No. 20 – MENSCHLICHKEIT

Wissenswertes

Prothesen und Chips: Update für den Menschen

Seit etwa 30 Jahren wird an der Koppelung von Mensch und Maschine geforscht. Durch die Verbindung von Gehirn und Computer können Querschnittsgelähmte etwa Prothesen bewegen und künftig sogar kommunizieren. Je weiter die Forschung voranschreitet, desto dringender stellen sich Fragen jenseits der Technik: Was ist der Mensch – und was will er sein?

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Erweiterung des Menschen: Eine Hand besteht zur Hälfte aus mechanischen Teilen.

Ob künstliche Hüfte oder Herzklappe aus Carbon: Was vor einigen Jahrzehnten noch nach Science-Fiction klang, ist heute im Krankenhaus alltäglich. Dass der menschliche Körper mit künstlichen Implantaten versehen wird, Mensch und Technik also miteinander verschmelzen, nehmen wir in vielen Bereichen als selbstverständlich hin. Und die Forschung schreitet in großen Schritten voran.

Davon ist auch jenes Organ nicht ausgenommen, das unser Bewusstsein erst ermöglicht: In der Neurophysiologie wird intensiv an so genannten Gehirn-Computer-Schnittstellen geforscht. Mithilfe solcher Verbindungen kann bereits die Bewegungskontrolle bei Parkinson verbessert werden. Gelähmten Menschen ermöglichen die Brain-Computer-Interfaces, allein mit ihren Gedanken Prothesen zu steuern. Und vor kurzem hat ein Australier mit schweren Lähmungen den ersten Tweet weltweit über einen in seinem Gehirn implantierten Chip geschrieben.

Mehr Konzentration, mehr Gedächtnis mit Hilfe von Computern?

Noch sind Erfolge wie dieser ein Einzelfall. „Vom Gedankenlesen durch Hirnimplantate oder Gehirndoping durch Elektrostimulation sind wir noch weit entfernt“, betonte gerade erst Florian Mormann von der Universitätsklinik Bonn auf dem Kongress für Klinische Neurowissenschaften. Zum einen fehle bislang das Wissen für den direkten Zugriff auf die Nervenbahnen. Zum anderen seien noch viele damit einhergehende ethische Fragen zu lösen.

Wollen wir künftig mit Hirnimplantaten unser Gedächtnis und unsere Konzentration verbessern? Welche Folgen hätte es, wenn wir Smartphones und Computer direkt per Chip im Gehirn steuern würden? Und wenn es einmal möglich ist, indviduelle Leistung durch chemische Präparate oder technische Implantate zu steigern, wird dann nicht auch von uns erwartet werden, es zu tun?

Der verkabelte Mensch: Elektroden lesen die Hirnsignale am Kopf eines Mannes.

Wir verändern nicht nur unsere Werkzeuge, sondern auch uns selbst.

„Es wird immer schwieriger werden zu sagen, wo ich ende und wo der Computer beginnt“, warnte 2019 Yuval Noah Harari. In einer Grundsatzrede wies der Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem darauf hin, dass wir Menschen fast die gleichen Gehirne und Emotionen seit dem Mittelalter, der Antike und sogar der späten Steinzeit haben – trotz allen Fortschritts, der unsere Welt vor allem in den vergangenen 250 Jahren radikal verändert hat. „Die kommende Revolution wird das ändern“, so Harari. „Sie wird nicht nur unsere Werkzeuge verändern, sondern auch den Menschen selbst.“

Die evolutionäre Entwicklung verlief über enorme Zeiträume. Dass technische Möglichkeiten diese Veränderungen bald deutlich beschleunigen könnten, begrüßen die einen, anderen bereitet es große Sorgen. Skeptikerinnen und Skeptiker argumentieren unter anderem mit den „natürlichen Grenzen“, die es einzuhalten gelte. „Das ist irreführend, denn auf der biologisch-materiellen Ebene, lässt sich das Wesen des Menschen nicht erfassen“, hält der Philosoph Carl Friedrich Gethmann von der Universität Siegen dagegen. Schließlich würden etwa auch Antidepressiva, die man niemandem verweigern würde, in die Gehirnfunktionen eingreifen.

Ist die Würde des Menschen in Gefahr?

„Die Würde des Menschen muss gewahrt bleiben, das heißt, die Anerkennung seiner Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen“, so Gethmann, der auch Mitglied des deutschen Ethikrats war. „Der bloße physische Effekt spielt dabei keine Rolle.“ Ein Beispiel: Bei K.O.-Tropfen handelt es sich rein chemisch betrachtet um einen recht harmlosen Eingriff. Andere damit willenlos und gefügig zu machen, gilt dennoch aus guten Gründen als verwerflich.

