No. 24 – WEGE

Menschen

„Ich überlege, welchen anderen Weg ich wählen kann.“

Verena Bentele setzt sich mit beeindruckender Energie für soziale Gerechtigkeit ein. Die Präsidentin des Sozialverbands VdK ist nicht nur halb so alt wie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, sie ist auch von Geburt an blind. Ihr Selbstvertrauen und ihre enorme Ausdauer hat sich die 41-Jährige als Leistungssportlerin erkämpft. Ein Gespräch über Vertrauen und den Umgang mit Rückschlägen.

Lesedauer ca. 8 Minuten

VdK-Präsidentin Verena Bentele geht ihren eigenen Weg.

Mit nur 41 Jahren blickt Verena Bentele auf ein ereignisreiches Leben zurück. Als Biathletin und Skilangläuferin wurde sie viermal Weltmeisterin und zwölfmal Paralympics-Siegerin. Auch ein schwerer Unfall hielt die Medaillensammlerin nicht auf. Mit 28 Jahren entschied Verena Bentele, ihre Sportkarriere zu beenden. Sie machte sich als Rednerin und Coach selbstständig, kandidierte erfolgreich für den Münchner Stadtrat und wurde 2014 Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Seit 2018 ist Bentele Präsidentin des Sozialverbands VdK.

Sie sind auf einem Biobauernhof am Bodensee aufgewachsen. Was haben sie da auf den Weg mitbekommen?

Meine Eltern haben mich immer ermutigt, alles auszuprobieren, auch Dinge, die vielleicht für blinde Kinder nicht so typisch sind, wie zum Beispiel alleine Fahrrad zu fahren. Wir hatten auch Ponys, um die wir uns selber kümmern mussten. Wir sind nicht nur ausgeritten, sondern mussten auch den Stall ausmisten oder Heuballen auf den Hänger ein- und wieder ausladen, damit die Ponys was zu fressen hatten. So habe ich gelernt, Verantwortung zu übernehmen: Wenn man sich für etwas entscheidet, dann hat das Folgen. Das war eine sehr wichtige Erfahrung für mich.

Sie sind mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen. Einer von ihnen kann sehen, der andere ist wie Sie von Geburt an blind. Wie war das Zusammenleben?

Es kam wirklich selten vor, dass unsere Eltern gesagt haben, „das könnt ihr nicht, weil ihr nicht seht“. Zum Skifahren sind wir alle zusammen gefahren und sie haben einen Weg gefunden, wie sie uns das beibringen konnten. Als unser ältester Bruder anfing Fahrrad zu fahren, da wollten mein blinder Bruder und ich natürlich auch ein eigenes Rad. Also haben sie es uns auch beigebracht. Wir mussten natürlich aufpassen, weil auf unserem Hof viele Sachen rumstanden, beispielsweise die Autos von Kunden, die Äpfel gekauft haben. Wir mussten deshalb gut hören, wo die Hindernisse sind. Damals gab es keine Experten die uns die Möglichkeiten der Orientierung über die Ohren gut erklärt haben. Aber meine Eltern haben schnell begriffen, dass mein blinder Bruder und ich uns auch über den Schall orientieren können.

»Mein wichtigstes Ziel war, meinen Bewegungsradius zu erweitern und neue Fähigkeiten zu erlernen.«
Mit 15 Jahren hat Verena Bentele bereits ihre erste Goldmedaille gewonnen.

Zur Einschulung kamen Sie in das Internat der Blindenschule in Heiligenbronn, eine spezialisierte Schule statt Inklusion. War das damals für sie dennoch die richtige Wahl?

Natürlich ist die gemeinsame Beschulung, wenn sie gut organisiert ist, immer der bessere Weg. Schließlich arbeiten wir ja auch später im Job zusammen. Im besten Fall sind alle im Kindergarten, in der Schule, in der Ausbildung und bei der Arbeit zusammen. Aber das Problem ist, dass wir immer noch sehr große Klassen mit 30 oder mehr Kindern haben. Kinder, die nicht sehen oder andere Behinderungen haben, müssen sich da irgendwie einfügen. Dieses Lernsystem funktioniert aber selbst für viele sehende Kinder nicht.

Welche Rolle spielte Sport an der Schule? Sie haben ja schon früh viele Sportarten ausprobiert.

