No. 17 - RITUALE

Menschen

„Das ist ein zentraler Moment im Leben“

Wer geht schon gerne zu einer Beerdigung? Die ehemalige Staatssekretärin Anke Erdmann zum Beispiel. Sie erlebt Trauerfeiern als etwas Schönes. Nach ihrem Ausstieg aus der Kieler Landespolitik ließ sich die 49-Jährige zur Trauerrednerin ausbilden. Ein Gespräch darüber, was wir brauchen, um Abschied zu nehmen und Trost zu finden – und welche Rolle dabei Rituale spielen.

9 Minuten

Ist gerne auf dem Friedhof: die ehemalige Kieler Staatssekretärin Anke Erdmann.

Wenn ihr etwas nicht gefällt, fragt sie: Wie geht es besser? Mit dieser Einstellung engagierte sich Anke Erdmann seit der Schulzeit. 2009 zog sie als Abgeordnete für die Grünen in den Kieler Landtag und wurde schließlich Staatssekretärin im schleswig-holsteinischen Umweltministerium. Zu ihrem neuen Beruf kam sie vor zwei Jahren, als sie an einer Bestattung teilnahm. Beigesetzt wurde ein ihr nahestehender Menschen, doch die Trauerfeier erlebte sie als leer und trostlos. Und wieder stieg in ihr der Wunsch auf, es „besser zu machen“. Anke Erdmann begann, für einen Hospizdienst Sterbende zu begleiten. Inzwischen arbeitet sie als Trauerrednerin. Menschen in der Trauer beizustehen, empfindet die 49-Jährige als ein großes Glück.

Die Traditionen rund um den Tod verlieren an Bedeutung. Wie füllt man diese Lücke?

Trauerrednerinnen bieten eine gerahmte Feier für diejenigen an, die nicht in der Kirche sind. Mir geht es darum, dass die Leute, die sich gegen eine kirchliche Bestattung entscheiden, trotzdem auch Ritualelemente erleben. Es braucht einen guten, gestalteten Übergang, und zwar in Gemeinschaft. Die Trauerfeier ist ein zentraler Moment im Leben derer, die bleiben und eben nicht nur eine individuelle Frage, die man mit sich allein ausmachen kann.

Trauerrituale bekommen erst durch die Gemeinschaft Bedeutung?

Der Tod eines Menschen, wird von den Angehörigen unterschiedlich erlebt: Ob mein Ehepartner stirbt, meine Mutter oder eine Schwester, mit der ich wenig zu tun hatte, das macht einen Unterschied – auch innerhalb einer Familie. Aber es ist wichtig, dass man sich gemeinsam der Lücke bewusst wird. Man muss markieren, dass da jemand gegangen ist, dass wir jemanden aus der Gemeinschaft ziehen lassen. Dieses kollektive Erinnern spielt nicht nur in der Familie oder der Wahlfamilie eine wichtige Rolle, auch als Gesellschaft brauchen wir Gedenktage und öffentliche Trauerakte.

Eine Familie geht nach der Beisetzung über den Friedhof: Rituale des Abschieds.

"Die Trauerfeier ist ein zentraler Moment im Leben derer, die bleiben. Das kann man nicht mit sich allein ausmachen."

Wie erleben Sie die zunehmende Anonymisierung von Trauerfeiern?

Es gibt beim Trauern, wie in allen anderen Bereichen, eine enorme gesellschaftliche Aufspreizung. Auf der einen Seite sehen wir einen Trend zur Individualisierung. Es gibt Leute, die kommen mit acht Musikwünschen und ganz vielen Ideen für die Trauerfeier. Umgekehrt gibt es die zunehmende Anonymisierung: Weil Menschen alleine sind, wenig Geld haben oder Trauerfeiern einfach vermeiden wollen. Denn eine Trauerfeier ist für viele etwas Unangenehmes, das sie kurz und schmerzlos hinter sich bringen wollen. Weil sie Angst vor dem Zusammenbrechen haben und nicht sehen, dass so ein Ritual einen eigenen Wert hat. In Filmen sind das immer furchtbare Veranstaltungen: Man sieht niedergedrückte Menschen, alle stehen am Grab und weinen und die Frauen tragen große Sonnenbrillen. Aber das ist nicht so! Immer wieder kommen Leute nach einer Trauerfeier zu mir und bedanken sich: „Ich traue es mich gar nicht zu sagen, aber das war richtig schön.“

Was macht eine gelungene Trauerfeier aus?

