No. 14 - VERTRAUEN

Menschen

„Ein Fundament, das man Grundvertrauen nennt“

Der Tod des eigenen Kindes kann unser Vertrauen zutiefst erschüttern. Anne und Nikolaus Schneider haben diese schmerzvolle Erfahrung zum Anlass genommen und ein Buch über ihr „Dennoch-Vertrauen“ verfasst. Im Interview erzählen sie, wie ein Grundvertrauen gelingen kann, wo die Grenzen sind und warum wir dringend Vertrauen brauchen: ineinander, in die Gesellschaft und in Gott.

Lesedauer ca. 7 Minuten

In unsicheren Zeiten: Das Ehepaar Anne und Nikolaus Schneider fotografiert am 07.11.2012 in Timmendorfer Strand. Ein Gespräch über ihr Dennoch-Vertrauen, wie Grundvertrauen gelingt und was in unsicheren Zeiten trägt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Steffen Roth

Seit über 50 Jahren sind Anne und Nikolaus Schneider miteinander verheiratet. Sie studierte Theologie und arbeitete als Lehrerin. Er war zunächst Pfarrer, dann Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und schließlich Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Beide engagieren sich bis heute in Kirche und Politik. Gemeinsam bewältigten sie den frühen Tod der jüngsten ihrer drei Töchter, die 2005 an Leukämie starb. Als 2014 auch seine Frau an Krebs erkrankte, trat Nikolaus Schneider als EKD-Ratsvorsitzender zurück. Trotz aller Enttäuschungen und Schicksalsschläge haben die beiden ihr Vertrauen bewahren können – eine Grundlage für ein glückliches Leben.

Ihre jüngste Tochter starb 2005 an Leukämie. Das ist für Eltern ein kaum vorstellbarer Schmerz. Wie ist es Ihnen gelungen, das Vertrauen ins Leben trotzdem nicht zu verlieren?


Anne Schneider:
Ich kann nicht erwarten, dass das Leben nur ein Rosengarten ist. Ich muss akzeptieren, dass zu einem erfüllten Leben auch Krankheit, Abschied und Tod gehören. Nur dann kann ich so etwas wie ein Dennoch-Vertrauen entwickeln. Alles andere wäre naiv. Das gilt ja nicht nur für Vertrauen, sondern auch für Liebe und menschliche Beziehungen insgesamt.

Nikolaus Schneider: Es kommt kein Mensch daran vorbei, dass es Schicksalsschläge gibt, dass es Krankheiten gibt, dass es Enttäuschungen gibt, dass Träume und Wünsche nicht erfüllt werden, dass Vertrauen missbraucht wird. Es ist ein Gelingen und Scheitern. Das erst macht das Leben aus. Wir selber sind auch nicht immer die Guten, wir sind auch manchmal die Bösen. Es ist wichtig, sich das zuzugestehen.

»Es geht darum, sich beständig um eine realistische Lebenshaltung zu bemühen, aber auch die Geschenke dankbar anzunehmen. «

Das heißt, wir brauchen auch gute Erfahrungen, um Vertrauen zu entwickeln?


N.S.:
Vertrauen wird einem durch Lebensumstände geschenkt, für die wir nur sehr wenig können. Es ist ein großes Geschenk, dass meine Frau mich liebt. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, ich bin in Mitteleuropa geboren. Das sind Dinge, die sind mir gegeben worden. Es geht darum, sich beständig um eine realistische Lebenshaltung zu bemühen, aber auch die Geschenke dankbar anzunehmen.

Vieles davon nehmen wir als Selbstverständlichkeiten hin.


A.S.:
Ohne Dankbarkeit kann ich kein Vertrauen fassen. Als es unserer Tochter Meike schlecht ging, gab es viel, wofür ich auch dankbar war: dass unsere Beziehung so intensiv war, dass wir zwei Jahre noch diese Nähe hatten, dass unsere Familie dadurch noch einmal näher zusammengewachsen ist. Aber es gibt Schicksale, da würde es mir auch schwer fallen, Dankbarkeit zu empfinden. Unsere persönliche Erfahrung lässt sich nicht auf alle anderen übertragen.

In unsicheren Zeiten: Hochzeitsfoto von Anne und Nikolaus Schneider, 1970. Einander lesen und respektieren zu können, half dem Theologen-Paar durch schwere Zeiten. Ein Gespräch über ihr Dennoch-Vertrauen, wie Grundvertrauen gelingt und was in unsicheren Zeiten trägt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: privat/Anne und Nikolaus Schneider

Seit über 50 Jahren vertraut. Einander lesen und respektieren zu können, half dem Ehepaar durch schwere Zeiten.