Entscheidend ist laut Gethmann, dass der Mensch für seine Handlungen verantwortlich bleibt, jederzeit zustimmen, sich enthalten oder ablehnen kann: „Enhancement ist zu befürworten, wenn es die Handlungsurheberschaft des Menschen wenigstens bewahrt oder sogar erweitert, und abzulehnen, wenn es diese einschränkt oder zerstört.“

Digitalisiert: Das Gehirn als Leiterplatte.

Entscheidend ist, dass der Mensch für seine Handlungen verantwortlich bleibt.

Human Enhancement bezeichnet eine künstliche Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit durch technische oder chemische Mittel und wird seit vielen Jahrzehnten diskutiert. „Die menschliche Spezies kann, wenn sie es möchte, über sich selbst hinauswachsen“, schrieb bereits 1957 Julian Huxley, „nicht nur sporadisch, ein Einzelner mal so, ein anderer mal so, sondern als Ganzes, als Menschheit.“ Der Mensch sollte über seine evolutionär gegebenen Grenzen hinauswachsen.

Hierfür prägte der britische Biologe den Begriff Transhumanismus. Doch das Beispiel Huxley zeigt, welche Auswüchse dieses Denken nehmen kann. Denn der Bruder des Schriftstellers Aldous Huxley war nicht nur der erste Direktor der UNESCO. Er war auch ein führender Eugeniker seiner Zeit. Für den Transhumanisten gehörte zur Verbesserung des Menschen dazu, dass „unerwünschte“ genetische Entwicklungen aufgehalten würden.

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Nach uns etwas Neues?

Der Drang zur Optimierung, die eigenen Kräfte ins Übermenschliche zu steigern, ist also nicht neu. Menschen waren sich nie genug. Die Idee des Posthumanismus geht noch einen Schritt weiter: Mithilfe von Wissenschaft und Technik könnten wir in Zukunft Wesen entwickeln, in denen menschliche und künstliche Intelligenz sich vereinen und die in der natürlichen Spezies „Mensch“ nur noch ihren Vorfahren sehen. Auf diesem Weg ließen sich vielleicht sogar Krankheit, Sterblichkeit und Tod überwinden. Die Menschheit könnte sich in letzter Konsequenz selbst abschaffen.

Würde dann unser Bewusstsein durch blinde Intelligenz ersetzt werden? Stehen sogar die Menschenrechte auf dem Spiel? Das befürchtet der slowenische Philosoph Slavoj Žižek in einem Essay in der Neuen Zürcher Zeitung. Denn auch wenn die Schöpfung posthumaner Wesen bislang wie Science Fiction wirkt. Sehr viel realer ist die Möglichkeit einer radikalen Spaltung innerhalb der Gesellschaft.

„Die größte Gefahr besteht im Aufstieg einer kleinen Elite von hochgerüsteten Menschen, die sich dank Maschinen nicht nur optimieren, sondern die neuen Machtinstrumente auch besitzen und so über weitere Optimierungen entscheiden“, schreibt Žižek. „Einige wenige haben die Macht der Intelligenz, und die vielen haben nichts als die gute alte menschliche Dummheit.“

Was erwecken wir zum Leben? Menschlicher Zeigefinger berührt Roboterarm.

Als Gesellschaft besser werden

„Technokratische Konzepte wie Trans- oder Posthumanismus reduzieren die Gesellschaft auf ‚Sozialphysik‘“, kritisiert Annette Schlemm von der Universität Bonn. Wer so auf die Menschheit blicke, interessiere sich nicht für kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen, sondern lediglich für die Technologien, die sie hervorbringe. Das entspricht der gegenwärtigen Leistungsgesellschaft, meint die Physikerin und Philosophin.

Der Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt ist groß, neue Technologien versprechen uns dabei Vorteile. Der Blick in die Zukunft müsse aber über das Individuelle hinausgehen: „Der Mensch ist von seiner Natur her ein gesellschaftliches Wesen, für seine historische Weiterentwicklung sind gesellschaftliche Faktoren wesentlich.“

Schlemm fordert, vor lauter Leistungssteigerung nicht die qualitativen Aspekte zu vernachlässigen. Sollte Medizin zum Beispiel unser Leben um jeden Preis verlängern – oder ist das Gespräch mit Patientinnen und Patienten nicht mindestens ebenso wichtig? „Es geht darum, die Welt menschlich zu machen, statt den Menschen künstlich zu erweitern oder zu ersetzen.“

TEXT: Lars Klaaßen
FOTOS: Lightspring / Shutterstock, Lia Koltyrina / Shutterstock, bygermina / Shutterstock, Don Smith / Stocksy