Wenn ich einmal gelacht und einmal geweint habe. Ich muss emotional berührt werden, finde ich. Es muss einen Raum für meine Trauer geben. Es muss einen Raum geben für die ganzen Bilder, die ich mit den Verstorbenen verbinde, und für die vielen schönen Momente, die ich mit ihnen geteilt habe. Es muss noch einmal greifbar werden, wen ich in meinem Leben hatte und wen ich ziehen lasse. Und ob man das jetzt konventionell macht oder sehr eigen mit Reden, Gedichten, einem besonderen Ort – das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass es stimmig ist.

Gibt es eine gewisse Sehnsucht nach Traditionen?

Traditionen spielen gesellschaftlich eine abnehmende Rolle, aber bestimmte Elemente sollten auf jeder Trauerfeier Platz haben: Mir ist zum Beispiel auch bei einer nicht-kirchlichen Trauerfeier etwas wie eine Aussegnung wichtig: Die guten Wünsche, die man einer Person mit auf den Weg gibt, dürfen nicht fehlen. Man muss jemanden loslassen, ins Unbekannte. Das geht nicht gut in Alltagssprache. Viele, die christlich geprägt sind, wünschen sich das Vaterunser. Das sind Worte, die seit Jahrhunderten eine Bedeutung haben. Die Bestattung ist damit nicht nur etwas Individuelles, sondern steht in einer Tradition von Generationen. Andere wählen einen irischen Segensspruch oder einen lyrischen Text. Oder ich finde plattdeutsche Worte, wenn ich meine, dass die Person darin gut aufgehoben ist. Es geht darum, jemanden in andere Hände zu legen, die Kontrolle abzugeben. Das braucht ein Ritual: den Sarg oder die Urne abzusenken und dabei bedachte Worte zu sprechen. Das ist ein Moment des Innehaltens. Das gilt auch am Ende einer Trauerfeier: Aufstehen und Stille halten. Ein großer Teil meiner Arbeit ist ja zu reden. Aber mindestens genauso wichtig sind die Momente, in denen die Trauergesellschaft gemeinsam still ist.

»Wo sonst finden Liebe und Dankbarkeit so stark einen Ausdruck?«

Auf einer Trauerfeier erlebe ich oft eine besondere Verbindung zwischen den Anwesenden.

Ja, da sind oft große Tiefe und Unmittelbarkeit zu spüren. Diese Lebendigkeit bringt man eigentlich nicht mit Trauerfeiern in Verbindung. Aber wo sonst finden Liebe und Dankbarkeit so stark einen Ausdruck? Man nimmt die verstorbene Person in die Mitte und macht sich noch einmal sehr bewusst, wer war das? Auf der anderen Seite setzt man sich auch mit seiner eigenen Endlichkeit auseinander. Das schwingt ja oft auch mit. Wenn zum Beispiel die Mutter einer Freundin stirbt, denkt man unwillkürlich an die eigene Mutter. Das Menemto mori wird natürlich stärker, je älter wir werden und je mehr Bekannte und Familienmitglieder man hat gehen lassen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Trauerrednerin zu werden?

Ich wollte nur zwei Legislaturperioden im Landtag bleiben. Immer mal wieder habe ich gedacht, ich könnte ja Trauerrednerin werden. Das war aber nur ein flüchtiger Gedanke. In meinem selbstgewählten Sabbatjahr war ich auf einer Trauerfeier, die ich seltsam lieblos fand. Ich dachte, so soll kein Mensch unter die Erde kommen. Die Rituale waren alle vorhanden, es gab einen Pastor, es gab Musik, es gab eine Beisetzung, Blumen, die Kirche war voll, die Verstorbene geliebt – es war alles da. Aber es gab keinen Trost, keinen „spirit“, um es mal so auszudrücken. Es ist nicht gelungen, diese Person, die da gestorben ist, in die Mitte zu holen. Und es wurde überhaupt nicht erkennbar, wie viel Dankbarkeit und Liebe und Trauer im Raum waren.

Wie kann man es besser machen? – Die Politikerin Anke Erdmann auf einer Redebühne mit Robert Habeck.