In unsicheren Zeiten: Schwarzweißbild von Anne und Nikolaus Schneider, Borkum 1971. Einander lesen und respektieren zu können, half dem Theologen-Paar durch schwere Zeiten. Ein Gespräch über ihr Dennoch-Vertrauen, wie Grundvertrauen gelingt und was in unsicheren Zeiten trägt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: privat/Anne und Nikolaus Schneider

Viele Beziehungen zerbrechen an so einer leidvollen Situation. Sie beide sind dagegen noch stärker zusammengewachsen.


A.S.:
Für mich war zu dieser Zeit unsere Beziehung ungemein wichtig. Dass man Leid teilen kann, dass ich spüre, der andere geht mit mir da rein, ohne gleich mit pädagogischen oder theologischen Antworten zu kommen. Ich fühlte mich nicht nur in meinem Herzen von Gott gehalten, sondern auch körperlich von meinem Mann.

N.S.: Wir waren damals schon über 30 Jahre verheiratet. Wir kannten uns und wussten, dass wir mit Gefühlen unterschiedlich umgehen. Ich bin eher zurückhaltend und neige dazu, mich eher zu verschließen, wenn es schlimm wird. Meine Frau redet lieber. Das wussten wir von einander. Wir konnten einander lesen und respektieren. Und deshalb hat es auch in dieser Extremsituation standgehalten.

A.S.: Als Meikes Krankheit ausbrach, war Nikolaus gerade zum Präses gewählt worden und ich wusste, dass ihm die Arbeit helfen würde, mit dem Kummer und Leid zu leben. Auf der anderen Seite hatte er dieses Gefühl überwunden, dass ich immer übertreibe und eine Show mache. Wir wussten, das ist weder ein Überschwang an Gefühlen bei dem einen noch ein Mangel an Gefühlen bei dem anderen, sondern ein unterschiedlicher Umgang damit.

»Wir haben gelernt, dass wir uns vergeben können. Dadurch ist ein Fundament gewachsen, das man Grundvertrauen nennen kann.«

Welche Rolle spielt Vergebung in solchen Situationen?


N.S.:
Natürlich kommt es vor, dass wir uns gegenseitig verletzen, manchmal unbeabsichtigt, manchmal auch, weil wir es wollen. Wir haben in den ersten Jahren diese Auseinandersetzungen riskiert und dabei auch unsere Beziehung aufs Spiel gesetzt. Es war ja gar nicht klar, dass das so lange hält. Wir haben gelernt, dass wir uns vergeben können. Dadurch ist ein Fundament gewachsen, das man eine Art Grundvertrauen nennen kann.

A.S.: Im Vorwort der Nordsee-Bibel habe ich gerade gelesen: „Fragen, Widersprüche und dabei die Hoffnung nicht aufgeben“. Das ist für mich, was Vertrauen ausmacht. Nicht fraglos akzeptieren. Widersprüche aushalten, die sich nicht eindeutig klären lassen, weder bei anderen Menschen noch bei Gott. Und trotzdem die Hoffnung nicht aufgeben.

Wie hängen ihrer Erfahrungen nach Vertrauen und Selbstvertrauen zusammen?


N.S.:
Ich habe häufig die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen, die anderen gegenüber grundsätzlich misstrauisch sind, häufig auch selbst nicht vertrauen und voller Selbstzweifel sind. Selbstvertrauen ist eine wesentliche Voraussetzung, dass ich auf andere Menschen zugehen kann und offen bin.

A.S.: Aber Selbstvertrauen ist auch die Folge von gelungenen Beziehungen. Das ist ein Wechselspiel. Bei der Erziehung unserer Töchter ging es uns darum, sie auch in ihrem Selbstvertrauen als Frauen zu stärken. Man darf ja nicht vergessen, dass in den 1970er und 1980er Jahren die Emanzipation auch in der Kirche gerade erst anfing. Ich durfte beispielsweise nicht Pastorin werden.

»Es gibt eine Art von Vertrauen, die ist im Grunde Verantwortungslosigkeit. «

Sie haben dann als Lehrerin gearbeitet. Wie waren Ihre Erfahrungen in der Schule? Wie viel Kontrolle ist neben Vertrauen nötig?