Judo, Reiten – die Schule hat viel geboten und ich habe alles mitgemacht. Außerdem habe ich Musikunterricht genommen, ich wollte immer beschäftigt sein. Nur im Internat rumzuhängen und nichts zu erleben, war mir zu langweilig. Später auf der Landesblindenschule in München habe ich dann mit Langlauf und Leichtathletik angefangen. Ich habe schnell gemerkt, dass Bewegung und Sport mir wirklich Spaß machen und, dass ich hier meine Fähigkeiten voll ausleben kann.

Sie hatten schon immer viel Energie?

Ja, und das ist bis heute so geblieben. Ich habe nach einer harten Arbeitswoche immer noch Lust, Sport zu machen. Andere Leute sagen mir, dass sie bei meiner Arbeitsbelastung am Wochenende auf der Couch liegen und schlafen würden. Aber bei mir ist es das Gegenteil: Ich brauche Bewegung.

Verena Bentele und ihr Begleitläufer Thomas Friedrich bei den Paralympics 2010 in Vancouver

"Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser" – Verena Bentele mit ihrem Begleitläufer Thomas Friedrich

Mit zehn Jahren haben Sie mit Langlauf angefangen, mit 16 schon ihre erste Goldmedaille gewonnen. Hatten sie von Anfang an solche großen Ziele vor Augen?

Nein, ich komme ja nicht aus einer Familie, in der Leistungssport gemacht wurde, überhaupt nicht. Ich hatte vor allem Spaß daran, etwas Neues zu lernen, die Technik zu verbessern, schneller zu werden. Natürlich habe ich mich auch mit den anderen im Verein gemessen und wollte schon immer gerne gewinnen. Aber mein erstes und wichtigstes Ziel war, meinen Bewegungsradius zu erweitern und neue Fähigkeiten zu erlernen. Ich habe durch die Wettkämpfe ja auch angefangen, die Welt zu sehen. Mit zwölf Jahren bin ich das erste Mal zu einem Leichtathletik-Wettkampf nach London gefahren. Mit 14 war ich in einem Jugendcamp bei den Paralympics in Atlanta. Ich konnte mir die Wettkämpfe und die Stadt anschauen, das fand ich super.

Sie sind beim Langlauf auf einen Begleitläufer angewiesen. 2009 verwechselte Ihr Begleitläufer bei einem Wettkampf rechts und links. Sie stürzten in einen Abgrund und zogen sich schwere Verletzungen zu. Haben sie in dem Moment überlegt aufzuhören?

Ich habe mir natürlich Gedanken gemacht, ob ich den Sport weiter machen will, ob ich überhaupt wieder genügend Vertrauen haben kann. Für mich war es sehr wichtig, mir in Ruhe Gedanken zu machen und mich nicht von außen beeinflussen zu lassen. Der Sturz wäre kein schönes Ende für meine Karriere gewesen. Ich habe mich daran erinnert, was mir der Sport alles gegeben hat. Der Weg, noch einmal zu trainieren und mich zurück zu kämpfen, war für mich am Ende der richtige.

»Als ein Kind, das nicht sieht, hört man ja selten, 'das ist echt cool, wie du mit Hindernissen umgehst'. «

“Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser” ist der Titel eines Buches von Ihnen. Wie haben Sie neues Vertrauen aufgebaut?

Für mich war das Wichtigste, dass ich meine Schwächen und Ängste aussprechen konnte, dass ich dem neuen Begleitläufer sagen konnte, ich brauche jetzt am Anfang mehr Unterstützung. Ich traute mich nicht mehr, die Berge allein runterzufahren. Selbst bei kleineren Abfahrten, die ich früher ohne Probleme alleine gefahren wäre, habe ich ihn gebeten, mir die Spitze seines Stocks nach hinten zu reichen. Wenn ich mich mit einer Hand an seiner Stockspitze orientiere, dann nennen wir das Haltezone, sie wird dann eingerichtet, wenn es steil runter geht und scharfe Kurven kommen.

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Neben dem Vertrauen in andere Menschen geht es natürlich auch um Selbstvertrauen.

