No. 9 – HEIMAT

Wissenswertes

Ein Dorf erfindet sich neu

Das sächsische Nebelschütz ist ein blühender Ort. Eine Heimat, in der Menschen bleiben, statt abzuwandern. Es gibt einen Babyboom und eine Warteliste für junge Leute, die bauen wollen. Während andernorts die Dörfer veröden, ist die sorbische Gemeinde schon immer einen etwas anderen Weg gegangen. Mit Ideen, Tradition und Gemeinsinn.

Lesedauer ca. 6 Minuten

Heimat mit Zukunft: Der Öko-Jungbauern Ignaz Wessela hält sich ein Mohnhörnchen als lachenden Munde vor das Gesicht. Die sächsische Gemeinde Nebelschütz. Während andernorts Dörfer veröden, erlebt die sächsische Gemeinde einen Boom. Heimat durch Ideen, Tradition und Gemeinsinn. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Die Jahre nach der Wende waren eine schlimme Zeit für das kleine Dorf Nebelschütz in der Oberlausitz. Viele Menschen verloren die Arbeit, zogen fort und die Häuser verfielen. Die Zurückgebliebenen gaben die traditionelle Selbstversorgung auf, hielten keine Hühner mehr und bauten kein Gemüse mehr an. Eine Spirale des langsamen Sterbens, wie sie viele Dörfer im Osten erfuhren und noch immer erfahren. Doch Nebelschütz hat sich gegen den Trend gestemmt. Vielleicht half dabei der Widerstandsgeist, der in einigen Nebelschützern schon zu Zeiten der DDR lebte. Sie wehrten sich gegen die Gülle der industriellen Landwirtschaft, die tonnenweise auf und neben die Felder geschüttet wurde. „Damals haben wir das Kämpfen gelernt“, sagt Thomas Zschornak, seit 1990 ehrenamtlicher Bürgermeister der Gemeinde.

Widerstand gegen Müllberge und Schnellstraße

Der Kampf gegen von oben verordnete Beschlüsse ging nach der Wende weiter. Erst gegen eine Mülldeponie mit 30 Meter hohen Abfallbergen, dann gegen eine Umgehungsstraße, die direkt neben einem Neubaugebiet verlaufen sollte. Und schließlich begannen Zschornak und seine Mitstreiter, sich auch dem Verfall ihres Dorfes zu widersetzen. „Ein Wendepunkt war, als es gelang, wieder eine Infrastruktur zu schaffen und Gebäude zu sanieren“, sagt der 54-Jährige. Entscheidend waren auch die Dorfentwicklungspläne, ein Förderprogramm des Amtes für Ländliche Neuordnung. Viele Dörfler beteiligten sich damals an den Diskussionen. Für jeden der fünf Ortsteile von Nebelschütz wurde eine eigene Gestaltungs- und Erhaltungssatzung beschlossen. Jetzt hat zum Beispiel jedes Dorf einen eigenen Spiel- und Fußballplatz, auch das nur 52 Einwohner zählende Dürrwicknitz.

Heimat mit Zukunft: Dorfstraße mit Radfahrer, Blick auf Kirche und renovierte Häuser. Das sächsische Nebelschütz ist ein blühender Ort. Eine Heimat, in der Menschen bleiben, statt abzuwandern. Mit Gemeinsinn, Tradition und Ideen. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Nebelschütz ist heute ein lebenswertes Dorf. Nach der Wende drohte dem Ort ein langsames Sterben.