A.S.:
Man muss die Ebenen unterscheiden. Wenn ich grundsätzlich den Schülern als jungen Menschen vertraue, die die Schule schaffen wollen und mich als Lehrerin respektieren, kann ich dennoch kontrollieren, ob alle ihre Hausaufgaben gemacht haben. Die Kontrolle im Kleinen bedeutet nicht, dass man kein Vertrauen hat. Auch wenn der Staat grundsätzlich Vertrauen in seine Bürger hat, muss er dennoch die Fahrkarten in der U-Bahn kontrollieren. Das kann man auch auf Beziehungen übertragen. Nikolaus ist sicherlich der Mensch auf der Welt, zu dem ich am meisten Vertrauen habe. Aber wenn er sagte, dass er um 14 Uhr zu Hause sein oder die Kinder aus der Kita abholen würde, dann konnte ich mich nicht darauf verlassen. Zu einem Grundvertrauen gehört, dass ich um die Schwächen des anderen weiß. Es geht nicht um blindes Vertrauen, bei dem kritiklos der Verstand ausgeschaltet wird.

N.S.: Es gibt eine Art von Vertrauen, die ist im Grunde Verantwortungslosigkeit. Die sagt, ich vertraue Dir, schiebt damit aber die Verantwortung voll auf den anderen ab. Ein realistisches Vertrauen dagegen nimmt den anderen in seinen Möglichkeiten wahr, aber auch in seinen Grenzen.

A.S.: Ganz schwierig wird es bei der sexuellen Treue. Wie viel Vertrauen kann man dem anderen entgegenbringen, wenn man doch an sich selbst sieht, dass man offener für irgendwelche Flirts ist, wenn man alleine unterwegs ist? Das ist so ein Feld, wo ich sagen würde, eine Beziehung lebt nicht von einem hundertprozentigen Vertrauen, das Grundvertrauen geht nicht in alle Bereiche. Dann ist es wichtig, dass man dem anderen, aber auch sich selbst vergeben kann.

In unsicheren Zeiten: Nikolaus Schneider faltet bei einer Pressekonferenz seine Hände, hinter ihm ein Kreuz. Als Pfarrer und EKD-Ratsvorsitzender genoss er viel Vertrauen. Ein Gespräch darüber, wie Grundvertrauen gelingt und was in unsicheren Zeiten trägt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: dpa/picture alliance/Tobias Hase

Als Pfarrer und als EKD-Ratsvorsitzender genoss Schneider viel Vertrauen. Nur so habe er Stimme und Gesicht seiner Kirche sein können.

Sie, Herr Schneider, waren viele Jahre Pfarrer. Ein besonderer Beruf, in dem einem viel Vertrauen entgegengebracht wird. Wie sind Sie damit umgegangen?


N.S.:
Sie klingeln an einer Wohnungstür und werden sofort hereingebeten. Menschen öffnen sich Ihnen und erzählen Ihnen Dinge, die sie niemandem sonst erzählen. Ich war manchmal richtig erschreckt. Meine Güte! Welches Vertrauen, welche Offenheit wird dir entgegengebracht! Ich habe es als ein großes Geschenk betrachtet, mit dem ich immer sehr achtsam umgegangen bin. Wenn meine Frau und ich uns ausgetauscht haben, musste ich sehr darauf achten, was ich ihr erzählen darf.

2010 wurden Sie zum Ratsvorsitzenden der EKD gewählt. Ihre Wahl haben Sie als großen Vertrauensvorschuss bezeichnet.


N.S.:
Mit so einer Wahl ist die Erwartung verbunden, dass ein Mensch der Aufgabe auch gewachsen ist. Menschen haben mir zugetraut, dass ich das Amt fair ausführe und meine Macht nicht missbrauche. Das hat es mir ermöglicht, mich den großen Anforderungen zu stellen und auf die anderen zuzugehen und ihnen zuzuhören. Nur so konnte ich in der Öffentlichkeit Stimme und Gesicht für diese Kirche sein.

»Man muss die Freundlichkeit erfahren, dass man Fehler machen kann. «

Wird diese Art von Vertrauen in der Berufswelt nicht immer weniger?


N.S.:
So allgemein kann ich das nicht sagen. Aber umso engmaschiger die Kontrolle und die Überwachung sind, desto weniger Vertrauen ist da. Um vernünftig arbeiten zu können, muss man auch Fehler machen können. Man muss die Freundlichkeit erfahren, dass man Fehler machen kann, dass man die korrigieren kann und dass man danach immer noch das Vertrauen hat. Also, die Fehlerfreundlichkeit einer Arbeitswelt ist ganz entscheidend dafür, dass Menschen gemeinsam schwierige Aufgaben bewältigen können.

Fehlerfreundlichkeit ist ein gutes Stichwort. Brauchen wir davon auch mehr in der Politik?


A.S.:
Die Öffentlichkeit hat ein großes Kontrollbedürfnis. Aus dem kleinsten Fehler wird, beschleunigt durch die sozialen Medien, ganz schnell ein großer Fall. Da wird beim kleinsten Versagen das Personal ausgewechselt. Wie viele Leute haben wir dadurch allein in meiner Partei, der SPD, in den vergangenen Jahren verschlissen!

