Ratgeber

No. 17 - RITUALE Die Familie versammelt sich am Esstisch – seit Generationen, wie das alte Schwarz-Weiß-Foto zeigt.

Rituale in der Familie: Zeit für einander

Rituale strukturieren den Alltag in der Familie und sorgen dafür, dass alle regelmäßig zusammenkommen – ob zur täglichen Mahlzeit oder zu großen Familienfesten. So schaffen Rituale Zusammenhalt, auch wenn man weit entfernt voneinander lebt. Und es ist nie zu spät, neue Familientraditionen zu schaffen!

Die Corona-Pandemie, Homeschooling und Homeoffice haben in vielen Familien den täglichen Rhythmus aus dem Takt gebracht. Wer muss wann zur Schule oder zur Arbeit, wann sind alle wieder zuhause und wann wird gegessen – plötzlich zeigt sich, wie wichtig diese eingespielten Routinen sind. „Rituale und Strukturen sind wie ein Geländer zum Festhalten, ein Anker im unsicheren Alltag“, sagt Petra von der Linde von den Elternbriefen der Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung. Egal, ob fester Wochenplan oder tägliche Absprachen: „Hauptsache, es gibt Strukturen im Familienalltag. Dann wissen alle, woran sie sind.“

Familienidentität und soziale Kompetenz

Das Tischgebet vor dem Essen, der Film- oder Spieleabend mit der ganzen Familie oder das Kuchenrezept, das seit Uromas Zeiten von Generation zu Generation weitergereicht wird –­ all das sind verbindende Rituale. „Familienrituale haben eine zentrale Bedeutung für die familiäre Gemeinschaft. Sie schaffen Ordnung und bekräftigen Gefühle der Zusammengehörigkeit“, betont Christoph Wulf, Professor für Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität Berlin. „Durch sie stellt sich die Familie selbst dar und festigt ihre innere Ordnung. Deswegen sind sie für die Herausbildung eines Familienstils und einer Familienidentität enorm wichtig sind.“

Bettrituale: Ein Großvater liest seinen Ekelkindern im Bett ein Buch vor.

Brücke zwischen den Generationen

Das gilt für die Kleinfamilie ebenso wie für die Großfamilie mit mehren Generationen. Denn viele unserer alltäglichen Rituale und Bräuche übernehmen wir aus unseren Herkunftsfamilien. Sie werden stetig weitergegeben und schlagen damit eine Brücke zwischen den Generationen. In ihnen wird gewissermaßen die Familiengeschichte weitererzählt. Eine besondere Rolle spielen dabei die Großeltern. Studien zeigen, dass während die Eltern sich vor allem um Schulnoten und die berufliche Zukunft der Kinder sorgen, die Großeltern eher Werte, Traditionen und Rituale weitergeben wollen.

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Wissen, was zu tun ist

Durch die jahrlange Wiederholung lernen die Enkelkinder, wie in der Tradition der Familie die großen Familienfeste ausgestaltet werden: wie das Essen zubereitet wird, was gegessen wird, welches gute Porzellan dazu aus dem Schrank geholt wird, welche Lieder gesungen werden und welche Spiele gespielt werden – zu Geburtstagen, zu Ostern und natürlich zu Weihnachten. Auch beim Übergang in einen neuen Lebensabschnitt spielen Rituale eine wichtige Roll. Einschulung, Konfirmation und Jugendweihe, Abifeier, Hochzeit, letzter Arbeitstag und schließlich der Tod – Rituale geben Halt in diesen einschneidenden Momenten, in denen sich das Leben erheblich verändert. Wir wissen, was zu tun ist. Die ritualisierten Feste sorgen zudem dafür, dass Familie und Freunde zusammenkommen und wir in diesen unsicheren Situationen nicht allein sind.

Weihnachtsrituale: Die Großeltern sitzen am Tisch und beobachten ihr Enkelkind.

Weihnachten ganz ohne Rituale?

Dennoch verlieren Familienrituale zunehmend an Bedeutung. Weihnachten, das wichtigste Familienfest hierzulande, wird von vielen als Inszenierung und als hohler Brauch empfunden. Nicht wenige verzichten auf Weihnachtsbaum und Kirchenbesuch. Doch Weihnachten ganz ohne Rituale? Der Erziehungswissenschaftler Wulf betont, dass gerade der Aufführungscharakter des Weihnachtsfestes wichtig ist, um als Ritual zu wirken. Kerzen, Weihnachtsbaum und Weihnachtslieder sind Teil einer theatralen Inszenierung. Umso mehr Haus oder Wohnung zu einer Art „sakralem Raum“ ausgeschmückt werden, desto mehr Bedeutung geben wir dem Ritual.

Offen für Veränderungen

Es sind also neue Ideen gefragt, wenn etwa die Köchin oder der Koch jedes Jahr eine Weihnachtsgans vorbereitet und frustriert feststellen muss, dass sich immer mehr Vegetarier am Tisch versammeln. Wieso nicht ein Weihnachtsbuffet ausprobieren, zu dem alle etwas beitragen? Auch in besonders konfliktbeladenen Familien bietet es sich an, nach Alternativen zu suchen. Die Großfamilie einer Freundin beispielsweise verzichtet inzwischen auf das gemeinsame Weihnachtsfest, um das regelmäßige Gestreite zu vermeiden. Stattdessen versammelt sich die ganze Familie nun Jahr für Jahr zum Geburtstag der Großmutter, ein mittlerweile fast ebenso ritualisiertes Fest, bei dem es keiner wagt, fern zu bleiben.

Denn wir können und sollten auch neue Rituale entwickeln, die zu unserer veränderten Lebenssituation passen. „Trotz aller Beharrlichkeit sind Familienrituale offen für Veränderungen“, so Wulf. „Der kontinuierliche Wandel vorhandener Schemata ist sogar wichtig. Ohne ihn kommt es zur Erstarrung in Stereotypen.“ Einige Bräuche werden irgendwann überflüssig – wie das abendliche Vorlesen –, andere verändern sich, neue werden ins Leben gerufen.

Gemeinsam Essen!

Gemeinsame Mahlzeiten sind für Familien ein wichtiges Ritual. „In vielen Familien stellen sie die einzige Möglichkeit dar, über Probleme und Erlebtes zu sprechen“, heißt es in der Studie Essensrituale von Familien in Deutschland. Entscheidend sei nicht nur das gemeinsame Essen, sondern auch die Abläufe rund um die Mahlzeiten, wie etwa schneiden, schälen und kochen, Tisch decken oder abräumen. So erlernten Kinder und Jugendliche kulturelle Gewohnheiten und Regeln, aber auch ein Bewusstsein für Lebensmittel.

Zusammengehörigkeit als Familie

Wenn die Kinder längst erwachsen sind und an verschiedenen Orten leben, kann zum Beispiel ein sommerlicher Ausflug mit der Großfamilie einmal im Jahr zu einem neuen Brauch werden, der den Zusammenhalt stärkt. Denn umso größer die Familie, desto wichtiger ist es, einen verbindlichen Rahmen zu haben, in dem alle zusammenkommen. Sich die Zeit füreinander nehmen und die Zusammengehörigkeit als Familie zum Ausdruck bringen – solche Rituale sollten wir in der Familie zelebrieren und genießen.

TEXT: Kristina Simons
FOTOS: Riekes Vater / Photocase, Bonninstudio / Stocksy, Anna Malgina / Stocksy