Sorbisch, kreativ und ökologisch

Sorbisch, herzlich, kreativ, ökologisch heißt das Motto. Oder anders formuliert: die eigene Identität bewahren und nachhaltig wirtschaften. Die Sorben wurden in der Nazizeit verfolgt, in der DDR wurden sie widerwillig geduldet. Dennoch konnten sie ihre Kultur vielfach erhalten. Zwei Drittel der knapp 1.200 Bewohner von Nebelschütz sind sorbischer Abstammung und katholisch. „Für uns gehören sorbische Kultur und Glaube zusammen. Auch die Kinder lernen schon, zusammenzuhalten“, findet Victoria Brezan, die Leiterin des 2015 neu gebauten Kindergartens. Die zweisprachige ökologisch-integrative Kindertagesstätte „Jan Skala. Barbojte kamuski“ (Bunte Steinchen) liegt im Herzen des Dorfes. Die Wände des Gebäudes sind teilweise mit Lärchenholz verkleidet, Weidenruten verdecken den Zaun, der das Gelände umschließt. Auf einer Seite schauen die Kinder auf eine kleine Wiese, durch die sich der Jauerbach schlängelt. Im Garten sind Gemüsebeete angelegt, in einer Ecke steht eine Obstpresse. „Damit können die Kinder die Äpfel von ihrem eigenen Baum zu Saft pressen“, erklärt Brezan. Der Kindergarten veranstaltet aber auch einen Obstpresstag für alle Nebelschützer, an dem das Obst der Streuobstwiesen gesammelt wird. „Jan Skala“ ist auch ein Symbol der Wiedergeburt. Anfang der neunziger Jahre kamen in Nebelschütz jährlich höchstens drei Kinder zur Welt, heute sind es jedes Jahr wieder 15 bis 17. „Kinder sind unser wertvollstes Gut“, sagt Bürgermeister Zschornak. „Wenn sie gut in ihrem Dorf aufgewachsen sind, kommen sie auch wieder zurück“.

Heimat mit Zukunft: Ein kleines Mädchen blickt aus dem Fenster des Kindergartens in Nebelschütz. Symbol der Wiedergeburt: Während andernorts junge Menschen abwandern, ist die sorbische Gemeinde ein Dorf mit Zukunft. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Der Kindergarten als Symbol der Wiedergeburt: Etwa 15 Kinder kommen inzwischen wieder jedes Jahr in Nebelschütz zur Welt.

Heimat mit Zukunft: Kinder spielen im Kindergartens in Nebelschütz. Symbol der Wiedergeburt: Während andernorts junge Menschen abwandern, ist die sorbische Gemeinde ein Dorf mit Zukunft. Durch Engagement, Tradition und Ideen. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Streuobstwiesen und Ökolandwirte

Zu den Zielen für die Zukunft gehört mittlerweile, ein ökologisches Dorf zu werden. Doch der Verzicht auf Pestizide und Ackergifte ist nicht vom Himmel gefallen. Dazu war einige Überzeugungsarbeit nötig, erzählt Zschornak. Gemeinsam mit Volkshochschulen und der Landeszentrale für politische Bildung wurden Zukunftswerkstätten und Informationsabenden organisiert, um über den Wert des Naturschutzes zu informieren. In den vergangenen 20 Jahren kaufte Nebelschütz etwa 100 Hektar Land – um Streuobstwiesen und Kräutergärten anzulegen oder die Flächen an Ökolandwirte zu verpachten. Drei Landwirte wirtschaften heute im Gemeindegebiet nach ökologischen Kriterien, vor wenigen Jahren gab es keinen einzigen. In den ehemaligen Tante-Emma-Laden ist der Lausitzer Höfeladen eingezogen, der regional und biologisch hergestellte Produkte verkauft. „Das ist nicht einfach, weil die Leute hier oft ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen“, berichtet Ruth Tinschert, eine der vier GründerInnen.

Heimat mit Zukunft: Biobauer Ignaz Wessela mit Frau, Kind, Hund und Traktor. Der Jungbauer plant möchte in seiner Heimat einen modernen Betrieb aufbauen. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Biobauer Ignaz Wessela plant langfristig. Er möchte einen modernen Betrieb aufbauen.

Nahe dem Laden stehen einige Holztische und -stühle, hier kann man etwas essen und auch ein Bierchen trinken. Ein kleiner informeller Treffpunkt für das Dorf, das noch immer keine dauerhaft geöffnete Gaststätte hat. Doch nicht alle im Dorf begegnen dem neuen Laden mit uneingeschränktem Wohlwollen. „Manche haben die Nase gerümpft, als wir zum Beispiel den Sitzbereich mit Baumstämmen abgegrenzt haben oder störten sich an nicht ordentlich hochgebundenen Tomatenstauden“, erzählt Ruth Tinschert. Hauptziel des Lausitzer Höfeladens ist die eigene Landwirtschaft, vor allem Wintergemüse soll angebaut werden. Dabei orientieren sich die Landwirte an den Grundsätzen der Permakultur, also an dauerhafter Landwirtschaft. Ruth Tinschert, die aus der Oberlausitz stammt und viele Jahre als Krankenpflegerin in Leipzig gearbeitet hat, ist hauptsächlich wegen dieses Projekts in ihre Heimat zurückgekehrt.