"Man liegt in einer Rede schnell daneben...

Anke Erdmann am Rednerpult im Kieler Landtag.

... und das ist in der Trauerfeier vielleicht noch schlimmer als im Plenarsaal."

Sie waren vorher Landtagsabgeordnete und Staatssekretärin. Gibt es Parallelen zwischen ihrem alten und ihrem neuen Beruf?

Als Politikerin habe ich es als großes Privileg erlebt, Fragen stellen und immer etwas Neues lernen zu dürfen. Jetzt sitze ich wieder mit Menschen im Vorgespräch zusammen und habe die Lizenz, Fragen zu stellen. Die Leute lassen mich in kurzer Zeit ganz tief einsteigen. Und sowohl als Politikerin als auch als Trauerrednerin geht es darum, aus den zwei Stunden Gespräch herauszufiltern: Worum geht es bei all den einzelnen Aspekten, was ist die Melodie, das Thema dahinter? Wenn man die Untiefen nicht kennt, dann liegt man in einer Rede schnell daneben – und das ist in der Trauerfeier vielleicht noch schlimmer als im Plenarsaal.

Welche Rolle spielen die vorbereitenden Gespräche mit den Angehörigen?

Das Vorgespräch hat oft eine große Wirkung, wenn sich die Leute gut aufgehoben und gesehen fühlen. Ein Witwer sagte mir, nach dem Gespräch konnte er wieder schlafen. Normalerweise denken wir an einen Menschen in der Gegenwart. Wenn jemand gestorben ist, dann stehen alle Lebensphasen plötzlich als Ganzes nebeneinander. Meine erste Trauerfeier war für eine Dame, die mit Mitte Neunzig gestorben war. Die Töchter hatten Fotos aus allen Lebensphasen zusammengetragen und damit einen riesigen Bilderrahmen chronologisch gefüllt. Das war sehr schön, weil die einzelnen Puzzleteile dieses Lebens ein ganzes Bild ergaben. Das war vielleicht ein Sinnbild dafür, was auf einer Trauerfeier passiert, wenn man nochmal auf das ganze Leben schaut.

»Diejenigen, die wissen, was vorgefallen ist, die hören das heraus.«

In jedem Leben gibt es auch Schattenseiten. Wie gehen Sie damit um?

Im Vorgespräch frage ich nach und versuche herauszufinden, wo sind Dinge offen? Über wen ist vielleicht nicht gesprochen worden? Gibt es eine Ex-Frau? Oder eine Tochter, die schon seit langem den Kontakt abgebrochen hat? Kommt sie zur Bestattung, wurde sie überhaupt eingeladen? Oder kommt der Bruder, der sich aus der Familie herausgelöst hat? Wenn er da ist, darf er nicht unerwähnt bleiben. Es geht nicht um die ungeschminkte, nackte Wahrheit. Aber die Anwesenden sollen auch die schmerzvollen Erfahrungen, die sie mit der Person hatten, wiederfinden können. Das muss nicht ausbuchstabiert sein, das kann zwischen den Zeilen klingen. Diejenigen, die wissen, was vorgefallen ist, die hören das heraus. Und alle, die davon nichts gewusst haben, erfahren es auch nicht. Ich bin ja nicht da, um Geheimnisse preiszugeben.

Sollte man denn überhaupt die alten Wunden wieder aufreißen?

Durch einen Todesfall sind die ungelösten Konflikte, alles Unausgegorene plötzlich wieder da. Aber als Trauerrednerin habe ich die Erfahrung gemacht, dass man gewisserweise Menschen freisprechen kann. Ein Beispiel: Ein älterer Herr stirbt, nachdem er die letzten Jahre mit Demenz in einem Pflegeheim verbracht hat. Die Familie war vielleicht gar nicht so unglücklich, dass sie ihn in der Coronazeit nicht oft besuchen durfte. Es war immer eine lange Autofahrt und wenn man da war, hat er einen nicht mehr erkannt. Plötzlich ist er tot und die Familie hat ein schlechtes Gewissen. In der Trauerfeier habe ich gesagt, dass sich Nähe nicht an der Zahl der Besuche bemisst, sondern dass es auf die innere Verbindung ankommt. Bei solchen Sätzen, kann man spüren, wie sich auf einer Trauerfeier das Klima verändert, wie manche Menschen aufatmen. Man kann die Dinge nicht mehr ändern. Mir geht es darum, dass die Leute ihren Frieden finden.

