No. 18 – ERFÜLLUNG

Wissenswertes

Ein Topf voller Leben

Welche Zutaten braucht es für ein erfülltes Leben? Glück gehört dazu, aber nicht nur. Arbeit, Familie, Freunde sind manchmal anstrengend, aber zugleich geben sie uns Kraft. Und schließlich, wie das Salz in der Suppe: die richtige Einstellung.

Lesedauer ca. 5 Minuten

Rückblick auf ein erfülltes Leben: Auf dem Herd steht ein dampfender Kochtopf

Wenn sie gefragt wurde, was sie arbeitete, erwiderte sie „Hausfrau“ und war stolz darauf. Vier Kinder hatte Luise – zusammen mit ihrem Mann Götz, der Violinist und Konzertmeister war. Dennoch führte Luise kein Leben im Schatten ihres Mannes. Vielmehr waren sie eine Einheit: sie, ihr Mann und die Kinder. Bei allen Entscheidungen war Luise mit dabei, in welche Stadt sie zogen, wo und wie sie wohnen würden, welcher nächste Karriereschritt anstand, wohin es in den Urlaub ging – selbst die Buchhaltung und die Finanzen lagen in ihren Händen. Immer wieder begleitete Luise ihren Mann zu seinen Auftritten, flog mit ihm in die USA, nach Lateinamerika, nach Russland.

Und dazwischen? Da kochte sie und buk, jeden Tag einen frischen Kuchen. Sie war da, wenn die Kinder von der Schule kamen, wenn diese krank waren. Sie machte den Haushalt, las aber auch ein Buch nach dem anderen. Die Haustür stand offen und im Kochtopf gab es selbstverständlich immer ein paar Portionen zusätzlich – für die vielen Freunde, die vorbeikamen. Zwischenzeitlich war all das anstrengend, es gab Jahre, in denen das Geld äußerst knapp war und jede Ausgabe gut überlegt sein musste. Und doch, alles in allem kann man sagen, dass Luise ein volles und erfülltes Leben hatte.

Im Topf: ein stärkenden Brühe mit Gemüse und Klößchen

Wir schöpfen Kraft aus befriedigenden Tätigkeiten und dem Dienst an einer Sache, von der wir überzeugt sind.

Aristoteles‘ Idee vom guten Leben

Die Frage nach dem gelungenen, erfüllten Leben ist so alt, wie die Menschheit selber. Schon in der Antike nahm der Philosoph Aristoteles an, dass alle Menschen nach Glück streben. Glück bedeutete für ihn, ein gutes Leben zu führen und gut zu handeln. Sinnhaftigkeit sah er darin, dass ein Mensch seinen Fähigkeiten entsprechend innerhalb der Gesellschaft tätig ist.

Auch der österreichische Philosoph und Theologe Professor Clemens Sedmak setzt auf ein aktives Leben: „Kraft schöpfen wir aus einer Tätigkeit, die befriedigt, aus Begegnungen mit Menschen, die uns nahe sind, aus dem Dienst an einer Sache, von der wir überzeugt sind, durch Verantwortung und Sorge für Partner, Kinder, Verwandte“, sagt er im Magazin „Geo“. Und Sedmak unterschiedet: Ein erfülltes Leben sei nicht immer ein glückliches, genauso wie ein glückliches Leben noch kein erfülltes sei.

Im heutigen Sprachgebrauch wird das Wort „erfüllt“ ganz unterschiedlich angewendet. Man kann sich einen Traum oder Wunsch erfüllen. Man ist erfüllt von etwas, einem Gefühl, einer Stimmung. Das kann Glück oder Liebe, aber auch Hass sein. Oder man erfüllt Anforderungen, Erwartungen, eine Bitte. Klang kann einen Raum erfüllen. Und in der Grabrede schließlich heißt es oft, dass jemand ein erfülltes Leben hatte. Hier schwingt die Fülle mit und damit auch eine Zufriedenheit.

Erfüllung: Arme und Hände arbeiten an einem Tisch.

Verbundenheit mit anderen Menschen macht uns gesünder, glücklicher und lässt uns länger leben.

Die Fülle eines Lebens

Doch womit wird ein Leben angefüllt? In Luises Fall war es die Rolle, die sie in ihrer Familie spielte. In dem sozialen Gefüge stand sie viele Jahre im Mittelpunkt. Einerseits übernahm sie die Rolle der Hausfrau und Vollzeitmutter, gleichzeitig stand sie an der Seite ihres Mannes und war an dessen Leben maßgeblich beteiligt. All das gab ihr Sinn und machte sie lebendig. Gleichzeitig war genügend Raum für Neues und Spannendes, für Freunde, Bücher, Reisen.

Für andere da zu sein, zu waschen und zu putzen in einem Haus, das ständig voller Menschen ist und dafür auf die eigene Berufstätigkeit zu verzichten – das ist nicht für jeden etwas. Doch für Luise passte es. Als vierte Tochter in einem Pfarrershaushalt geboren, waren ihr Trubel und Familiensinn quasi in die Wiege gelegt.