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Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Ausgabe 9: Heimat. GB, England, 1985: Eine Gruppe junger Backpackerinnen wartet am Flughafen. Symbolbild für das Aufbrechen, Suchen und Ankommen. Heimat ist Ort, Sehnsucht und Bedürfnis. Foto: Eve Arnold / Magnum Photos / Agentur Focus

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Unser Dorf hat Zukunft: 2. Platz

Auch die Arbeit ist wieder angekommen. Neben Handwerksbetrieben und Geschäften hat sich eine Firma mit 300 Mitarbeitern angesiedelt, die Überdachungen unter anderem für Eingänge, Wartehallen und Pavillons herstellt und bundesweit vertreibt. In einem Bau- und Recyclinghof werden alte Baumaterialien aus Abrissarbeiten wiederverwertet. In der geförderten Sozialwerkstatt arbeiten zurzeit zehn Asylbewerber, die auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen. Nebelschütz hat unter anderem den europäischen Dorferneuerungspreis gewonnen, den zweiten Platz im Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ gemacht und zuletzt 2017 eine Ehrung in dem Wettbewerb „Kerniges Dorf“ errungen. „Solche Prämierungen sind wichtig und machen die Leute stolz“, sagt Bürgermeister Zschornak. Die Preise und Projekte überzeugen langsam auch diejenigen, die lange an den neuen Ideen gezweifelt haben. Und sie tragen dazu bei, dass die Menschen wieder gerne in Nebelschütz wohnen wollen. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Die Gemeinde führt seit einigen Jahren eine Warteliste für Miet- und Bauwillige, auf der durchschnittlich fünf bis zehn Bewerber stehen. Nebelschütz will nur langsam wachsen und seinen dörflichen Charakter bewahren. Daher werden nur kleine Flächen als neues Bauland ausgewiesen.

Heimat mit Zukunft: Bürgermeister Thomas Zschornak sitzt auf einer hölzernen Statue. Seit 30 Jahren engagiert er sich ehrenamtlich für seine Heimat. Heute ist Nebelschütz ist bereit für die Zukunft – als enkeltaugliche Heimat. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Bürgermeister Thomas Zschornak ist zufrieden. Das Dorf ist bereit für die Zukunft – als enkeltaugliche Heimat.

Heimat mit Zukunft: Bürgermeister Thomas Zschornak mit einem Bildhauer im Steinbruch Nebelschütz. Die Gemeinde ist bereit für die Zukunft – als enkeltaugliche Heimat. In: Prinzip Apfelbaum. Magazin über das, was bleibt. Foto: Antonina Gern

Eine Kunst-Landschaft am See

Einige Kilometer vom Dorfkern entfernt hat sich Nebelschütz einen ganz besonderen Ort geschaffen: eine wilde, blühende Landschaft rundum einen ehemaligen, jetzt teilweise gefluteten Steinbruch. Dazwischen stehen und hängen Kunstwerke aus Holz, Metall und natürlich Steinresten. Eine urzeitlich anmutende, riesige Raupe aus Metall blickt auf den See mit den schroff abfallenden Klippen. Nachdenklich betrachtet ein Engel aus Holz mit großen Ohren und Pagenfriseur die Szenerie um sich herum – die Insektenhotels, den Waldgarten und den Kräuterhügel und die offene Sommerküche, die Zimmerleute auf der Walz im Rahmen eines sozialen Projektes gebaut haben. Um Kräuterhügel und Hochbeete kümmern sich Hartz-IV-Empfänger, die hier im Rahmen eines Integrationsprojektes arbeiten.

Anfang der 2000er Jahre hat die Gemeinde den Steinbruch gekauft, seit mehr als zehn Jahren veranstaltet der Verein „Steinleicht“ jährlich eine internationale Bildhauerwerkstatt. Zwei Wochen lang können dann Künstler aus aller Welt bei freier Kost und Logis an ihren Werken arbeiten. „Mutter Erde sind schon so viele Wunden geschlagen worden, wir wollen ihr hier wieder etwas zurückgeben“, sagt Zschornak. Der Bürgermeister weiß, dass er sein Dorf gut auf die Zukunft vorbereitet hat – als eine enkeltaugliche Heimat.

TEXT: Angelika S. Friedl
FOTOS: Antonina Gern