N.S.: Fehler einzugestehen ist ja eigentlich eine Stärke. Aber im politischen Bereich wird das vom Gegner gerne ausgenutzt, um dem anderen jegliche Kompetenz abzusprechen. Zudem müssen sich Politiker immer fragen, welches Maß an Verunsicherung sie verantworten können. Wir leiden ja nicht an zu wenig, sondern eher an zu viel Information. Insofern ist es nachvollziehbar, dass Politiker meist sehr zurückhaltend mit Fehlern umgehen.

Unsere Gesellschaft kultiviert eine kritische, misstrauische Haltung nach dem Motto: „Ich bin doch nicht blöd“.


N.S.:
Das ist ja an sich richtig. Vertrauen setzt voraus, dass ich jemanden kritisch betrachte. Aber es wäre falsch, wenn Misstrauen und die Haltung vorherrschen, der andere lügt immer. Man muss unterscheiden zwischen Kritikfähigkeit und einem grundsätzlichen Misstrauen.

»In einer Situation von Angst und Verunsicherung erwarten Menschen, dass einer sagt, wie es ist. Das ist zurzeit nicht möglich.«

In der Corona-Pandemie musste die Politik schnelle Entscheidungen fällen und teilweise wieder zurücknehmen. Das hat sie Vertrauen gekostet.


N.S.:
Hier ist Politik in einem Bereich unterwegs, in dem wir gerade lernen. Lernen heißt, ich muss mich ständig überprüfen und vielleicht auch korrigieren. Und wenn Politiker das tun, ist das ein Zeichen von Vernunft und Stärke. Aber in einer Situation von Angst und Verunsicherung erwarten die Menschen, dass einer sagt, wie es ist, damit sie sich darauf verlassen können. Nur ist das zurzeit nicht möglich.

A.S.: Das gilt ja auch für Kirche. Unser Reden von Gott ist vage und mit Widersprüchen verbunden. Und keiner – kein Papst, kein Bischof und kein Ratsvorsitzender – kann eindeutig sagen, was Gott von den Menschen will. Damit können aber einige Menschen nicht leben. Sie wollen Instanzen, die sagen, was absolut gilt. Das führt politisch in die Diktatur und theologisch zum Fundamentalismus.

In unsicheren Zeiten: Anne und Nikolaus Schneider in ihrem Wohnzimmer. Ein Gespräch über ihr Dennoch-Vertrauen, wie Grundvertrauen gelingt und was in unsicheren Zeiten trägt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Markus Wächter

Mit dem Alter vertraue sie mehr auf Menschen als auf Institutionen, sagt Anne Schneider.

Wird man mit zunehmendem Alter automatisch misstrauischer?


N.S.:
Ich könnte das von mir nicht sagen. Auch die zunehmenden körperlichen Einschränkungen führen nicht dazu, dass ich die Welt als unfreundlicher erlebe. Stattdessen begegnen mir Hilfsbereitschaft und Verständnis.

A.S.: Je älter ich werde, desto weniger vertraue ich auf Institutionen, sondern mehr auf Menschen. Ich brauche die Institution Kirche viel weniger. Die Frage der Konfession, ob jemand evangelisch oder katholisch ist, hat für mich viel an Bedeutung verloren. Das Gleiche geschieht mit engen Glaubensvorstellungen. Im Alter werden meine Gottesvorstellungen nicht enger, sondern weiter. Gottvertrauen ist für mich inzwischen mehr ein Geborgensein in einer größeren Kraft.

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In unsicheren Zeiten: Cover des Buches „Vertrauen“ von Anne und Nikolaus Schneider. Im Interview sprechen sie über ihr Dennoch-Vertrauen, wie Grundvertrauen gelingt und was in unsicheren Zeiten trägt. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: adeo-Verlag, Barry Simon on Unsplash

Anne Schneider, Nikolaus Schneider: Vertrauen. Was in unsicheren Zeiten wirklich trägt. Vertrauen ist die Grundhaltung eines glücklichen Lebens. Anne und Nikolaus Schneider zeigen, wie es gelingen kann. Ihr Buch macht Mut, trotz Enttäuschung immer wieder neu zu hoffen, neu zu vertrauen und das Leben zu lieben. Erschienen bei adeo.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: Steffen Roth, Anne und Nikolaus Schneider (Privataufnahmen), dpa/picture alliance/Tobias Hase, Markus Wächter, adeo-Verlag, Barry Simon/Unsplash