen, an zwischenmenschlichen und integrativen Werten. Nehmen Sie das Beispiel Bildung. Am Bildungssystem selbst kann ich wenig ändern, aber ich kann mich vor Ort engagieren. Auch wenn ich das nur als Tropfen auf dem heißen Stein empfinde. Selbst etwas zu tun und nicht nur mit dem Finger auf andere zu zeigen – das kann man in vielen gesellschaftlichen Bereichen.
Sie haben zwei Kinder. Was raten Sie denen mit Blick auf die Zukunft?
Auf ihren Bauch zu hören und auf das Herz. Nachzuforschen und sich klar zu werden, was sie ausmacht. Einen Weg zu wählen, auf dem sie unabhängig sein können und auf dem sie die Möglichkeit haben, sich weiterzuentwickeln. Heutzutage gibt es nicht mehr die klaren Berufsbilder, die wir damals hatten, alles ist sehr viel komplexer. Aber es geht heute wie damals darum, den eigenen Kern zu erkennen und ihn zu stärken.
Wie schauen Sie auf die heutige Gesellschaft?
Vieles besorgt mich, nicht nur der Klimawandel. Das Land, die Verhältnisse sind politisch nicht so stabil, wie es eine Zeit lang den Anschein hatte. Am meisten Sorgen machen mir Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Es gilt, die Augen aufzumachen und Position zu beziehen – auch wenn da mal eine Freundschaft dran glauben muss. Jeder von uns sollte sich klar sein, auf welchem Pfad er gehen will und er sollte auf diesem Pfad bleiben. Also aufstehen, aktiv werden, die Flagge selbst in die Hand nehmen.
GESPRÄCH: Birgit Kummer
FOTOS: Stefanie Aumiller, Rodenstock GmbH/Creative Commons, Quirin Leppert, Pragyan Bezbaruah/Pexels
So gelingt der Generationswechsel
Neun von zehn der deutschen Unternehmen sind in der Hand von Familien. Für jährlich 70.000 von ihnen steht ein Generationswechsel an. In gut jedem zweiten Unternehmen soll ein Familienmitglied das Ruder übernehmen. Doch viele Übergaben würden schlecht und zu spät vorbereitet, sagt Beatrice Rodenstock. Sie berät Unternehmerfamilien bei der Nachfolgeplanung. Ihr Rat: frühzeitig miteinander zu sprechen, Wünsche und Ziele zu klären und passende Lösungen zu erarbeiten.