Wenn man aufwächst als ein Kind, das nicht sieht, hört man ja selten, “das ist echt cool, wie du mit Hindernissen umgehst und, dass du andere Dinge kannst.” Meistens werten andere Menschen und sagen, “das ist ja furchtbar”, “das ist das Schlimmste, was passieren kann”. Deswegen finde ich es wichtig, sich eine Strategie zu suchen, wie man Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickelt und wie man daran glauben kann, dass man viele Möglichkeiten hat und dass das Nicht-Sehen nicht alles bestimmt.

Das kann man auch auf andere Themen übertragen. In der Schule wurde mir gesagt, dass ich nicht gut in Mathe bin, weil ich ein Mädchen bin. Meine Brüder sind gut in Naturwissenschaften, ich bin gut in Deutsch – passt. Das war sehr bequem. Ich konnte das abhaken und habe mich nicht mehr in Mathe angestrengt. Und das ist genau mein Punkt. Ich glaube, man kann im Kopf und im Körper eines Menschen ganz viel beeinflussen, wenn man sagt: Es gibt viele Dinge, die du kannst, aber du musst daran glauben.

Verena Bentele und ihr Begleitläufer Thomas Friedrich erfolgreich bei den Paralympics 2010 in Vancouver

"Ich bin auf meine Begleitläufer angewiesen. Aber sie sind auch auf mich angewiesen."

Wie haben Sie gelernt, an Ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben?

Selbstbewusstsein entwickelt man, wenn Menschen an einen glauben. Ich würde sagen, für mich war meine Familie das entscheidende Fundament. Für uns alle ist es so, dass wir in der Regel andere Menschen brauchen. Man könnte sagen, dass ich auf meine Begleitläufer angewiesen bin. Andererseits sind sie aber auch auf mich angewiesen. Denn ohne mich wären meine Begleitläufer nicht Paralympics-Sieger geworden. Das ist eine gegenseitige Sache, wie so oft im Leben.

Bei der Arbeit brauchen wir ein Team, von dem wir wissen, dass wir mit ihm gemeinsam etwas erreichen können, wo sich alle gegenseitig unterstützen. Wir alle sind und brauchen auch im Alltag eine Art Begleitläufer. Wir brauchen Menschen, die uns sagen, du kannst das, du machst das super, das klappt. Aber wir hören viel häufiger Kritik als positive Bestärkung. Deswegen ist es so wichtig, diese positive Bestärkung zu suchen und natürlich auch anderen zu geben. Das habe ich im Sport gelernt. Ich hatte tolle Trainer, die mir ehrlich gesagt haben, dass ich beispielsweise mein Krafttraining verbessern musste. Die haben mich aber auch gelobt: Technik super, Ausdauer passt. Um Vertrauen zu trainieren, um sich selbst gut einschätzen zu können, braucht man die Rückmeldung von anderen.

Mit 28 Jahren haben Sie dann Ihre Karriere als Profisportlerin beendet – aus Altersgründen?

Gar nicht, es gibt ja Sportler, die viel länger dabei sind. 2011 hatte ich gerade mein Studium beendet und merkte, dass ich nach so vielen Jahren im Sport etwas Neues machen wollte. Natürlich habe ich den Sport danach noch oft vermisst. Wenn ich irgendwo an der Strecke stand und anderen zuschaute, habe ich oft gedacht, Mensch, da würde ich jetzt gerne selbst laufen. Aber insgesamt habe ich es nie bereut. Es war eine gute Entscheidung, in dem Moment aufzuhören, als ich dachte, es reicht, und nicht, als andere das dachten oder es nicht mehr ging.

»Wir alle erleben mal Dinge, wo wir zuerst denken, das war’s jetzt. Aber das ist allermeistens nicht das Ende der Fahnenstange.«

Sie haben sich als Coach und Referentin selbstständig gemacht und zudem begonnen, sich politisch zu engagieren. 2012 sind Sie Mitglied der SPD geworden.

Ich war auch vorher schon politisch aktiv. Als Botschafterin des Internationalen paralympischen Komitees habe ich mich beispielsweise dafür eingesetzt, dass die Sportlerinnen und Sportler bessere Möglichkeiten bekommen, neben dem Beruf zu trainieren. Dann habe ich die Olympia-Bewerbung von München unterstützt und dabei den Bereich Paralympics vertreten. Ich wurde zweimal als Wahlfrau in die Bundesversammlung eingeladen, um den Bundespräsidenten zu wählen. Für die SPD habe ich 2014 für den Stadtrat in München kandidiert. Durch mein Engagement in der SPD wurde Andrea Nahles als damalige Arbeits- und Sozialministerin auf mich aufmerksam.