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Das Wichtigste: andere Menschen

Auch Forscher an der Harvard Universität sind in einer der längsten Gesellschaftsstudien der Frage nachgegangen, wie man ein langes und erfülltes Leben führen kann. Bereits Ende der 1930er Jahre begannen sie, in der berühmten Grant Studie Lebensläufe zu verfolgen: auf der einen Seite männliche Harvard-Absolventen, auf der anderen junge Männer, die in der Innenstadt von Boston aufgewachsen waren und zumeist aus ärmeren Familien stammten. Diese beiden Gruppen untersuchten sie Jahrzehnt für Jahrzehnt, befragten sie über ihr Leben, ihre Kinder, ihre Heirat, die berufliche Situation und ihren Gesundheitszustand. Nach und nach nahmen sie auch die Frauen und die Kinder in die Studie mit auf.

Die Wissenschaftler zogen dabei eine Reihe von Schlüssen. „Zuerst das offensichtliche“, wie der aktuelle Direktor der Studie, Robert Waldinger meint: Man müsse sich um sich kümmern. Dazu zähle Sport, eine gesunde Ernährung, wenig Alkohol und nicht rauchen. Womit die Forscher allerdings nicht gerechnet hatten: „Gesünder, glücklicher und länger am Leben waren die Menschen, die besser mit anderen Menschen verbunden waren, die gute Beziehungen führten.“

Dabei gehe es nicht um die Menge an Freunden, betont der Professor, sondern um die Tiefe und Qualität der Beziehung. Die Beziehungen können zu Ehepartnern, Kindern, Enkelkindern, alten und neuen Freunden bestehen. Wichtig sei, dass man sich mit den anderen wohlfühle und sich so zeigen könne, wie man wirklich ist. Dazu gäbe es einen einfachen Test: „Wenn man sich von etwas tief getroffen fühlt, sich dann aber erleichtert, ruhiger und besser fühlt, wenn man es jemandem erzählt hat, dann ist das meist eine gute Beziehung“, so Waldinger. Umgekehrt wirken sich Einsamkeit oder schädliche Beziehungen fast schon toxisch auf das Wohlbefinden und die Gesundheit aus.

Erfüllung im Beruf: Ein Pizzabecker wirbelt den Teig

Eine erfüllende Tätigkeit: wenn wir in uns schlummernde Potenziale verwirklichen.

Leidenschaft und Beruf

Eine wichtige Rolle spielt für viele Menschen natürlich auch ihr Berufsleben. Der österreichische Theologe und Philosoph Clemens Sedmak beruft sich auf Aristoteles, wenn er sagt: „Die gelingende Lebensführung besteht zu einem wichtigen Teil in einer sinnerfüllten Tätigkeit, in der jeder Einzelne seine in ihm schlummernden Potenziale verwirklichen kann.“ Was aber ist eine sinnerfüllte Tätigkeit? Wenn man als Forscher die Behandlung schwerer Krankheiten verbessert, als Busfahrerin täglich hunderte Menschen sicher durch die Stadt bringt oder als ehrenamtlicher Lesepate Grundschülern beim Lernen hilft? Die Antwort ist einfach: Es kommt nicht so sehr auf die Art der Tätigkeit an, als viel mehr darauf, mit welcher Einstellung wir sie verrichten.

Erich zum Beispiel, in seiner Kindheit während des Ersten Weltkriegs wäre er fast verhungert, in der Weimarer Republik fand er nur Gelegenheitsarbeit und im Zweiten Weltkrieg erlebte er das Schlimmste, was man als Soldat erleben kann. Doch Erich hatte eine große Stärke: seine Leidenschaft für Technik, die er auch zu seinem Beruf machte. Bei Siemens reparierte der Feinmechaniker Filmprojektoren, später bildete er junge Menschen darin aus, Radio- und Fernsehgeräte zu bauen.

Streng war er, konnte aber auch eine Menge beibringen – er fühlte sich gebraucht und fand in all dem eine Art, zufrieden zu sein. Erich wollte sich nicht nach mehr Geld verzehren und durch höhere Ansprüche an sich selber getrieben werden. „Das macht nur unglücklich“, sagte er einmal. Am Ende blickte Erich auf ein erfülltes Leben, obwohl die erste Hälfte alles andere als glücklich verlaufen war.

Erfüllung: eine Großfamilie sitzt am Tisch

"Einen Tag nach dem anderen leben, jeden Tag als einen ganz besonderen sehen."

Jeder Tag ist ein besonderer

Wie sehe ich auf mein Leben? Habe ich das gefunden, was zu mir und meiner Wesensart passt? Wichtig sei es, so der Philosoph Sedmak im Geo-Magazin, dass man in der Sinnfrage nicht größenwahnsinnig werde, keine maßlosen Bedürfnisse entwickle. „Man sollte vielmehr um geglückte Tage wissen. Einen Tag nach dem anderen leben, jeden Tag füllen und ehren, jeden Tag als einen ganz besonderen sehen.“

Das gilt für jedes Alter: „Das Wort ‚erfüllt‘, hat etwas Endgültiges, was mir nicht gefällt. Was mich erfüllt, ist hingegen der Moment“, sagte Inge Ginsberg, Journalistin, Sängerin, Autorin und Holocaust-Überlebende, einmal in einem Fernseh-Interview. Sie habe noch so viele Projekte und Ideen, die sie noch umsetzen wolle, meinte die damals 94-Jährige. Denn auf ein erfülltes Leben zurückzublicken, heißt nicht, dass es damit vorbei ist.

TEXT: Karl Grünberg
FOTOS: Gaelle Marcel / Unsplash, Pepipepper / Photocase, Annie Spratt / Unsplash, Jose Coello / Stocksy, Askar Abayev / Pexels