Eine Frau trägt ein Urne in ihren Armen – Angehörige können sich an der Trauerfeier beteiligen.

"Die Momente, in denen man nichts sagt, sind genauso wichtig."

Kann es Angehörigen helfen, wenn sie sich an der Trauerfeier aktiv beteiligen?

Kürzlich wollte eine Frau eine Rede für ihre Mutter halten, konnte es aber nicht. Der Bestatter hat ihr angeboten, stattdessen die Urne ihrer Mutter zum Grab zu tragen. Das war für sie eine Entlastung. Sie konnte noch einmal etwas für ihre Mutter tun. Es war anrührend, das zu sehen, wie eine liebevolle und behütende Umarmung. Ein anderes Beispiel: Ein Bekannter hat seine Frau verloren. Er war verzweifelt, als er am Grab stand. Der Bestatter war in dem Moment sehr einfühlsam und hat ihm angeboten, dass er das Grab selbst zuschaufelt – mit seinen eigenen Händen, während die Trauergäste zum Kaffeetrinken gegangen sind. Danach war er völlig verdreckt, aber es ging ihm besser. Er hatte einen Ausdruck gefunden, mit seiner Wut und Verzweiflung umzugehen.

Was raten Sie nächsten Angehörigen, die auf einer Trauerfeier selbst sprechen möchten?

Das kann eine große Bereicherung auf einer Trauerfeier sein. Aber es gibt kein “Muss“ – wer etwas sagen möchte, sollte sich keinen Druck machen. Einige schreiben den Text auf, damit jemand anderes kurzfristig einspringen kann. Wenn beispielsweise eine Witwe unter Tränen über den Verlust ihrer großen Liebe sprechen will, dann muss die Trauergemeinde diesen Schmerz, der sich da ausdrückt, eben aushalten. So einen ungefilterten Ausbruch von Gefühlen, das erleben wir ja kaum in unserer Gesellschaft. Das gucken wir uns lieber im Fernsehen an. Nach so einem Ausbruch ist es aber für die Trauergäste vielleicht schwer, Kontakt aufzunehmen. Und darum geht es ja auch bei Trauerfeiern: dass man nach dem einschneidenden Ereignis des Todes in einer ritualisierten Form wieder miteinander in Kontakt tritt. Die Feier bietet einen gesellschaftlichen Rahmen, die Trauernden anzusprechen. So kann man anschließend unbefangener mit ihnen umgehen.

»Auf einer Trauerfeier tritt man in ritualisierter Form wieder in Kontakt zueinander.«

Deswegen gibt es am Ende immer Kaffee und Kuchen.

Genau, hier in Schleswig-Holstein gibt es Butterkuchen, woanders einen Leichenschmaus. In Baden-Württemberg heißt das der „Tröster“. Dieses Zusammenkommen hat in Coronazeiten wirklich gefehlt. Das ist vielleicht nicht so offensichtlich, aber nach der Trauerfeier zwanglos zusammenzukommen, sich in den Arm zu treffen und auch miteinander zu lachen, das gehört unbedingt dazu.

Zum Schluss: Belastet es Sie nicht, beruflich immer mit trauernden Menschen zu tun zu haben?

Ich empfinde es als erfüllend, Leuten in so einem Moment beistehen zu können. Noch einmal Rückblick auf ganz unterschiedliche Leben nehmen zu können, Menschen in weichen Momenten zu erleben, aber dem eben auch eine Form geben zu können. Eine Bestattung ist ja im Prinzip wie das letzte Kapitel in einem Buch. Am Ende kann es noch einmal richtig gut werden, wenn sich die einzelnen Handlungsstränge zu einem Ganzen zusammenfügen. Und wenn ich dazu einen kleinen Baustein beitragen kann und Menschen anschließend mit der Trauer bewusster und unbefangener umgehen können, dann ist das gut.

GESPRÄCH: Wibke Bergemann
FOTOS: Pepe Lange, Rawpixel/Shutterstock, Privat/Erdmann, Privat/Erdmann, Shelly Perry/Stocksy