So wurden Sie 2014 Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Welche Erfahrungen aus dem Sport helfen Ihnen in der Politik?

Aus dem Sport weiß ich, wie wichtig ein gutes Team ist, in dem verschiedene Menschen Unterschiedliches einbringen. Ich weiß auch, wie wichtig es ist, andere von den eigenen Zielen zu überzeugen. Ich musste ja immer auch meine Begleitläufer für meine Ziele gewinnen und meine Ziele zu gemeinsamen Zielen machen. Das war eine wichtige Aufgabe. Außerdem habe ich gelernt, dass Ausdauer mich ans Ziel bringt und, dass ich bei Rückschlägen wieder aufstehe und sage: Okay, und jetzt nochmal von vorne, das kriege ich beim nächsten Mal besser hin.

Das war eine wichtige Erfahrung für mich, dass wir alle mal Dinge erleben, wo wir zuerst denken, das war’s jetzt. Aber das ist allermeistens nicht das Ende der Fahnenstange. Wir können einen Rückschlag nutzen und überlegen, was muss ich vielleicht noch besser trainieren? Wen brauche ich dafür, um es das nächste Mal besser zu machen? Das passiert uns allen. Ich treffe immer wieder Menschen, die erzählen, dass sie ein schwieriges Erlebnis hatten, das ihr Vertrauen zerstört hat. Aber genau dann lohnt es sich, daran zu arbeiten, dass man dieses Vertrauen zurückerlangt.

Verena Bentele verschafft sich Gehör mit einem Megaphon.

Seit 2018 sind Sie beim VdK. Wie viel Ausdauer braucht eine Verbandspräsidentin?

Ich will politische Veränderungen schaffen. Wir brauchen zum Beispiel eine Krankenversicherung für alle statt der Trennung in privat und gesetzlich Versicherte. In der Corona-Pandemie haben wir gesehen, dass viele privat Versicherte sich die Beiträge nicht mehr leisten können, wenn es beruflich mal schlechter läuft. Dass alle in die gleiche Krankenversicherung einzahlen, wäre ein Systemwechsel. Es braucht extrem viel Durchhaltevermögen und extrem viel Überzeugungskraft, um das irgendwann zu erreichen. Die Herausforderung, auch diejenigen politischen Kräfte, die noch nicht so überzeugt sind, für dieses Ziel zu gewinnen, ist ein großer Antrieb für mich.

»Ja, ich bin kein Mensch, der da sitzt und denkt, das haben schon so viele vor mir probiert, das werde ich nicht erreichen.«

Sie nehmen solche Aufgaben mit sportlichem Ehrgeiz.

Ja, ich bin kein Mensch, der da sitzt und denkt, das haben schon so viele vor mir probiert, das werde ich nicht erreichen. Mein Gedanke ist eher, wenn es so nicht klappt, dann muss ich es anders probieren. Ich überlege dann, welchen anderen Weg ich wählen kann.

Noch immer sind wenige blinde Menschen im Fernsehen oder am Rednerpult zu sehen. Fehlt es an Vorbildern in unserer Gesellschaft?

Ich setze mich nicht den ganzen Tag damit auseinander, dass ich nicht sehe. Ich setze mich damit auseinander, wie ich Hindernisse überwinden kann. Deswegen ist es mir so wichtig, dass wir mehr Vielfalt in Führungspositionen bekommen, ob in der Politik oder in der Wirtschaft: Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Behinderung, Jüngere und Ältere. Vielfalt ist gut für uns um uns zu entwickeln. Auch für den VdK war ich natürlich eine Herausforderung. Vor mir gab es zwar schon eine Frau als Präsidentin. Aber ich war die erste Präsidentin, die jung ist und nichts sieht. Es hat sich gezeigt: So etwas funktioniert bei uns. Es kann eben auch jemand wie ich Präsidentin werden und den Job anders, ja vielleicht sogar gut machen.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: VdK / Susie Knoll, picture-alliance / dpa | Jörg Schmitt, picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte, picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte, VdK / Henning Schacht